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In den Blick genommen

Artur Becker: Drang nach Osten. weissbooks: Frankfurt / Main 2019

Als „ein sehr privates und persön­liches Buch“ wird dieser Roman von seinem Autor bezeichnet – ein Buch, dessen Ausgangs­punkt zunächst die polnisch-deutsche Familie des Schrift­stellers Arthur mit ihren drama­ti­schen Erleb­nissen in den Monaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostpreußen ist. Neben diesem Nachspüren indivi­du­eller Geschichte sowie der histo­ri­schen Ebene der kommu­nis­ti­schen Macht­über­nahme thema­ti­siert der Roman die perspek­tivlose Situation des im bundes­deut­schen Wissen­schafts­be­trieb festste­ckenden Schrift­stellers mittleren Alters und seiner Beziehung zu der verhei­ra­teten Malwina. Die doppelte Liebes­ge­schichte – die Bindung an das Land der Kindheit in der Vergan­genheit und an die extra­va­gante Geliebte in der Gegenwart – wird aus unter­schied­lichen Blick­winkeln darge­stellt und, einem autobio­gra­fi­schen Verwirr­spiel gleich, mit Zügen der realen Schrift­stel­ler­per­sön­lichkeit Artur Becker verwoben. So ergibt sich eine anspruchs­volle, heraus­for­dernde Lektüre.

Der Erzähler

Wie Artur Becker 1968 in Barto­szyce (Barten­stein) geboren, geht der Erzähler als Siebzehn­jäh­riger in den Westen, „hungrig“ nach westlicher Kultur und westlichem Lebensstil, nicht als politi­scher Dissident. Weder deutsch noch ostpreu­ßisch habe er sich gefühlt, heißt es im Roman von dem jungen Arthur (der in Westdeutschland die übliche Schreib­weise seines Vornamens mit ‚h‘ annimmt), aber das Polnische schien ihm „undefi­nierbar“ zu sein, so dass er – dem Vater, der von Undank sprach, zum Trotz – leichten Herzens ging. Dennoch vermisst Arthur manchmal das polnische Elternhaus, dann wieder hasst er es wegen all der schweren und traurigen Erinne­rungen. Eine Zeitreise machen zu können, wünscht er sich, „sein Leben anschauen wie im Kino“, und die Fragen und Überle­gungen zum Sinn des Lebens, die Arthur an der Schwelle zum Altern beschäf­tigen, führen zu Fragen der Herkunft, des Ursprungs. Diese wiederum bedeuten auch eine Ausein­an­der­setzung mit der sozialistisch-katholischen Erziehung und mit einem Glauben, der im Laufe des Lebens verloren gegangen und kraftlos geworden ist.

Die Vergangenheit

1945, im Chaos der ersten Nachkriegs­wochen, einer Zeit voller Prüfungen und Unsicher­heiten, in der zugleich versucht wird, eine neue Ordnung zu etablieren, lernen sich die Barten­stei­nerin Irmgard, die nach dem Zusam­men­bruch in der Heimat bleibt, und Jan aus Lemberg kennen. Während die Deutsche sich mit einer neuen Sprache und einem neuen Ortsnamen arran­gieren muss und sich in einem Konglo­merat aus Wut, Angst, Hoffnungs­fetzen und übergroßer Sorge um die Zukunft schließlich zu Polen bekennt, aus Hilflo­sigkeit und mangels Alter­na­tiven, lautet Jans Überle­bens­stra­tegie, mit der Vergan­genheit abzuschließen: „Ich weiß nicht, wer ich bin. Und ich will es nicht wissen.“ Gemeinsam wagen diese beiden einen Neuanfang, finden rasch Arbeit auf einem Landgut. Doch noch ist es die Zeit der Parti­sanen, der ‚Waldleute‘, und Jans Wehrmachts­ver­gan­genheit lässt sich nicht abschütteln wie Regen­tropfen nach einem heftigen Schauer.

Nachbarn von Irmgard und Jan auf dem früher deutschen Gutshof werden der Lehrer Ryszard und seine Frau Renata, die zuvor den als Zwangs­ar­beiter misshan­delten Mann gepflegt und betreut hatte und aus Dankbarkeit von ihm gehei­ratet worden war. Während Renata, eine einfache, beinahe einfältige Person, fleißig und tiefgläubig, versucht, der Deutschen Irmgard eine Freundin zu sein und an Versöhnung denkt, verachtet der Nietzsche-Verehrer Ryszard die Kriegs­ver­lierer und denkt bei aller Bildung in erster Linie an Rache. Doch auch mit den neuen politi­schen Verhält­nissen mag er sich nicht abfinden, und die Verstän­digung zwischen Ryszard und Renata bleibt vor allem wegen ihres Glaubens, den Ryszard als Schwäche schmäht, schwierig. „Aus Not“, eher aus Pragma­tismus, freunden sich die beiden Männer Jan und Ryszard an. Doch Jan inter­es­siert sich ebenfalls für Renata, die von ihrem Mann viel zu oft allein gelassen wird, und Ryszard seiner­seits lässt sich auf ein Verhältnis mit der Sekre­tärin Ela ein.

Als Irmgard sich – noch vor der Hochzeit mit Jan – entschließt, eine Schwan­ger­schaft, die sich nach einer Verge­wal­tigung einge­stellt hat, von einem polni­schen „Quack­salber“ abbrechen zu lassen – den Kontakt stellt ihre neue Freundin Renata her –, erweist sich diese Situation für beide Frauen als schreck­liche Prüfung. Nicht einmal der Ortspfarrer kann auf Renatas drängende Fragen: „Gibt es Gott wirklich? Warum mussten Unschuldige sterben?“ angemessen reagieren, flüchtet sich in Allge­mein­plätze, – so bleiben die Fragen ohne Antwort.

Angst bestimmt als überwie­gendes Lebens­gefühl die Nachkriegs­jahre für die Menschen im früheren Ostpreußen. „Wir fürchten uns alle, weil wir überlebt haben“ wird zum Motto derje­nigen, die sich zwischen verbo­tenen Schwarz­markt­ge­schäften, unver­ständ­lichen Regeln der neuen Regierung, chaoti­schem Alltag und den als Flücht­lingen aus verschie­densten Ländern und Landes­teilen neu Zugezo­genen bewegen müssen. Es sind harte Zeiten, unmenschlich und radikal, und es scheint, als wäre der Krieg gar nicht zu Ende gegangen. Der verspro­chene Wohlstand bleibt aus, denn die Russen haben hemmungslos geplündert, die landwirt­schaft­lichen Reformen lösen neue Ängste aus, zudem besteht die Gefahr von Überfällen durch marodie­rende Banden, von Entfüh­rungen und Morden weiterhin sehr real. Träume von einem glück­lichen Leben ohne Hunger, Elend und Tod – sie bleiben Träume.

Das ganze Land scheint Ryszard tot zu sein, und er begreift bei allem kriti­schen Abstand die Faszi­nation, die messia­ni­sches Erlöser­denken unter den Polen seit jeher ausgelöst hat; zugleich ist ihm klar, dass kein Glaube irgend­etwas gegen deutsche Konzen­tra­ti­ons­lager und sowje­tische Gulags vermag. Mit dem Erstarken der neuen sozia­lis­ti­schen Ideologie sind gerade Freiheits­denker und Intel­lek­tuelle wie Ryszard extrem gefährdet, den Vertretern der Partei ist ohnehin jeder verdächtig, und Rücksichten werden allemal nicht genommen. Schließlich gerät auch Ryszard in die Fänge der Miliz, der ehemalige Zwangs­ar­beiter wird als ‚Landes­ver­räter‘ unter Druck gesetzt, der Spionage für die Ameri­kaner verdächtigt. Jan dagegen wird letztlich doch von seiner Vergan­genheit eingeholt, verliert sich in Alkohol und Albträumen und muss seine Stelle als Gutsver­walter aufgeben. In dieser schwie­rigen Situation kündigt sich nun bei beiden Familien Nachwuchs an …

Die Gegenwart

Der Nachfahre Arthur kämpft – Jahrzehnte später – seine eigenen Kämpfe, auch er stellt Fragen, auf die keine Antworten zu erhalten sind, und auch er ist gefangen in einer unglück­lichen Liebes­be­ziehung, die er weder aufgeben noch ausleben kann. Parallel zu den Abschnitten über die Großeltern und ihr Schicksal in den Nachkriegs­jahren breitet der Autor in vier Kapiteln seine eigene Lebenswelt aus. Mit dem Stichwort „Schwer­kraft“ wird der Ton gesetzt, denn sein Leben scheint Arthur plötzlich bedeu­tungslos, er meint rapide zu altern und stellt sich selber in Frage. Durch den Großvater Ryszard für Geschichte und Sozio­logie sensi­bi­li­siert und in Westdeutschland an einer ‚linken‘ Univer­sität beruflich vor Anker gegangen, ist Arthur nun der Sinn seiner pädago­gi­schen Arbeit abhanden gekommen. Als Histo­riker begreift er die Weltge­schichte nicht mehr, das Einzige, was ihn noch am Leben hält, ist – so meint er – seine eigene, private Geschichte. Ein Gefühl von Gebor­genheit und Sicherheit empfindet Arthur nur in seiner Liebe zu der exzen­tri­schen Malwina aus Warschau, dabei ist aller­dings nichts sicher in dieser Beziehung.

Einer­seits genießen es beide, mitein­ander den Alltag zu vergessen, zu träumen und sich zu verwöhnen, sie korre­spon­dieren fast ununter­brochen und sind sich so nah im Virtu­ellen, auch wenn sie räumlich getrennt sind. Anderer­seits überschütten sie sich gegen­seitig mit Ultimaten, denken beständig daran, Schluss zu machen – und können doch nicht ohne einander sein. Arthur liebt die gebildete, stolze, zuweilen geradezu abgehoben und elitär auftre­tende Profes­sorin, doch spürt er, dass seine Kraft nicht mehr ausreicht, ihre Wünsche zu erfüllen; denn nicht nur das Doppel­leben und seine Organi­sation sind anstrengend, vor allem ist es Malwina selber, die mit ihren Ansprüchen und Forde­rungen Arthur unter Druck setzt. Die gemeinsame Herkunft aus Masuren verbindet, aber Malwina lebt und arbeitet in Warschau, und der ganz persön­liche Ost-West-Konflikt zwischen der polni­schen Katho­likin und dem seit Jahrzehnten im links­li­be­ralen Milieu Westdeutsch­lands veror­teten Agnos­tiker bricht immer wieder auf. Besonders deutlich wird dies bei ihren Treffen in Berlin (weder in Warschau noch in seiner Stadt sind solche Treffen möglich), für Arthur ein perfektes „Hide-away“, ein fast heiliger Ort; Malwina hingegen kann mit ihrer „Russo­phobie“ nur den Westteil der Stadt ertragen.

Schließlich verein­baren die beiden Liebenden eine Reise in die alte Heimat Ostpreußen; nicht zufällig buchen sie Zimmer in dem Ort, in dem nach dem Krieg Irmgard und Jan lebten – aus dem alten Gutshof ist inzwi­schen ein edles Schloss­hotel geworden. Arthur besucht in seinem Heimatdorf seine Eltern, die ihr ganz eigenes, tragi­sches Schicksal zu bewäl­tigen haben, denn gerade ist ihre Tochter, Arthurs Schwester, tödlich verun­glückt. Die Mutter, die vor Jahren bereits einmal ein Kind begraben musste, droht an dem erneuten Verlust zu zerbrechen, der Vater erscheint hilflos und fühlt sich von Arthur, dem er vorwirft, sie nicht mehr verstehen zu können, provo­ziert. Und das lang erwartete Treffen mit Malwina löst bei Arthur Schmerz und Sehnsucht aus, Sehnsucht nach Freiheit ebenso wie nach Heimat und nach Liebe. Der Ort steckt voller Erinne­rungen, in denen es keinen Frieden gibt, und auch in der Beziehung gibt es ihn nicht. Zerrissen zwischen ihren Familien, ihrem Land und ihrer Liebe erkennen Arthur und Malwina, dass sie sich endgültig trennen müssen. So endet das Buch in einer melan­cho­li­schen Abschieds­stimmung, und auch ein letzter Versuch Arthurs, wieder zusam­men­zu­kommen, scheitert, denn Malwina weiß: es gibt keinen Ort, an dem sie je wieder glücklich sein werden.

Die veritable Midlife­crisis Arthurs, seine Traumata und seine perspektivlos-problematische Liebes­be­ziehung mit all ihren Facetten nehmen in dem Roman beherr­schenden Raum ein und werden mit einigen Längen und Wieder­ho­lungen, oft ironisch verfremdet, umgesetzt. Die zentralen Fragen nach Herkunft und Geschichte jedoch, mit denen der Autor seinen eigenen Anspruch, den „Drang nach Osten“ zu klären und zu erklären, begründet, drohen daneben zu verschwinden. „Ich schreibe, weil ich nur schreibend die Welt und den Menschen verstehen und lieben kann. Und weil ich Sehnsucht nach meinem Land und meinen Leuten habe.“ Diese Sehnsucht vermittelt Artur Becker in seinem Roman höchst überzeugend, dem Verstehen vermag er sich jedoch lediglich anzunähern.

Annegret Schröder