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Getrennte Geschichte – gemeinsame Erinnerung?

Eine aktuelle Studie erschließt das Spannungs­verhältnis zwischen der Flucht und Vertreibung der Deutschen und der europäischen Erinnerungskultur

Von Manfred Kittel

Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihren alten Staats- und Siedlungs­ge­bieten im Osten um 1945 sind in den davon am stärksten geprägten Ländern Polen, Tsche­chien und Deutschland nach der großen europäi­schen Revolution von 1989/90 immer wieder zum gesell­schaft­lichen Konflikt­thema geworden. Kristal­li­sa­ti­ons­punkte dieser Debatten waren als „Leitmedien der Erinne­rungs­kultur“ regionale und nationale Museums­pro­jekte zur deutsch­böh­mi­schen und schle­si­schen Geschichte im tsche­chi­schen Aussig (Ústí nad Labem) bzw. in München, im polni­schen Kattowitz (Katowice) bzw. in Görlitz und vor allem auch die zumindest in ihrer Entstehung antipo­disch zu verste­henden Pläne für ein Berliner Dokumen­ta­ti­ons­zentrum zu „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ – mit ihrer polni­schen Reaktion in Gestalt eines Museums des Zweiten Weltkrieges in Danzig.

Als Indikator für die hohe Tempe­ratur der Konflikte kann der perso­nelle Verschleiß gelten, der in diesen Erinne­rungs­kul­tur­be­trieben habituell erfolgt. Bis zur Eröffnung brauchte es – rechnet man Interims­lö­sungen und zwar berufene, aber dann noch vor Amtsan­tritt doch wieder erfolg­reich vergraulte Persön­lich­keiten mit ein – mindestens zwei, in der Spitze (nicht nur in Berlin) gleich bis zu vier Gründungs­be­auf­tragte bzw. ‑direk­toren. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildete mit dem Görlitzer Museum nicht ganz zufällig jenes Projekt, das am frühesten, in den noch stark von der ersten Versöh­nungs­eu­phorie nach 1989/90 geprägten Jahren, auf den Weg gebracht worden war (Eröffnung bereits 2006) und wo zudem von Anfang an klare Macht­ver­hält­nisse in den Gremien herrschten. Ein Sonderweg wurde dagegen bei einem siebten Museum beschritten, das Vincent Regente in seiner unlängst erschie­nenen Monographie Flucht und Vertreibung in europäi­schen Museen eher in etwas kurso­ri­scher Form noch mit in den Blick nimmt: dem Haus der Europäi­schen Geschichte in Brüssel, in dessen riesigem Themen­spektrum die Historie der Vertreibung natur­gemäß nur einen kleinen, aber gleichwohl wichtigen Raum einnimmt. Hier lag die Haupt­ver­ant­wortung lange bei dem in Brüssel quasi nur neben­amtlich agierenden und insofern nur bedingt angreif­baren Präsi­denten des altbe­währten Bonner Hauses der Geschichte der Bundes­re­publik Deutschland, dem für alle Fälle ein polni­scher Professor als Vorsit­zender des Wissen­schaft­lichen Beirats attachiert war.

Das Beharrungsvermögen tradierter Stereotypen

Die Studie Regentes wird von der Frage geleitet, weshalb die Darstellung der Ostver­trie­benen als Opfer des Zweiten Weltkrieges in der Erinne­rungs­kultur des vereinten Europas auch nach Jahren der Verstän­di­gungs­po­litik nach wie vor so umstritten ist und welche diskur­siven Entwick­lungen hierbei zu Verän­de­rungen führten. Antworten auf diese Fragen sucht Regente sowohl in den inner­ge­sell­schaft­lichen als auch in den zwischen­staat­lichen und EU-weiten Diskursen der Unter­su­chungs­länder Polen, Tsche­chien und Deutschland. Der aus arbeits­öko­no­mi­schen Gründen auf die drei vom Thema haupt­be­trof­fenen Staaten gerichtete Fokus ist nachvoll­ziehbar, wenngleich das Weglassen Öster­reichs nicht nur wegen der Rolle Wiens beim Streit um die Beneš-Dekrete in den frühen 2000er Jahren etwas bedau­erlich ist und Seiten­blicke vor allem nach Ungarn oder in die Slowakei natürlich ebenfalls noch von Interesse gewesen wären. Auch der Aufbau der Arbeit hat (nach einigen disser­ta­ti­ons­ty­pi­schen Felg­aufschwüngen theoretisch-methodischer Art) seine Plau­sibilität: Zunächst werden Flucht und Vertreibung als histo­ri­sches Ereignis diffe­ren­ziert rekapi­tu­liert, bevor die Diskurse dazu in der Zeit des Ost-West-Gegensatzes bis 1989/90 und danach in den Blick genommen werden. Erst auf diesem breiten, das halbe Buch beanspru­chenden Fundament folgt dann eine Unter­su­chung von Geschichte, Konzeption und Rezeption der sieben, teilweise bis heute noch nicht eröff­neten Museen.

Dabei macht sich bezahlt, dass der Verfasser für die Arbeit eigens nicht nur Polnisch, sondern auch Tsche­chisch gelernt und den Anspruch hat, das Thema nicht nur aus einer rein binnen­deut­schen Perspektive zu betrachten: Unsere östlichen Nachbar­länder, so moniert er zu Recht, würden in der Bundes­re­publik oft als „unter­kom­plexe Einheiten“ (S. 524) behandelt, auf deren – aber gar nicht näher verstandene – Empfind­lich­keiten pauschal Rücksicht zu nehmen sei. Auf seiner trina­tio­nalen Quellen­grundlage kommt Regente zu dem Ergebnis, dass geschichts­po­li­tische Dissense oft auf einer selek­tiven Thema­ti­sierung einzelner Phasen umstrit­tener histo­ri­scher Ereig­nisse und ihrer unter­schied­lichen Kontex­tua­li­sierung beruhten. Die Ausein­an­der­set­zungen um Flucht und Vertreibung hätten sich zwar mehrfach in einem gemein­samen Diskursraum vereint, wären aber nur selten in Dialog oder Trialog gemündet. Selbst zwischen Tsche­chien und Polen habe es nur bedingt gemeinsame Positionen (etwa auch zum Berliner Museums­projekt) gegeben – Prag hielt sich sichtlich zurück –, und die selbst­kri­ti­schen Debatten zum Vertrei­bungs­thema in den östlichen Nachbar­ländern während der 1990er Jahre seien in der Bundes­re­publik kaum regis­triert worden. Letztlich wären in allen Ländern nationale Perspek­tiven und ältere Meister­er­zäh­lungen in Kraft geblieben.

Deutsche Missinterpretationen und polnische Verkürzungen

Regentes Studie dürfte für deutsch­spra­chige Inter­es­senten schon deshalb aufschluss­reich sein, weil sie viele Einzel­fragen durch intensive Spiegelung in polni­schen und tsche­chi­schen Diskursen um hierzu­lande oft weniger bekannte Aspekte vertieft – nicht nur dort, wo es sich um die Museums­pro­jekte selbst handelt, sondern auch bei deren umfang­reicher Voraus­set­zungs­ge­schichte seit 1945. Hier geht es etwa auch um das in Deutschland seit der EKD-Ostdenkschrift 1965 epide­misch gewordene Fehlurteil, die Westver­schiebung Polens sei doch vor allem eine Entschä­digung für den Verlust der Ostge­biete der polni­schen Zwischen­kriegs­re­publik, der sogenannten „kresy“, gewesen, was im Blick auf die gut viermal größere Zahl der Deutschen in den preußi­schen Ostge­bieten ziemlich abwegig ist. Regente verweist zudem darauf, dass die schräge Kompen­sa­ti­ons­theorie zu kommu­nis­ti­scher Zeit in Warschau offiziell gar nicht verwendet wurde, um das Bündnis mit der Sowjet­union, dem eigent­lichen Haupt­pro­fiteur der Grenz­ver­schie­bungen, nicht zu diskreditieren.

Die zähe kommu­nis­tische und leider zugleich natio­nal­ka­tho­lische These von den urpol­ni­schen Oder / Neiße-Gebieten sieht Regente ebenfalls kritisch: Die mittel­al­ter­liche dynas­tische Herrschaft der Piasten in Schlesien etwa über damals dünn besie­delte Gebiete dürfe nicht mit den Verhält­nissen eines modernen Terri­to­ri­al­staates später verwechselt werden. Das Narrativ blende obendrein aus, dass die schle­si­schen Herzog­tümer auf fried­lichem Wege in den deutschen Kultur­kreis überge­gangen seien. Der nach 1945 mit außer­ge­wöhn­licher Ausdauer über viele Jahrzehnte propa­gierte Mythos von den wieder­ge­won­nenen Gebieten im Westen habe aber dennoch „offen­kundig die Bevöl­kerung erreicht“ (S. 179) und zu einer teilweise bis heute anhal­tenden Akzeptanz dieses Deutungs­musters beigetragen. 1981 diente es dem Jaruzelski-Regime im Kampf gegen die angeblich vom Westen korrum­pierte Solidarność-Bewegung, indem man sich einredete, „revan­chis­tische“ Kräfte in der Bundes­re­publik wollten den drohenden Staats­bankrott Polens zum Rückkauf der Oder / Neiße-Gebiete nutzen. Volks­pol­nische Solidarność-Gegner brachten in diesem Kontext sogar – aller­dings vergeblich – Bilder von Adenauer im Mantel des Deutschen Ordens, US-Präsident Reagan als Cowboy und einem weiteren histo­ri­schen Ritter in Umlauf, um vor einem „dritte[n] Kreuzzug nach Polen“ zu warnen (S. 175).

Der tschechische Vertreibungsdiskurs

Der Vergleich dieser polni­schen Vertrei­bungs­dis­kurse mit den tsche­chi­schen bzw. tsche­cho­slo­wa­ki­schen ist besonders aufschluss­reich. Zwar stieß der „Abschub“ der Deutschen auch in der Bevöl­kerung der ČSSR auf breite Zustimmung, doch lagen die Verhält­nisse nicht nur wegen der vergleichs­weise schwachen Rolle der katho­li­schen Kirche und der ungleich größeren Akzeptanz der Kommu­nis­ti­schen Partei – gerade in den „ethnisch gesäu­berten“ Sudeten­ge­bieten – ganz anders. Hinzu kam noch, dass die Prager Bezie­hungen zu Russland auch wegen der sowje­ti­schen Politik in der Zeit des Münchner Abkommens 1938 oder wegen des „Fehlens“ eines tsche­chi­schen Katyn tradi­tionell deutlich besser waren. Überhaupt war das Thema Vertreibung in den böhmi­schen Ländern, wo letztlich in einer spezi­ellen Art von Bürger­krieg zwei Drittel der Bevöl­kerung eines Landes das andere, sehr eng verwandte Drittel kollektiv vertrieben hatten, für das nationale Selbst­ver­ständnis ungleich wichtiger als in Polen, dem 1945 zum größten Teil fremde Staats- und Siedlungs­ge­biete – faktisch doch als Entschä­digung für die unbeschreib­lichen Verwüs­tungen des Landes durch die NS-Besatzung – einver­leibt worden waren.

Eine relativ starke, kaum gewendete orthodoxe kommu­nis­tische Partei gehörte vor diesem Hinter­grund nach 1989/90 zu den Spezia­li­täten des Vertrei­bungs­dis­kurses in Tsche­chien. Die Wirkungen dieses Sachver­halts auf den äußerst mühsamen deutsch-tschechischen Dialog hätten in Regentes Studie vielleicht noch klarer heraus­ge­ar­beitet werden können. Sicher ist es schade, dass Václav Havels große frühe Versöh­nungs­gesten bei führenden Sudeten­deut­schen nicht auf frucht­ba­reren Boden fielen. Für ein Gesamt­urteil sollte man aber auch dazu sagen, dass etwa der tsche­cho­slo­wa­kische Minis­ter­prä­sident Marian Čalfa, mit dem sich der Sprecher der Sudeten­deut­schen Lands­mann­schaft (SL) Anfang der 1990er vergeblich „durch dreihundert Jahre deutsch-tschechische Geschichte kämpfte“ (S. 246), ein langjäh­riger KP-Funktionär war, der seine Partei erst kurz zuvor verlassen hatte. Unklar bleibt an dieser Stelle auch, weshalb es „wenig hilfreich“ (S. 256) gewesen sein soll, dass die SL nicht bereit war, ihre bisherige Kernar­gu­men­tation „gegenüber der ersten tsche­cho­slo­wa­ki­schen Republik“ aufzu­geben. Denn hätte es die letztlich auf Assimi­lierung abzie­lende, im Kern falsche Natio­na­li­tä­ten­po­litik Prags in den Sudeten­ge­bieten nicht gegeben, könnte man sich die ganze Henlein-Bewegung mitsamt der Anschluss-Begeisterung von 1938 doch allen­falls mit einer puren Lust an der NS-Ideologie selbst erklären; und die spätere Vertreibung der Deutschen würde dann – aber nur dann – tatsächlich wie eine gerechte Strafe aussehen.

Museumsprojekte auf schwankendem Boden

Die auch nach 1990 kompli­ziert bleibenden Vertrei­bungs­dis­kurse in den Gesell­schaften Mittel­eu­ropas spitzten sich in den 2000er Jahren noch zu, als Tsche­chien nicht einmal auf dem Weg zum EU-Beitritt den krass menschen­rechts­wid­rigen Teil der Beneš-Dekrete aufheben wollte, der die Vertreibung der Deutschen mit einem schein­legalen Mäntelchen umhüllt hatte. In Polen wurden parallel dazu die Aktivi­täten einer neuen, in teils sehr zweifel­haftem Duktus auf das Eigen­tums­recht pochenden „Preußi­schen Treuhand“ in der Bundes­re­publik, so winzig diese war, groß instru­men­ta­li­siert, um das ganz andere, vom Bund der Vertrie­benen verfolgte Anliegen eines „Zentrums gegen Vertrei­bungen“ in Berlin zu verhindern. So war die politische Großwet­terlage, in der die Museums­pro­jekte dieser Jahre auf den Weg gebracht wurden, das Danziger 2008, das Berliner ein Jahr später kraft eines überdehnten Kompro­misses der schwarz-roten Koalition zur Gründung einer „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, erheblich angespannt.

Regente arbeitet heraus, wie die in diesem Reizklima erfol­genden Direk­to­ren­wechsel oft auch mit neuen inhalt­lichen Weichen­stel­lungen verbunden waren. Erstaunlich, dass sich dies trotz der Spannungen im deutsch-tschechischen Vertrei­bungs­diskurs bei den Projekten in Aussig und München zumindest für die Öffent­lichkeit am wenigsten erschloss, auch wenn im böhmi­schen Fall der starke altkom­mu­nis­tische Einfluss in der Region kaum zu übersehen ist. In Danzig dagegen wurde der verdiente Gründungs­di­rektor erst auf den letzten Metern, praktisch mit der Eröffnung seines Hauses 2017, im Zuge eines klaren kultur­po­li­ti­schen Rollbacks durch die rechts­na­tio­na­lis­tische Regierung in Warschau aus dem Verkehr gezogen. Im Schlesien-Museum in Kattowitz hatte es gleich anfangs eine Diskussion über den Anteil der deutschen Geschichte im Haus gegeben. Die Ausstel­lungs­macher planten, diesen auch seiner wirklichen Bedeutung entspre­chend breit darzu­stellen und mit dem Kapitel der Indus­tria­li­sierung zu beginnen. Der polni­schen Rechten aber war das denn doch „zu deutsch“; und nach dem erzwun­genen Rücktritt des Gründungs­di­rektors 2013 wurde die Konzeption geändert und statt­dessen mit dem piasti­schen Schlesien begonnen.

Züge einer Realsatire trug es, dass, wie Regente schildert, nicht nur der Direktor eines polni­schen Regio­nal­mu­seums wegen angeblich zu großer Deutsch­freund­lichkeit aus dem Amt gedrängt wurde, sondern dass dieser „Vorwurf“ 2014 auch in Deutschland selbst (!) gegen den damaligen Direktor der Bundes­stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, den Autor dieses Beitrags, erhoben wurde. Nach seinem Amtsver­zicht, so jubelte nicht nur eine Berliner Lokal­zeitung, sei endlich die „Fixierung aufs Deutsche“ überwunden worden, wo sich die Vertrie­be­nen­ver­bände doch ohnehin „schlicht überlebt“ hätten (S. 404). Ein neues Konzept nahm laut Regente gegenüber den früheren Ausstel­lungs­plänen „verstärkt die kurze Linie“, also eine Verortung der Vertrei­bungs­ur­sachen „im Kontext des Zweiten Weltkrieges“ vor (S. 402), während die längeren Linien – etwa Pläne politisch relevanter Gruppen in Polen und der ČSR auch schon vor 1933/39, die Zahl der Deutschen zu reduzieren – in den Hinter­grund getreten seien. Dies habe aber sowohl „den von links­li­be­raler Seite“ (S. 409) in der Bundes­re­publik stets erhobenen Forde­rungen wie auch national-polnischen und ‑tsche­chi­schen Positionen entsprochen.

Die Hinter­gründe der seiner­zei­tigen Perso­nal­in­trigen hätte man mit analy­ti­schem Gewinn auch noch etwas näher beleuchten können; denn etwa im Politikteil der FAZ oder noch ausführ­licher in der von Regente ander­weitig gut berück­sich­tigten Sudeten­deut­schen Zeitung war ja bereits damals öffentlich klarge­stellt worden, dass die auf eine Wechsel­aus­stellung der Berliner Stiftung bezogenen Vorwürfe, die vertrie­benen Deutschen als die „einzigen Opfer des Krieges“ gezeichnet zu haben (Gazeta Wyborcza), objektiv der Wahrheit wider­sprachen. Nur wurden sie auch im linken Medien­mahl­strom der Bundes­re­publik solange hin und her gespült, bis auf politi­scher Seite die üblichen Reflexe erfolgten.

Ideologische Asymmetrien

Der (erinnerungs-)kulturellen Hegemonie der Linken in der Bundes­re­publik seit 1968, auf die Regente in diesen Passagen implizit Bezug nimmt, scheint auch eine spezielle litera­rische Usance seiner Disser­tation Rechnung zu tragen: nämlich Äußerungen von Histo­rikern v. a. der Zeit- und der Osteu­ro­päi­schen Geschichte, die politisch heute – ähnlich der Journa­lis­ten­klasse – zu etwa 80 % rot-rot-grün zu verorten sind, nicht näher zu klassi­fi­zieren, bei „konser­va­tiven“ oder gar als „natio­nal­kon­ser­vativ“ geltenden Geschichts­wis­sen­schaftlern diese Eigen­schaft dem Leser hingegen explizit mitzu­teilen. Gewiss würde es etwas langweilig, die Klassi­fi­zie­rungs­pro­zedur bei der großen, unter­schiedlich ausge­prägten linken Mehrheit jedes Mal in gleicher Weise zu vollziehen. Doch zumindest in einigen extre­meren Fällen, etwa bei dem mehrfach zitierten, in den 1950er Jahren tief im K‑Bereich verstrickten Kurt Nelhiebel, einem der „antifa­schis­ti­schen“ Oberkri­tiker der Vertrie­be­nen­ver­bände, wäre diese Infor­mation im Sinne einer „Gleich­be­rech­tigung“ sicherlich hilfreich gewesen.

Und zwar umso mehr, als Regente viel zu viel über die Geschichte des Themas Vertreibung weiß, um an vielen Stellen – unbeschadet seiner Maxime, sine ira et studio schreiben zu wollen – nicht immer wieder diverse Zeitgeist-Klischees aufzu­spießen. Die Vertrie­benen sieht er trotz der Verstri­ckung auch vieler Ostdeut­scher ins NS-System ausdrücklich als eine wenngleich spezielle „Opfer­gruppe“ (S. 20). Ihr Anspruch auf Erinnerung sei berechtigt. Und selbst bei den indivi­duell schuldig Gewor­denen sei sehr fraglich, ob deren Vertreibung als eine im rechts­staat­lichen Sinne angemessene „Bestrafung“ betrachtet werden dürfe.

Zweifel werden schließlich auch an der modischen These laut, das alte multi­kon­fes­sio­nelle und multi­eth­nische Ost-Mitteleuropa könne als Vorbild für die vielbe­schworene multi­kul­tu­relle Gesell­schaft der Gegenwart taugen. Denn das vergangene „Modell“ habe auf einer – heute unvor­stell­baren – festen Zuordnung gesell­schaft­licher Rollen nach Konfession und Ethnie sowie struk­tu­reller sozialer Ungleichheit beruht. Besonders verdienstvoll ist aber, dass Regente auch dem skanda­lösen Buch des polni­schen Histo­rikers Jan Piskorski Die Verjagten Aufmerk­samkeit schenkt, das wohl auch durch seine Veröf­fent­li­chung in einem lange sehr renom­mierten Verlag vor den eigentlich überfäl­ligen Verrissen bewahrt wurde. Regente erinnert hier daran, dass Piskorski, der die Vertreibung als eine histo­rische Notwen­digkeit betrachtet, selbst den für Ostdeutsche geschaf­fenen Inter­nie­rungs­lagern, wo ab 1945 Tausende infolge syste­ma­ti­scher Gewalt ums Leben kamen, noch etwas Positives abgewinnt, ja sie als „eine Art Refugium“ verklärt, das seinen Insassen „in schweren Zeiten […] ein Minimum an Sicherheit und Verpflegung“ geboten habe (S. 140).

„Nehmt alles nur in allem“ hat Regente ein in vielerlei Hinsicht ausge­sprochen aufschluss­reiches Stück „public history“ geschrieben. Es bietet eine gute Grundlage für künftige Histo­riker, um in 30 Jahren, wenn die Proto­kolle von Stiftungs­gremien und andere interne Unter­lagen zugänglich sein werden, die Hinter­gründe einer noch zwei Genera­tionen nach dem GAU so verstrahlten Erinne­rungs­kultur der Vertreibung aus den Quellen darzustellen.