Zurück

Zur elektronischen Ausgabe

Zum Heft

Zur Rubrik

Das »Merkel-Haus« in Elbing

Seit geraumer Zeit wird in Reise-Magazinen auf eine weitere touristische Attraktion in Elbing hingewiesen :  auf das »Merkel-Haus«. Zu diesem Namen kam das auffällige, gegenüber dem Hauptbahnhof stehende Gebäude offenbar, weil an ihm immer noch unübersehbar die familiären Beziehungen deutlich werden, die von Angela Merkel aus zum deutschen Osten ­bestehen. Nachdem die Politikerin 2005 zur Bundeskanzlerin gewählt worden war, fand ihre Familiengeschichte tiefergreifende Aufmerksamkeit, und so stieß man auch auf ihren Urgroßvater, Emil Drange, der 1910 jenes Haus erworben und mit seiner ­großen Familie bezogen hatte. Bei dieser Wurzelsuche haben sich allerdings einige Missverständnisse und Verkürzungen ­ergeben. Zudem ist es sicherlich gerade für Leserinnen und Leser des Westpreußen von Interesse, die Stationen einer Familiengeschichte genauer kennenzulernen, die von einem Oberstadtsekretär in Elbing bis zur faktisch mächtigsten ­politischen Amtsträgerin in Deutschland führt. Deshalb haben wir unseren Korrespondenten Lech Słodownik gebeten, ­diese Zusammenhänge aufgrund der vorliegenden gesicherten Quellen zu erläutern.

Die Bun­des­kanz­le­rin Dr. Ange­la Doro­thea Mer­kel wur­de bekannt­lich am 17. Juli 1954 in Ham­burg gebo­ren und wuchs, nach­dem ihre Eltern weni­ge Wochen spä­ter in die DDR über­ge­sie­delt waren, mit ihren Geschwis­tern Mar­cus und Ire­ne in Temp­lin, einer Klein­stadt in der Ucker­mark, auf. Ihr Vater war der evan­ge­li­sche Theo­lo­ge Horst Kas­ner, der – als Horst Kaź­mier­c­zak – am 6. August 1926 in Ber­lin gebo­ren wor­den war und am 2. Sep­tem­ber 2011 dort­selbst ver­starb. Bereits ihre Mut­ter hin­ge­gen stammt aus dem deut­schen Osten, denn sie wur­de als Her­lind Jentzsch 1928 in Danzig-Langfuhr gebo­ren. Die Eltern wohn­ten dort im Stef­fens­weg 47.

Von ihrer Pro­ve­ni­enz aus betrach­tet, rückt sogleich Elb­ing in den Blick, denn hier leb­ten die bei­den ihr vor­aus­ge­hen­den Gene­ra­tio­nen vom Ende des 19. Jahr­hun­derts bis ins Jahr 1921, als Her­linds Mut­ter Ger­trud, geb. Dran­ge, nach Dan­zig zog. Deren Eltern, Ange­la Mer­kels Urgroß­el­tern, waren Emil Dran­ge, am 18. März 1866 in Unruh­stadt (Kar­go­wa), Kreis Bomst (Babi­most) in der Pro­vinz Posen, gebo­ren, sowie Emma Dran­ge, geb. Wachs, die am 25. Okto­ber 1871 in Riet­schütz (Jerz­ma­no­wice), Kreis Glogau/Niederschlesien, zur Welt kam. Bei­de hei­ra­te­ten in Glo­gau (Gło­gów), wo auch vier ihrer Kin­der gebo­ren wur­den :  1891 Ger­trud, 1892 Paul, 1896 Anna und 1897 Gün­ther, bei des­sen Unter­ge­wich­tig­keit die Ärz­te zunächst Zwei­fel hat­ten, ob er den beab­sich­tig­ten Umzug von Glo­gau nach Elb­ing über­le­ben wür­de. Kur­ze Zeit spä­ter (1898) ver­ließ die Fami­lie aber Nie­der­schle­si­en und wohn­te nun in Elb­ing :  zunächst in der Schott­land­stra­ße 6b (ul. Czer­nia­kows­ka), spä­ter in der Tal­stra­ße 17 (ul. Wys­pia­ńs­kie­go) und schließ­lich am Äuße­ren Müh­len­damm 34 (ul. Traugutta).

Die Fami­lie wur­de noch grö­ßer, denn Gün­ther folg­ten jetzt die wei­te­ren Kin­der Eli­sa­beth, Georg, Emmy und Eva. Nun erschien der Raum, den eine Miet­woh­nung bot, für der­art vie­le Per­so­nen als nicht mehr zurei­chend, und Emil Dran­ge ent­schloss sich im April 1910, das unmit­tel­bar gegen­über dem Haupt­bahn­hof gele­ge­ne Haus in der Tan­nen­berg­al­lee 45 (Ale­ja Grun­waldzka) zu kaufen.

Das Haus war und ist in Elb­ing unter dem Namen »Lei­er­mann­haus« bekannt. (Gele­gent­lich hör­te man auch »Lei­er­mann­sches Haus«.) Es trug die­sen Namen wohl nach einem Lei­er­mann, der in Russ­land mit sei­nem Instru­ment so viel Geld ver­dient hat­te, dass er 1897 die­ses gro­ße Haus bau­en las­sen konn­te. Bevor der Neu­bau errich­tet wur­de, hat­te auf dem Grund­stück bereits ein ande­res Gebäu­de gestan­den. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen über den Leier­mann sind nicht bekannt. Im Elb­in­ger Ein­woh­ner­buch fin­det sich 1900 als Anga­be des Eigen­tü­mers der Name August Behrendt.

Dass das Haus aus­schließ­lich Wohn­zwe­cken dien­te, war in jener Zeit nicht selbst­ver­ständ­lich. Der reprä­sen­ta­ti­ve Bau mit sei­nem klas­si­zis­ti­schen Stuck, dem Wap­pen­de­kor sowie den schmie­de­ei­ser­nen Bal­ko­nen ist ­äußerst soli­de gebaut. Zum Glück hat er den Krieg über­dau­ert und wur­de 2009 sogar auf­wän­dig reno­viert. (Aller­dings nicht, wie eini­ge ver­mu­tet hat­ten, mit Mit­teln aus Deutsch­land.) In der Mit­te der äuße­ren Fas­sa­de stand bis zum Ende der deut­schen Zeit der Spruch :  »Deut­sches Haus, Deut­sches Land – Schirm es Gott mit star­ker Hand«. Heu­te ist dort zu lesen : »Renov. A. D. 2009«. Das Haus ist vier Stock­wer­ke hoch, oben befin­den sich ein Dach­ge­schoss mit Böden und Frem­den­zim­mern sowie ein Dach­gar­ten, der durch ein ­eiser­nes Git­ter gesi­chert ist, so dass die Drange-­Kinder dort gefahr­los spie­len konnten.

Beein­dru­ckend ist auch der gro­ße Gar­ten mit Gar­ten­haus und Spiel­ge­rä­ten. Auf einem Ron­dell stan­den dort einst in der Mit­te zwei Edel­tan­nen, um die der kin­der­lie­be Vater für jedes der acht Kin­der ein Tan­nen­bäum­chen gepflanzt hat­te. Die Fami­lie Dran­ge bewohn­te die ers­te Eta­ge mit etwa 200 qm Wohn­fläche. Über­dies leb­ten in dem Haus die Fami­li­en Bag­in­ski, Jochem (Georg), Jochem (Ernst), Klim­meck, Kuels, Unruh, van Dra­ge, Wes­sel und Wie­be, so dass der Haus­be­sit­zer gewiss nicht uner­heb­li­che Miet­ein­nah­men ver­zeich­nen konnte.

Emil Dran­ge war in Glo­gau Magistrats­beamter der unte­ren Lauf­bahn gewe­sen. Ehr­gei­zig, wie er war, ver­sprach er sich von einer grö­ße­ren Stadt bes­se­re Auf­stiegs­chan­cen und hat­te sich des­halb nach Elb­ing hin ori­en­tiert. Hier wur­de er zunächst als Regis­tra­tor im Rat­haus ein­ge­stellt, bald jedoch zum Stadt­se­kre­tär mit eige­nem Büro, einem Regis­tra­tor und meh­re­ren Büro­as­sis­ten­ten beför­dert. Schließ­lich wur­de er (wie die Inschrift sei­nes Grab­steins belegt) auch noch Ober­stadt­se­kre­tär. Sei­ne Dienst­zeit fand aller­dings ein vor­zei­ti­ges Ende, denn er wur­de, wie ein Ver­wal­tungs­be­richt aus­weist, krank­heits­be­dingt schon zum 1. Juli 1910, d. h. mit 54 Jah­ren, pen­sio­niert und ver­starb drei Jah­re spä­ter, am 8. April 1913. Dies war für sei­ne Fami­lie ein her­ber Schlag, waren die jüngs­ten Kin­der doch gera­de erst 13, zehn, neun und sie­ben Jah­re alt.

Emil Dran­ges Wit­we wur­de nun Besit­ze­rin des Lei­er­mann­hau­ses, konn­te es jedoch nicht lan­ge hal­ten und muss­te es ver­kau­fen. Neu­er Besit­zer wur­de der Fabri­kant Fritz Bie­nert. Sie blieb dort aber als Mie­te­rin woh­nen, und von hier zogen die Kin­der dann nach und nach aus. Am 1. August 1935 ver­starb auch Emma Dran­ge nach län­ge­rer Krank­heit im Dia­ko­nis­sen­kran­ken­haus an der Gro­ßen Zah­ler­stra­ße (ul. Związ­ku Jaszc­zurc­ze­go) und wur­de wie ihr Mann auf dem Fried­hof der Kir­chen­ge­mein­de St. Johan­nis am Baum­schu­len­weg bei­gesetzt. Die Grab­stei­ne blie­ben erhal­ten und befin­den sich heu­te auf dem von der Stadt­ver­wal­tung errich­te­ten Lapidarium.

Ger­trud, das ältes­te der Drange-Kinder, war am 16. Juli 1891 noch in Glo­gau gebo­ren wor­den. In Elb­ing besuch­te sie die Kaiserin-­Auguste-Viktoria-Schule, eine Höhe­re Schu­le für Mäd­chen, und ent­schloss sich (wie spä­ter auch ihre jün­ge­re Schwes­ter Eli­sa­beth), Leh­re­rin zu wer­den. Volksschullehrerinnen-­Seminare als Ein­rich­tung der Wei­ter­bil­dung für Mäd­chen waren zu der Zeit in West­preu­ßen fast immer mit Höhe­ren Mäd­chen­schu­len bzw. Lyze­en ver­bun­den, und die ein­zi­ge Schu­le, die dafür in Elb­ing zur Ver­fü­gung stand, war eben die Kaiserin-Auguste-­Viktoria-­Schule, so dass Ger­trud Dran­ge im Anschluss an ihr Abi­tur unmit­tel­bar an der glei­chen Anstalt ihre Semi­nar­aus­bil­dung erhielt. Als sie sich gera­de im Examen befand, starb der Vater. Ab dem Schul­jahr 1913/14 bis zum Ende des Schul­jahrs 1920/21 war sie als Leh­re­rin an der Lui­sen­schu­le in der Schott­land­stra­ße (ul. Czer­nia­kows­ka) tätig, einer nach Köni­gin Lui­se von Preu­ßen benann­ten Volks­schu­le für Mäd­chen, nur ein paar Minu­ten vom Wohn­haus in der Tan­nen­berg­al­lee ent­fernt. 1921 ver­ließ sie El­bing und hei­ra­te­te im glei­chen Jahr in Dan­zig den Gym­na­si­al­leh­rer Wil­li Jentzsch, den sie über Freun­de in Elb­ing ken­nen gelernt hatte.

Ihr Mann, Ange­la Mer­kels Groß­va­ter, hat­te zuvor nur kur­ze Zeit in der Stadt am Elb­ing­fluss gelebt. Er stamm­te aus einer alt­ein­ge­ses­se­nen deut­schen Guts­be­sit­zer­fa­mi­lie in Wol­fen, Kreis Bitterfeld/Sachsen, und war dort am 15. Mai 1886 gebo­ren wor­den. (Die gele­gent­lich geäu­ßer­te Annah­me, dass er Pole gewe­sen sei, ist anschei­nend rein spe­ku­la­tiv.) Nach sei­nem Abitur in Wei­ßen­fels und Stu­di­en in Göt­tin­gen und Hal­le zog es ihn nach West­preu­ßen, wo er in Elb­ing das Semi­nar­jahr und anschlie­ßend in Dir­schau das Pro­be­jahr absol­vier­te, bevor er am Kronprinz-Wilhelm-Realgymnasium in Dan­zig Lang­fuhr fest in den preu­ßi­schen Staats­dienst über­nom­men wur­de. Dort fand dann die Hoch­zeit mit Ger­trud statt, und in Dan­zig wur­de am 8. Juli 1928 auch Her­lind, die Mut­ter der Bun­des­kanz­le­rin, geboren.

Auch wenn sie somit kei­ne Elb­in­ge­rin ist, hat auch Her­lind dort gleich­wohl noch eine kür­ze­re Zeit ver­bracht, und zwar vom Herbst 1943 bis zum Som­mer 1944, als sie mit ihrer Mut­ter und ihrer Schwes­ter Gun­hild eva­ku­iert wor­den war. Sie wohn­ten bei Ger­truds Schwes­ter Eli­sa­beth in der Wran­gel­stra­ße 5 (ul. Szwo­leżerów) in der Nähe der Dan­zi­ger Kaser­ne. Eben­so wie ihre Mut­ter etwa 30 Jah­re zuvor besuch­ten Her­lind und Gun­hild wäh­rend die­ser Zeit die Kaiserin-Auguste-Viktoria-­Schule, um den schu­li­schen Anschluss nicht zu ver­pas­sen. Zu ihrer Schu­le konn­ten sie mit der Stra­ßen­bahn der Linie 2 von der End­hal­te­stel­le Langemarck-Hindenburgstraße bis zur Post­stra­ße fah­ren. Noch recht­zei­tig vor dem Kriegs­en­de und der ver­hee­ren­den Nach­kriegs­zeit haben die Mit­glie­der der Fami­lie Jentzsch Elb­ing ver­las­sen und sind von hier aus nach Ham­burg gelangt, wo Her­lind spä­ter ihren Mann Horst Kas­ner ken­nen­lern­te. – Mit der Ankunft in die­ser Stadt endet mit­hin zugleich der genea­lo­gi­sche Weg, der – bild­lich gespro­chen – über vier Gene­ra­tio­nen vom Lei­er­mann­haus in Elb­ing nach Ber­lin ins Bun­des­kanz­ler­amt führt.

Herrn Dr. Klaus-Heinz Hinz (Düren) sei herz­lich dafür gedankt, dass er für die­sen Arti­kel Doku­men­te und Unter­la­gen zur Ver­fü­gung gestellt und auch die Aus­ar­bei­tung hilf­reich unter­stütz hat.

Lech Słodownik