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Wider das »Entgleiten aus dem kulturellen Gedächtnis«

Eine kritische Würdigung der konzeptionellen Neuausrichtung des Westpreußen-Jahrbuchs

Von Manfred Kittel

West­preu­ßen: »Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu fin­den.« Was Fried­rich Schil­ler ein­mal über das alte (römisch-)deutsche Reich kurz vor sei­nem Ende unter Napo­le­on geschrie­ben hat – auf das Land an der unte­ren Weich­sel trifft es heu­te wahr­schein­lich mehr zu als auf die meis­ten ande­ren der deut­schen Staats- und Sied­lungs­ge­bie­te im Osten, aus denen um 1945 Mil­lio­nen Men­schen ver­trie­ben wur­den. Selbst bei his­to­risch zumin­dest Halb­ge­bil­de­ten dürf­te »West­preu­ßen« öfter Asso­zia­tio­nen an das bis 1933/46 zum Staa­te Preu­ßen gehö­ren­de Rhein­land wecken als an die Regi­on zwi­schen Dan­zig und Thorn. Der Begriff teilt damit das Schick­sal »Ost­deutsch­lands«, bei dem die Mehr­heit heu­te an die neu­en Bun­des­län­der und damit an das his­to­ri­sche Mit­tel­deutsch­land denkt statt an die 1945 ver­lo­re­nen Staats­ge­bie­te von Schle­si­en bis Ostpreußen. 

Ange­sichts des »Versinken[s] einer gan­zen Regi­on« in Form ihres all­mäh­li­chen »Entgleiten[s] aus dem kul­tu­rel­len Gedächt­nis« war die 1950 gestif­te­te Tra­di­ti­on der Westpreußen-Jahrbücher vor eini­gen Jah­ren in eine Art Sinn­kri­se gera­ten, sprich: seit 2019 kein neu­er Band mehr erschie­nen. Auch der bereits von 1989 bis 2018 geführ­te Unter­ti­tel der Bei­trä­ge »Aus dem Land an der unte­ren Weich­sel« hat­te das Inter­es­se am Westpreußen-Jahrbuch nicht zu stei­gern ver­mocht. Der Vor­stand der West­preu­ßi­schen Gesell­schaft beschloss des­halb, das Kon­zept der Rei­he »behut­sam, aber an ent­schei­den­den Stel­len zu modi­fi­zie­ren« und dies mit einem neu­en Unter­ti­tel auch zu signa­li­sie­ren: »Stu­di­en zur euro­päi­schen Kul­tur­re­gi­on an der unte­ren Weich­sel«. Damit soll, wie dem Geleit­wort des Vor­sit­zen­den, Erik Fischer, zu dem jetzt erschie­ne­nen ers­ten Band nach der Neu­for­ma­ti­on zu ent­neh­men ist, vor allem die »eth­ni­sche, sprach­li­che, kon­fes­sio­nel­le wie gesell­schaft­li­che Hete­ro­ge­ni­tät« der Regi­on stär­ker ins Schau­fens­ter gestellt wer­den. Denn die­se erlau­be »vor dem Hori­zont der […] euro­päi­schen Eini­gung eine Viel­zahl von span­nen­den Fragestellungen«.

Das mag man­chem einer­seits ein wenig modisch vor­kom­men. Schließ­lich sind auch »rein« fran­zö­si­sche Kul­tur­re­gio­nen wie die Cham­pa­gne oder deut­sche wie Ober­bay­ern eben­falls zutiefst »euro­pä­isch«. Zur Geschich­te des Abend­lan­des gehö­ren sei­ne Natio­nen eben­so wie vie­le Regio­nen, die tra­di­tio­nell nicht von beson­ders gro­ßer Hete­ro­ge­ni­tät gekenn­zeich­net waren. Ande­rer­seits ist es, wenn mit dem Begriff »­euro­päisch« Über­schnei­dungs­räu­me von zwei oder sogar meh­re­ren Völ­kern auf­ge­ru­fen wer­den sol­len, natür­lich nicht nur poli­tisch, son­dern tat­säch­lich auch his­to­risch kor­rekt, West­preu­ßen dar­un­ter zu fas­sen. Nicht nur wegen der hin­zu­kom­men­den jüdi­schen Bevöl­ke­rungs­grup­pe, son­dern auch wegen des manch­mal lei­der über­se­he­nen klei­nen west­sla­wi­schen Vol­kes der Kaschub­en im Nord­wes­ten der Region.

Eine wei­te­re wesent­li­che Neue­rung im Kon­zept des Jahr­buchs besteht dar­in, dass die­ses stark an die Westpreußen-Kongresse rück­ge­bun­den ist, so dass die ein­zel­nen Bän­de – neben frei­en Bei­trä­gen – inhalt­li­che Schwer­punk­te auf­wei­sen und gege­be­nen­falls unab­hän­gig von der Rei­he die Auf­merk­sam­keit von Lesern fin­den kön­nen, deren Inter­es­se sich auf spe­zi­el­le the­ma­ti­sche Aspek­te rich­tet. Der vor­lie­gen­de Band bie­tet daher zum einen die Eröff­nungs­vor­trä­ge der Westpreußen-Kongresse von 2017, 2018 und 2019 als »Grund­satz­re­fe­ra­te« zu zen­tra­len Fra­gen der His­to­rio­gra­phie sowie zur Geschich­te der deutsch-polnischen Bezie­hun­gen, zum ande­ren Bei­trä­ge kon­kret zur »zer­klüf­te­ten deutsch-polnischen Bezie­hungs­ge­schich­te seit dem Kai­ser­reich« auf Grund­la­ge der Vor­trä­ge des Kon­gres­ses im Jahr 2019.

In kaum einem der Ver­trei­bungs­ge­bie­te von 1945 außer wohl noch in Ober­schle­si­en gin­gen das Deut­sche und das Pol­ni­sche auf rela­tiv gro­ßem Raum so dicht und nach­ge­ra­de untrenn­bar inein­an­der über wie in West­preu­ßen. Im bin­nen­deut­schen Nie­der­schle­si­en, Ost­bran­den­burg oder Hin­ter­pom­mern sowie­so nicht, aber auch nicht im süd­li­chen Ost­preu­ßen, wo der lan­ge alles domi­nie­ren­de kon­fes­sio­nel­le Fak­tor die sprach­li­che Viel­falt politisch-kulturell ganz anders kana­li­sier­te. Selbst wenn man den deutsch-tschechischen Bereich noch in die Betrach­tung ein­be­zieht, ändert sich das Bild nicht grund­sätz­lich. Dort leb­ten mit den böh­mi­schen Juden immer­hin drei Völ­ker in einem gemein­sa­men staats­recht­li­chen Gehäu­se zusam­men, aber inner­halb des Hau­ses doch öfter in jeweils eige­nen Zim­mern als dies – von der Sied­lungs­struk­tur her gese­hen – in West­preu­ßen der Fall war. 

Im signi­fi­kan­ten Unter­schied wie­der­um zu Ober­schle­si­en, das seit dem Mit­tel­al­ter über vie­le Jahr­hun­der­te Teil eines als Schle­si­en bezeich­ne­ten Ter­ri­to­ri­ums war, kommt der Name »West­preu­ßen« erst nach der Ers­ten pol­ni­schen Tei­lung 1772 in Gebrauch, als das Gebiet zwi­schen Dan­zig und Thorn, bis zur zwei­ten Tei­lung 1793 noch ohne die­se Städ­te selbst, an Preu­ßen fiel. Erfin­der des Namens war ein Minis­ter Fried­richs des Gro­ßen, der damit Bezeich­nun­gen wie Neu- oder Klein­preu­ßen für die hin­zu­kom­men­de Pro­vinz ver­mei­den woll­te. Wie Jörg Hack­mann in einem der grund­le­gen­den Bei­trä­ge des Ban­des dar­legt, wur­de West­preu­ßen aber bereits 1829 für län­ge­re Zeit (bis 1878) mit Ost­preu­ßen zu einer »Pro­vinz Preu­ßen« zusam­men­ge­legt, um geschichts­po­li­tisch die Ver­bin­dung von Deut­schem Orden und Hohen­zol­lern­mon­ar­chie zu unter­mau­ern. Von den Sie­ger­mäch­ten des Ers­ten Welt­krie­ges 1919 der wie­der­erste­hen­den pol­ni­schen Repu­blik ein­ver­leibt, hat­te es eine preußisch-deutsche Pro­vinz »West­preu­ßen« also ins­ge­samt nur ein knap­pes Jahr­hun­dert gegeben.

In der Wei­ma­rer Repu­blik knüpf­te man aller­dings sowohl mit der klei­nen »Grenz­mark Posen-Westpreußen« als auch mit dem »Regie­rungs­be­zirk West­preu­ßen« als west­lichs­tem Teil der Pro­vinz Ost­preu­ßen an die ver­gleichs­wei­se jun­ge Tra­di­ti­on an, bevor nach dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Angriffs­krieg gegen Polen ein »Reichs­gau Danzig-­Westpreußen« mit den Regie­rungs­be­zir­ken Dan­zig, Brom­berg und Mari­en­wer­der gebil­det wur­de. Das war auch inso­fern bemer­kens­wert, als pro­mi­nen­te »Ost­for­scher« wie Erich Key­ser West- und Ost­preu­ßen lie­ber wie­der zum »Preu­ßen­land« ver­ei­nigt hätten. 

Hack­mann erläu­tert auch kun­dig die Hin­ter­grün­de der pol­ni­schen Bezeich­nun­gen für die Regi­on, unter denen »Pomor­ze« (Pom­mern) domi­niert, und resü­miert in geschichts­wis­sen­schaft­li­cher Beschei­den­heit, kei­ne »auto­ri­ta­ti­ve Aus­kunft« dar­über geben zu kön­nen, wel­cher Name künf­tig der am bes­ten geeig­ne­te wäre. Als Kan­di­da­ten blie­ben – eher von der pol­ni­schen Per­spek­ti­ve aus­ge­hend – »Ost­pom­mern« oder aber »Pom­me­rel­len«, das bereits zwi­schen den Welt­krie­gen von deut­scher Sei­te wie­der­be­lebt wor­den war, oder schließ­lich das »Dan­zi­ger Pommern«.

Hans-Jürgen Bömel­burg stellt dar­an anknüp­fend Ansät­ze einer »historisierte[n] Kul­tur­ge­schich­te der unte­ren Weich­sel­re­gi­on« vor, die wegen des gewach­se­nen Abstands zu einem »deut­schen West­preu­ßen« nicht mehr von Zeu­gen die­ser Zeit domi­niert wer­de. Das ist anre­gend, wirft aber auch Fra­gen auf, etwa wenn einer­seits »iden­ti­täts­stif­ten­den Groß­erzäh­lun­gen« eine Absa­ge erteilt wird, ande­rer­seits das Plä­doy­er zu hören ist, die Regi­on vor allem auch als »Schau­platz einer Geschich­te mul­ti­kul­tu­rel­ler, ›kos­mo­po­li­ti­scher‹ Bevöl­ke­run­gen« zu begrei­fen, »geprägt durch städ­ti­sches Bür­ger­tum, Libe­ra­lis­mus und Welt­of­fen­heit«. Präg­te nicht kon­ser­va­ti­ve Agrar­pro­vinz das Land an der unte­ren Weich­sel min­des­tens ebenso?

Wenn der Begriff »West­preu­ßen« pro­ble­ma­ti­siert wird, weil er vor allem für eine »berlinisch-deutsche Per­spek­ti­ve auf die Regi­on« steht, wür­de einen gera­de vor dem Hin­ter­grund der ange­streb­ten »gleich­be­rech­tig­ten« deutsch-polnischen »Bezie­hungs­ge­schich­te« auch inter­es­sie­ren, wie es par­al­lel dazu um die polnisch-nationale War­schau­er Per­spek­ti­ve auf das öst­li­che »Pomor­ze« im Geis­te des ultra-rechten Roman Dmow­ski bestellt war. Gehör­te es nicht schließ­lich auch zur Euro­päi­sie­rung unse­rer Blick­win­kel, bei Preu­ßens ger­ma­ni­sie­ren­der Spra­chen­po­li­tik im Vor­märz (unter Theo­dor von Schön) die berech­tig­te Kri­tik durch einen Ver­gleich etwa mit Frank­reich zu objek­ti­vie­ren? Dort wur­den fast gleich­zei­tig im Namen höhe­rer Zivi­li­sa­ti­on durch eine in die­sem Fall radi­kal roma­ni­sie­ren­de Schul­po­li­tik in Okzita­ni­en und ande­ren sprach­li­chen Min­der­heits­ge­bie­ten »peasants into french­man« (Eugen Weber) umerzogen.

Wie Chris­ti­an Plet­zing in sei­nem Bei­trag über »Preu­ßen, Deut­sche und Polen in West­preu­ßen zwi­schen Völ­ker­früh­ling und Kul­tur­kampf« dazu instruk­tiv ver­tieft, war die gegen den pol­nisch­spra­chi­gen Guts­be­sitz gerich­te­te Poli­tik des Ober­prä­si­den­ten von Schön aller­dings viel weni­ger »erfolg­reich« als die des fran­zö­si­schen Natio­nal­staats in Okzita­ni­en. Denn es blieb nicht bei der Zurück­drän­gung der pol­ni­schen Spra­che im höhe­ren Schul­we­sen, dar­über hin­aus wur­den nach 1830 die Kar­rie­re­mög­lich­kei­ten des pol­ni­schen Adels in der preu­ßi­schen Ver­wal­tung beschnit­ten. Gera­de jün­ge­re Edel­leu­te, deren Väter dem preu­ßi­schen Staat noch treu gedient hat­ten, ent­wi­ckel­ten so »zuneh­mend eine pol­ni­sche Identität«. 

Spä­tes­tens nach dem bereits im Ansatz geschei­ter­ten Auf­stands­ver­such mit einem geplan­ten Über­fall auf die Gar­ni­son von Preu­ßisch Star­gard 1846 schwand die zeit­wei­li­ge Soli­da­ri­sie­rung deut­scher Libe­ra­ler mit den (anti­rus­si­schen) pol­ni­schen Frei­heits­kämp­fern dann dahin, ja mehr­ten sich auch dort die Anhän­ger einer Ger­ma­ni­sie­rungs­po­li­tik. Wel­che Ent­wick­lungs­chan­cen in der poli­ti­schen Kul­tur Ostel­bi­ens in die­sem Zuge ver­lo­ren­gin­gen, ver­an­schau­licht viel­leicht kaum etwas bes­ser als das Por­trät Geor­ge Washing­tons, das in den 1840er Jah­ren im Kaf­fee­haus »Der deut­sche Michel«, dem Treff­punkt der Elb­in­ger Libe­ra­len, im Spei­se­raum hing.

In künf­ti­gen Bän­den ger­ne noch gründ­li­cher erforscht wer­den soll­te die von Bömel­burg kennt­nis­reich her­aus­ge­stell­te jahr­hun­der­te­lan­ge »inten­si­ve und geleb­te Zwei­spra­chig­keit« einer Regi­on, in der die ade­li­gen Land­ta­ge seit dem 16. Jahr­hun­dert auf Pol­nisch, die Stadt­rä­te meist auf Deutsch ver­han­del­ten. Zen­tral gewiss auch wei­ter­hin die Fra­ge, in wel­chen Mecha­nis­men genau sich pol­ni­scher und deut­scher Natio­na­lis­mus seit dem 19. Jahr­hun­dert wech­sel­sei­tig radi­ka­li­sier­ten oder was schließ­lich die Ver­trei­bung der bür­ger­li­chen Bevöl­ke­rung Dan­zigs und die fol­gen­de Pro­le­ta­ri­sie­rung der Stadt mit der Gewerk­schafts­be­we­gung der Soli­dar­ność in den 1980er Jah­ren zu tun hatten.

Wie weit die Fel­der künf­ti­ger For­schung nach wie vor sind, doku­men­tie­ren dar­über hin­aus die »bezie­hungs­ge­schicht­li­chen« Bei­trä­ge etwa von Frank Golc­zew­ski zu »Kon­zep­ten der Wie­der­her­stel­lung Polens nach dem Ers­ten Welt­krieg« oder von Bea­ta Doro­ta Lake­berg zur deut­schen Min­der­hei­ten­pres­se wäh­rend der Zwi­schen­kriegs­zeit. Zu wich­ti­gen Ein­zel­the­men vom Ver­sailler Ver­trag 1919 bis zum Beginn des »Polen­feld­zugs« 1939 konn­ten Mar­tin Kosch­ny und Dani­el Bre­wing gewon­nen wer­den, für eine Refle­xi­on über das Epo­chen­jahr 1989 und sei­ne Aktua­li­tät für die deutsch-polnischen Bezie­hun­gen der ange­se­he­ne lang­jäh­ri­ge Aussiedler- und Min­der­hei­ten­be­auf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung Minis­ter­prä­si­dent a. D. Chris­toph Berg­ner. Ein lite­r­ar­his­to­ri­scher Auf­satz zu Flucht, Ver­trei­bung und Erin­ne­rung (Axel Dorn­emann), der Blick auf die »His­to­ri­sche Wahr­heit 2.0« im digi­ta­len Zeit­al­ter (Bet­ti­na Schlü­ter) sowie früh­neu­zeit­li­che Bei­trä­ge zur Pest in Dan­zig und Königs­berg (Filip Ema­nu­el Schuf­fert) und zur Hul­di­gung Fried­richs II. 1772 in Mari­en­burg (Rai­ner Zacha­ri­as) run­den den Band ab.

Was nach der Lek­tü­re bleibt, ist jeden­falls der Ein­druck, dass es mehr als nur einen Ver­such wert ist, West­preu­ßen – auch – als »euro­päi­sche Kul­tur­re­gi­on an der unte­ren Weich­sel« zu begrei­fen. Da sich an der anhal­ten­den Unter­fi­nan­zie­rung der Kul­tur­pfle­ge nach Para­graph 96 Bun­des­ver­trie­be­nen­ge­setz durch die öffent­li­che Hand wohl lei­der erst ein­mal nicht viel ändern dürf­te, sind zivil­ge­sell­schaft­li­che Initia­ti­ven umso wich­ti­ger. Nur dann wird mit dem »Dan­zi­ger Pom­mern« auch »West­preu­ßen« ein ange­mes­se­ner Platz in unse­rer Erin­ne­rungs­kul­tur bewahrt wer­den können.

Erscheint in gekürz­ter Form in:
DOD – Deut­scher Ostdienst.