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In den Blick genommen

Gert Loschütz: Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist. Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 2022

Gert Losch­ütz, 1946 in Gen­thin am Elbe-Havel-Kanal gebo­ren, gilt sei­nem Ver­le­ger als der gro­ße „Ver­gan­gen­heits­er­grün­der“ der deut­schen Gegen­warts­li­te­ra­tur; bei Schöff­ling & Co erschie­nen der viel beach­te­te auto­bio­gra­fi­sche Roman über sei­ne Eltern, Ein schö­nes Paar (2018), sowie 2021 die prä­mier­te Spu­ren­su­che Besich­ti­gung eines Unglücks, bei der der Autor das tra­gi­sche Zug­un­glück im Dezem­ber 1939 im Bahn­hof von Gen­thin zum Gegen­stand erhebt. Die vor­lie­gen­de Bal­la­de vom Tag, der nicht vor­über ist, die um das Schick­sal­haf­te der eige­nen ille­ga­len Aus­rei­se aus der DDR kreist, hat der erfolg­rei­che Hör­spiel­au­tor 1988 zunächst für den Rund­funk ver­fasst, sodann unmit­tel­bar nach der Wen­de als Roman unter dem Titel Flucht ver­öf­fent­licht – einen Titel, den Losch­ütz für die Neu­auf­la­ge nach nun mehr als 30 Jah­ren mit Blick auf die Bri­sanz der aktu­el­len Migra­ti­ons­pro­ble­ma­tik als unan­ge­mes­sen verwirft.

Im Gegen­satz zur Kenn­zeich­nung „Roman“ ver­mag der Begriff „Bal­la­de“ den Leser unmit­tel­bar auf das inhalt­lich wie for­mal Wesent­li­che die­ses hoch poe­ti­schen lite­ra­ri­schen Kabi­nett­stücks ein­zu­stim­men; denn er ver­weist auf das eine, tra­gen­de Motiv bzw. das eine dra­ma­ti­sche Ereig­nis von unge­heu­rer ver­stö­ren­der Wucht, das durch sei­ne refrain­ar­ti­ge Wie­der­ho­lung den Rhyth­mus die­ses – kei­ner­lei Kapi­tel­ein­tei­lun­gen unter­wor­fe­nen – Tex­tes vorgibt.

Es geht um jenen ein­zig­ar­ti­gen Moment in einem Leben, der unver­gess­lich und omni­prä­sent bleibt und den inne­ren Mono­log bestimmt, den der Ich-Erzähler, cha­rak­te­ri­siert durch den Namen Lei­ser, an das Du sei­ner ehe­ma­li­gen Gelieb­ten rich­tet. Wie abso­lut sein Den­ken, Füh­len und Han­deln auf dies eine Ereig­nis fokus­siert ist, „auf all die Tage, die auf ein Datum fie­len, das glei­che Datum, oder mit ihm ver­bun­den waren“, erfährt der Leser unver­mit­telt und über­ra­schend zu Beginn der Lek­tü­re, wenn – gleich den Fan­fa­ren­stö­ßen einer Ouver­tü­re – asso­zia­tiv dar­an erin­nert wird, was zu ver­schie­de­nen Zei­ten an einem die­ser Tage geschah. Noch bleibt im Dunk­len, was die­sen Tag brand­mark­te, erst all­mäh­lich wird die Spur gelegt zu jenem Ereig­nis in den fünf­zi­ger Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts, das das Leben Kars­ten Lei­sers offen­bar über drei Jahr­zehn­te zutiefst beherrscht hat.

„Sieh hin, sieh dir alles genau an, weil du es nicht wie­der siehst.“ Die­ser Satz hat sich des Ich-Erzählers wie eine anste­cken­de unheil­sa­me Krank­heit bemäch­tig; Kars­ten Lei­ser mag ihn ver­flu­chen, doch ban­nen kann er ihn nicht, denn viel zu fest hat er sich in sein Bewusst­sein ein­ge­fres­sen – seit jener Nacht vor dem ver­häng­nis­vol­len Tag, in der die Mut­ter die­se mah­nen­den Wor­te zu ihrem acht­jäh­ri­gen Sohn sprach, wäh­rend sie mit ihm noch ein­mal durch die ver­trau­ten dunk­len Stra­ßen des ima­gi­nä­ren Städt­chens Plo­thow lief: „Sieh dir alles genau an.“ Dann folg­te in den Mor­gen­stun­den das für den Jun­gen Unfass­ba­re, das völ­lig Uner­war­te­te, ein Gesche­hen, auf das er in kei­ner Wei­se vor­be­rei­tet war, da er die akri­bi­schen Vor­be­rei­tun­gen sei­ner Eltern nicht wahr­ge­nom­men hat­te: für die Flucht aus der DDR. Im Zug fuh­ren Mut­ter und Sohn gen Wes­ten, mit weni­gen Gepäck­stü­cken, die eine Rei­se an die Ost­see vor­ge­ben soll­ten. Dar­un­ter war auch jener klei­ne Kof­fer, den der Jun­ge trug und des­sen Leder auf dem Weg hin zum Bahn­hof durch einen Nagel auf­ge­ritzt wur­de. So gezeich­net, soll­te der Kof­fer ihn fort­an als bestän­di­ges Memen­to durchs Leben beglei­ten. Mehr­mals, so erläu­tert Kars­ten Lei­ser, habe er ver­sucht, sich die­ses Kof­fers zu ent­le­di­gen, habe ihn bewusst im Bus ver­ges­sen oder auf einem beleb­ten Platz ste­hen­ge­las­sen, er habe ihn sogar von einer lan­gen Mole in Anzio bei Rom weit ins Meer hin­aus­ge­schleu­dert. Doch gleich einem Bume­rang kehr­te die­ses Requi­sit auf kurio­se Wei­se stets zu ihm zurück.

Letzt­lich bleibt ihm die vage Visi­on, die­sen Kof­fer end­lich, nach 28 Jah­ren, neh­men und die ver­blie­be­nen Erin­ne­rungs­stü­cke, „alles, was in den Schrän­ken nicht zur Ruhe kommt, hin­ein­pa­cken und noch ein­mal die­se Stre­cke fah­ren“ zu kön­nen, um ihn dann bei Plo­thow aus dem Zug­fens­ter zu wer­fen. Der Leser darf mit Recht bezwei­feln, dass Kars­ten Lei­ser jemals ein der­ar­ti­ger Befrei­ungs­schlag gelin­gen wür­de. Zu mäch­tig ist die Sym­bol­kraft die­ses Kof­fers, er steht für den Ver­rat, als den das Kind den Tag der Flucht erlebt hat, für eine sicht­ba­re, nicht hei­len­de Ver­let­zung und letzt­lich für die Unfä­hig­keit, los­las­sen zu kön­nen – für die­ses „Rück­wärts­gu­cken, die­ses Nichtd­rü­ber­weg­kom­men­wol­len“, wie es sei­ne ehe­ma­li­ge Gelieb­te resi­gnie­rend benennt und damit sein „Erin­ne­rungs­ge­fäng­nis“ beklagt.

Die Gedan­ken an jenen „ver­damm­ten Tag“ im Mai sind all­ge­gen­wär­tig, minu­ti­ös und von hoher Intensität:

Als wir auf­stan­den, berühr­ten wir uns an den Armen, so eng war es plötz­lich. Und so lei­se, daß man hören konn­te, wie die Ärmel anein­an­der­rie­ben. Da war es gar kei­ne Küche mehr, son­dern eine Grab­kam­mer. Die Stüh­le blie­ben dar­in, der Tisch, der Schrank, die weg­ge­schlos­se­ne Tas­se, das weg­ge­leg­te Mes­ser, die abge­schnit­te­ne Brot­rin­de, die Luft, auch die Luft blieb zurück.

Die­sen Tag, den sei­ne Eltern als Auf­bruch in die Frei­heit plan­ten, erleb­te das Kind als die Ver­trei­bung aus sei­nem Para­dies, aus sei­ner mär­ki­schen Hei­mat mit ihren Wie­sen, Sand­we­gen, Kie­fern­wäl­dern und dem Kanal, mit ihrem unver­wech­sel­ba­ren Duft von Kas­ta­ni­en und Flie­der, von Brat­äp­feln und Kar­tof­fel­feu­ern, mit dem ver­trau­ten Ticken der Stand­uhr. Es war die Ver­trei­bung aus sei­ner unbe­schwer­te Kind­heit, aus Gebor­gen­heit und dörf­li­cher Gemein­schaft, von denen er spä­ter­hin in sei­nen von stil­ler Weh­mut erfüll­ten Stim­mungs­bil­dern – gefärbt von anhei­meln­dem Dia­lekt und in schlich­ten Dia­lo­gen – berüh­rend erzäh­len wird. Zu die­sem Schatz gehört auch die Erin­ne­rung an jenen ein­zig­ar­ti­gen Moment in Plo­thow, als er abends auf dem Weg nach Hau­se ste­hen blei­ben muss­te, „über­wäl­tigt vom Glück zu leben, plötz­lich war es da, es fiel über mich her, alles roch, schmeck­te, war anfühl­bar, die Erde trug, als sei sie nichts ande­res als ein fla­ches, ewig glei­ches, fest ver­an­ker­tes Stück Ebe­ne, und dar­über war ein dunk­ler, weit­ge­spann­ter Him­mel, in dem die Ster­ne fun­kel­ten“. Dies war der Moment, in dem der Jun­ge glaub­te, dass nie etwas wirk­lich Schlim­mes gesche­hen kön­ne. Doch die kind­li­che Zuver­sicht wur­de macht­voll erschüt­tert, denn zu die­sem Zeit­punkt waren die Flucht­kof­fer schon gepackt und Pake­te in den Wes­ten versandt.

Auf die­sen Tag der Flucht hin rich­tet sich in gera­de­zu beklem­men­der obses­si­ver Wei­se das wei­te­re Leben Kars­ten Lei­sers aus. Jahr für Jahr, zu Hau­se, an der Sei­te sei­ner Gelieb­ten oder als gefrag­ter Rei­se­schrift­stel­ler unter­wegs fühlt er ihn wie ein nahen­des Gewit­ter, wie einen Fluch – ein Unheil ver­hei­ßend, so wie das Ver­häng­nis­vol­le, das genau an „die­sem ver­damm­ten Tag“ im hes­si­schen Wil­den­burg geschah, wo die Fami­lie eine beschei­de­ne Woh­nung bezo­gen hat­te. Als der Jun­ge aus der Schu­le geru­fen wird, weiß er sofort: Mut­ter ist tot. Er hat die Gewiss­heit, dass die schwe­re Krank­heit an jenem Abend vor der Flucht in ihren zit­tern­den Kör­per gefah­ren sein muss­te, aber auch dass es ihr nun „gelun­gen“ sei, genau an die­sem Tag zu ster­ben, erlöst von einem unglück­li­chen Leben dort, wo sie nicht hei­misch wer­den konn­te. Der Jun­ge blickt in den Him­mel über Wil­den­burg, der strah­lend blau ist wie ein Jahr zuvor, als sie sich der Gren­ze näher­ten, aber hier ist der fal­sche Him­mel, „das Blau nur Tün­che“. Eben­so wenig ist hier der rich­ti­ge Ort für jene Vase, die einst in Plo­thow in der Vitri­ne hin­ter Glas aus­ge­stellt war. Der Jun­ge wird sie an die­sem Tag neh­men und „aus Mit­leid“ auf den Boden schmet­tern. Nichts in die­sem bedroh­lich engen, stein­grau­en Wil­dun­gen, in dem selbst das Blü­hen der Kas­ta­ni­en kein tröst­li­ches Erin­nern, son­dern nur „blan­ken Hohn“ aus­lös­te, konn­te ihm, dem Flücht­lings­kind, das Ankom­men leicht machen; fremd und ver­lo­ren blieb er, ent­wur­zelt, irr­lich­ternd, als sei er des inne­ren Kom­pas­ses und einer fest gegrün­de­ten Selbst­ge­wiss­heit beraubt, die ihn in sei­nen ers­ten Lebens­jah­re bis zu jenem Schick­sals­tag lei­te­ten. Zuneh­mend ver­gif­ten Wut und Hass sein „lei­ses“ Wesen, und ver­dich­ten sich zu all­ge­gen­wär­ti­gen Phan­tas­ma­go­rien – auch sie sind Teil der Last, die dem Prot­ago­nis­ten aus jenem „Tag, der nicht vor­über ist“ erwach­sen ist und von der er sich nicht zu befrei­en ver­mag. Wegen der Sprach­schön­heit die­ser ein­zig­ar­ti­gen Lebens­be­sich­ti­gung aber, die sich durch ein Fül­le glei­cher­ma­ßen fein­sin­ni­ger Beschrei­bun­gen wie wort­ge­wal­ti­ger Bil­der aus­zeich­net, wird der Leser – gewiss nicht ohne Betrof­fen­heit – dem Erzähl­fluss mit sei­nen kunst­vol­len Bre­chun­gen und dem vir­tuo­sen Wech­sel der Zeit­ebe­nen fol­gen – und sich schließ­lich gebannt von ihm tra­gen lassen.

Ursu­la Enke