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Juden in Westpreußen von der Gründungder preußischen Provinzbis zum Ende des Kaiserreichs

Ein Aufriss

Von Michael K. Schulz

Die Ver­gan­gen­heit jüdi­schen Lebens in Deutsch­land lässt sich anhand ver­schie­de­ner Nar­ra­ti­ve dar­stel­len. Je nach­dem, ob wir Juden als ein Volk, eine Nati­on, eine Kul­tur oder eine Religions- bzw. Schick­sals­ge­mein­schaft ver­ste­hen, rich­ten wir unter­schied­lich gro­ße Auf­merk­sam­keit auf spe­zi­el­le Aspek­te wie Tra­di­ti­on, Spra­che, kol­lek­ti­ve Iden­ti­tät oder poli­ti­sche Ori­en­tie­run­gen. Ähn­lich wie für ande­re in der Dia­spo­ra (Galut) leben­de jüdi­sche Gemein­schaf­ten bie­tet es sich auch für jene in West­preu­ßen an, ihre Geschich­te maß­geb­lich als die einer religiös-ethnischen Min­der­heit auf­zu­fas­sen, die – abhän­gig vom sozi­al­po­li­ti­schen Kon­text – mehr oder weni­ger gro­ße Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten genoss.

Bei der Beschrei­bung his­to­ri­scher Pro­zes­se und Ereig­nis­se ist es drin­gend ange­ra­ten, ein mög­lichst viel­per­spek­ti­vi­sches Bild zu zeich­nen. Um die­ses Ziel im Fol­gen­den zu errei­chen, wer­den die wich­tigs­ten Aspek­te jüdi­schen Lebens in West­preu­ßen wäh­rend der Zeit­span­ne von 1772 bis 1918 in drei Blö­cken dargestellt. 

  • Ers­tens, das Ver­hält­nis des Staa­tes zu den Juden. Wie wur­de ihr Sta­tus offi­zi­ell defi­niert? Was unter­schied sie von ihren nicht­jü­di­schen Nach­barn? Was wur­de ihnen erlaubt und was verboten? 
  • Zwei­tens, das inner­jü­di­sche Leben, ins­be­son­de­re das Juden­tum als eine Kul­tur und Reli­gi­on, das Gemein­de­le­ben und jüdi­sche Iden­ti­tä­ten. Wel­che ideel­len Ent­wick­lun­gen gab es dabei? Wie orga­ni­sier­ten sich die Juden und wie nor­mier­ten sie Ver­hal­tens­re­geln untereinander? 
  • Drit­tens, sozia­le Bezie­hun­gen zwi­schen jüdi­scher Min­der­heit und Mehr­heits­ge­sell­schaft. Dabei stellt sich zunächst die Fra­ge, in wel­chen Zusam­men­hän­gen die Kon­tak­te über­haupt statt­fan­den: im Berufs­le­ben, im öffent­li­chen oder pri­va­ten Raum? Wie inten­siv waren die­se Bezie­hun­gen und was präg­te sie am stärks­ten, etwa gegen­sei­ti­ge wirt­schaft­li­che Inter­es­sen, anti­jü­di­sche Res­sen­ti­ments oder Desinteresse? 

Auch wenn eini­gen die­ser Fra­gen hier nur kur­ze Aus­füh­run­gen gewid­met wer­den kön­nen, gewährt uns die­se Mul­ti­per­spek­ti­vi­tät doch die Chan­ce, ein Bild zu zei­gen, in dem sowohl das inner­jü­di­sche Leben wie auch des­sen Wech­sel­wir­kun­gen mit der »Außen­welt« berück­sich­tigt werden.

Der Staat und die Juden

Bis zu den Tei­lun­gen Polen-Litauens 1772, 1793 und 1795 war es den Juden gro­ßen­teils ver­bo­ten, sich in den Städ­ten des König­li­chen Preu­ßens nie­der­zu­las­sen. Aus die­sem Grun­de leb­te zum einen ein Drit­tel der 1772 ver­zeich­ne­ten 3.601 Juden der neu­ge­grün­de­ten Pro­vinz West­preu­ßen in den Vor­or­ten Dan­zigs, in Gebie­ten außer­halb der städ­ti­schen Juris­dik­ti­on. Zum ande­ren hiel­ten sich, nach­dem die frü­her dem Netz­e­di­strikt ange­hö­ri­gen Land­krei­se Deutsch Kro­ne und Fla­tow West­preu­ßen zuge­schla­gen wor­den waren, die meis­ten der ande­ren west­preu­ßi­schen Juden dort auf, gefolgt von ihren Glau­bens­ge­nos­sen in den Land­krei­sen Schloch­au und Preu­ßisch Star­gard. Bis zum Ers­ten Welt­krieg blieb der süd­li­che Regie­rungs­be­zirk Mari­en­wer­der sei­nem Dan­zi­ger Pen­dant in abso­lu­ten Zah­len der jüdi­schen Bewoh­ner über­le­gen; deren Rück­gang war seit den 1870er Jah­ren gleich­wohl deut­lich stär­ker als in den nörd­li­chen Tei­len der Provinz.

Neben ihren Aus­wir­kun­gen auf die Nie­der­las­sungs­mög­lich­kei­ten mar­kier­ten die Tei­lun­gen Polen-Litauens auch eine Zäsur im Sta­tus der Juden gegen­über dem Staat und hin­sicht­lich ihrer Erwerbs­mög­lich­kei­ten. Nach der ers­ten Tei­lung im Jahr 1772 führ­te Fried­rich II. in der Pro­vinz West­preu­ßen das seit 1750 in sei­ner Mon­ar­chie gel­ten­de Juden-Reglement ein. Als Aus­druck der abso­lu­tis­ti­schen Schutz­ju­den­po­li­tik bestimm­te die­ser Rechts­akt den Sta­tus der jüdi­schen Min­der­heit im Land und den Rah­men ihrer wirt­schaft­li­chen Akti­vi­tät und der Gemein­de­au­to­no­mie. Den »Schutz« des Staa­tes ver­dien­ten dem­zu­fol­ge ins­be­son­de­re wohl­ha­ben­de oder zumin­dest die­je­ni­gen Juden, die ihre Fami­li­en selbst­stän­dig unter­hal­ten konn­ten. Alle ande­ren wur­den auf­ge­for­dert, das Land zu ver­las­sen bzw. durf­ten als »Tole­rier­te« bei den Schutz­ju­den klei­ne Hilfs­diens­te leisten. 

Infol­ge der zwei­ten Tei­lung Polen-Litauens im Jahr 1793 wur­de auch Dan­zig Teil der preu­ßi­schen Mon­ar­chie und zur west­preu­ßi­schen Haupt­stadt. Obwohl die neu­en Herr­scher die bis­he­ri­ge restrik­ti­ve Poli­tik der Stadt for­mal unter­stütz­ten, wuchs die jüdi­sche Gemein­schaft an der Mott­lau, bis sie in den ers­ten Jah­ren des 19. Jahr­hun­derts knapp 800 Per­so­nen erreich­te (ca. 2 % aller Dan­zi­ger). Aus­schlag­ge­bend für die Wei­ter­ent­wick­lung des jüdi­schen Lebens in Dan­zig waren die Stadt­be­la­ge­run­gen durch fran­zö­si­sche bzw. rus­si­sche Trup­pen 1807 und 1813. Da wäh­rend­des­sen ein Groß­teil der vor­städ­ti­schen Bebau­ung zer­stört wur­de, tole­rier­ten die loka­len Behör­den den Umzug der Juden aus dem Dan­zi­ger Groß­raum in die Stadt. 

Wäh­rend sich Dan­zig als eine unter fran­zö­si­scher Auf­sicht gegrün­de­te Freie Stadt in einem recht­li­chen Kon­flikt zwi­schen den jahr­zehn­te­lan­gen republikanisch-autonomischen Frei­hei­ten und moder­nen Ver­fas­sungs­lö­sun­gen nach dem Mus­ter des revo­lu­tio­nä­ren Frank­reichs befand, führ­te Fried­rich Wil­helm III. im Rah­men der – im Nach­hin­ein als Stein-Hardenbergsche Refor­men bezeich­ne­ten – Gesetz­ge­bung am 19. Novem­ber 1808 die Städ­te­ord­nung und am 11. März 1812 das soge­nann­te Eman­zi­pa­ti­ons­edikt ein. Das ers­te Gesetz ermög­lich­te den Juden Zugang zu Stadt­bür­ger­rech­ten, womit das akti­ve und pas­si­ve Wahl­recht bei der kom­mu­na­len Selbst­ver­wal­tung ver­bun­den war. Das zwei­te Gesetz brach­te zwar kei­ne vol­le Gleich­be­rech­ti­gung (Eman­zi­pa­ti­on), garan­tier­te den Juden aber doch eine freie Wahl des Wohn­orts und die fast unein­ge­schränk­te Berufs­frei­heit. Als iden­ti­täts­stif­ten­der Rechts­akt for­der­te das Eman­zi­pa­ti­ons­edikt jüdi­sche Haus­vä­ter auf, fes­te Fami­li­en­na­men anzu­neh­men und für Ver­trä­ge und Han­dels­bü­cher kei­ne jüdi­schen Spra­chen (Hebrä­isch oder Jid­disch) zu ver­wen­den. Im Gegen­zug wur­den sie als »Ein­län­der« und »Staats­bür­ger« anerkannt.

Rück­bli­ckend bil­de­te das Eman­zi­pa­ti­ons­edikt den Aus­gangs­punkt des lan­gen Wegs, an des­sen Ende im Jahr 1871 den Juden die Gleich­be­rech­ti­gung mit den ande­ren deut­schen Bür­gern garan­tiert wur­de. Bis zu die­sem Zeit­punkt hat­te es über ein hal­bes Jahr­hun­dert lang immer wie­der Rück­schrit­te im Gleich­stel­lungs­pro­zess sowie zahl­rei­che Unklar­hei­ten bezüg­lich der Aus­le­gung der exis­tie­ren­den Vor­schrif­ten gege­ben. In Dan­zig wur­de etwa das Eman­zi­pa­ti­ons­edikt im Jahr 1814 ein­ge­führt – dies bestä­tig­te Fried­rich Wil­helm III. aber erst 18 Jah­re spä­ter end­gül­tig. Des Wei­te­ren stell­te die Regie­rung von Mari­en­wer­der in den 1840er Jah­ren fest, dass das Regle­ment von 1750 nach wie vor eine gesetz­li­che Grund­la­ge dar­stel­le, auch wenn vie­le von ihren Bestim­mun­gen seit lan­gem nicht mehr beach­tet wor­den seien.

Die Rechts­la­ge in Preu­ßen war in der ers­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts beson­ders kom­pli­ziert. Bezo­gen auf den Sta­tus der jüdi­schen Bevöl­ke­rung exis­tier­ten gleich­zei­tig nahe­zu 20 unter­schied­li­che Rege­lun­gen. Allein in West­preu­ßen gal­ten Son­der­be­stim­mun­gen für Dan­zig und für einen Teil des Mari­en­wer­der­schen Regie­rungs­be­zirks (und zwar für die Krei­se Kulm und Michel­au sowie die Stadt Thorn), der in den Jah­ren von 1807 bis 1815 dem Her­zog­tum War­schau ange­hört hat­te. Eine ange­sichts die­ser Lage oft kom­pli­zier­te Ent­schei­dungs­fin­dung, z. B. bei der Fra­ge, ob sich ein Jude in West­preu­ßen nie­der­las­sen dür­fe, ver­ein­fach­ten die Beam­ten gele­gent­lich, indem sie sich an der Her­kunft des Antrag­stel­lers ori­en­tier­ten. Es lässt sich in der ers­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts ein Mus­ter der amt­li­chen Pra­xis erken­nen, wonach bei­spiels­wei­se einem aus West­preu­ßen stam­men­den Juden unab­hän­gig von Geset­zes­än­de­run­gen eine Rück­kehr in die Pro­vinz sei­ner Eltern meis­tens erlaubt wur­de. Hin­ge­gen wur­de etwa einem aus dem Zaren­reich oder aus der preu­ßi­schen Pro­vinz Posen stam­men­den Juden ein sol­cher Umzug eher ver­wei­gert. Durch die­ses Vor­ge­hen wur­de der jüdi­sche West­preu­ße durch die regio­na­len Behör­den in gewis­ser Wei­se als »Hie­si­ger« aner­kannt – und, anders als dies jahr­hun­der­te­lang üblich gewe­sen war, nicht wie ein Frem­der behandelt.

Das innerjüdische Leben

Im Mit­tel­punkt des orga­ni­sier­ten inner­jü­di­schen Lebens stand die jüdi­sche Gemein­de (Kehi­la, Mehr­zahl: Kehi­lot). Sie schuf Bedin­gun­gen, die es ihren Mit­glie­dern ermög­lich­ten, nach dem Reli­gi­ons­ge­setz des Juden­tums zu leben. Sie war für Kul­tus und Reli­gi­ons­un­ter­richt, Wohl­tä­tig­keit und Ver­wal­tung der Gemein­de­ein­rich­tun­gen zustän­dig. Ihr Vor­stand bestand aus eini­gen in der loka­len jüdi­schen Gemein­schaft wert­ge­schätz­ten Män­nern, die für das Erfül­len der Gemein­de­auf­ga­ben eine von der Grö­ße und den finan­zi­el­len Mög­lich­kei­ten einer Kehi­la abhän­gi­ge Anzahl von Beam­ten beschäf­tig­ten. Der Rab­bi­ner fun­gier­te als Exper­te in Reli­gi­ons­an­ge­le­gen­hei­ten und betreu­te die loka­le Reli­gi­ons­schu­le. Der Kan­tor (Cha­zan) lei­te­te Got­tes­diens­te und ins­be­son­de­re in klei­ne­ren Kehi­lot erfüll­te er gleich­zei­tig die Auf­ga­be des Schäch­ters (Scho­ch­et), der die zum Ver­zehr zuge­las­se­nen Tie­re nach den jüdi­schen Spei­se­re­geln (Kasch­rut) schlach­te­te. Der Schul­be­dien­te (Scham­mes) betreu­te die Syn­ago­ge, rief Gemein­de­mit­glie­der zum Got­tes­dienst zusam­men und erfüll­te abhän­gig von kon­kre­ten Ver­ein­ba­run­gen auch klei­ne­re Auf­ga­ben, etwa als Bote zwi­schen dem Vor­stand und den Mit­glie­dern. Neben die­sen Kern­be­am­ten beschäf­tig­ten eini­ge Kehi­lot unter ande­rem auch einen Arzt, eine Kran­ken­schwes­ter, einen Leh­rer (Mela­med) oder einen Bestatter.

Eine grund­le­gen­de Bedeu­tung für das deut­sche Juden­tum im 19. Jahr­hun­dert hat­te die jüdi­sche Auf­klä­rung (Haska­la) und das sich lang­fris­tig dar­aus ent­wi­ckeln­de Reform­ju­den­tum. Im Kern die­ser geis­ti­gen Bewe­gung stand die His­to­ri­sie­rung der jüdi­schen Reli­gi­on, die Ein­füh­rung säku­la­rer Fächer ins Schul­cur­ri­cu­lum sowie eine grund­le­gen­de Wert­schät­zung der Ver­nunft in der Phi­lo­so­phie und im Den­ken gene­rell. Im Ver­lauf der Zeit kamen aus die­ser Bewe­gung immer öfter Stim­men, die eine äußer­li­che Anpas­sung an die Mehr­heits­ge­sell­schaft, etwa durch die Ableh­nung des Jid­di­schen als All­tags­spra­che, ver­lang­ten. In West­preu­ßen ent­stan­den zwar kei­ne bekann­ten Haskala-Zentren – wie jene in Ber­lin, Königs­berg oder Bres­lau –, trotz­dem waren die Aus­wir­kun­gen der Auf­klä­rung auf die Reli­gi­ons­aus­übung und Lebens­wei­se jüdi­scher West­preu­ßen durch­aus bemerk­bar. All­mäh­lich wur­den etwa deutsch­spra­chi­ge Pre­dig­ten in die syn­ago­ga­len Got­tes­diens­te ein­ge­führt, wobei sol­che Anspra­chen bis in die 1840er Jah­re hin­ein nur in Elb­ing und Preu­ßisch Star­gard regel­mä­ßig statt­fan­den. Zu die­ser Zeit kon­sta­tier­te ein west­preu­ßi­scher Beam­ter, es lie­ßen sich in der Pro­vinz zwei reli­giö­se Strö­mun­gen – die tra­di­ti­ons­ge­bun­de­ne und die reform­ori­en­tier­te – erken­nen, aber kei­ne von ihnen domi­nie­re zah­len­mä­ßig die andere.

Eine weit­ge­hen­de äußer­li­che Anpas­sung des jüdi­schen Bür­ger­tums an die mehr­heit­li­che Kul­tur fand bereits in der ers­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts statt. In Dan­zig traf man zu die­ser Zeit jüdi­sche Kauf­leu­te, die sich im äuße­ren Erschei­nungs­bild von ihren christ­li­chen Zunft­kol­le­gen nicht unter­schie­den. Die deut­sche Spra­che bestimm­te ihren All­tag, und wenn die Aus­spra­che noch manch­mal ihre jüdi­sche Her­kunft erken­nen ließ, war auch die­se Beson­der­heit in der her­an­wach­sen­den Gene­ra­ti­on bereits ver­schwun­den. Gleich­zei­tig war es in den Ort­schaf­ten, in denen regel­mä­ßig pol­ni­sche Unter­neh­mer ver­kehr­ten, nicht unüb­lich, tra­di­tio­nell geklei­de­te Juden, etwa im Kaf­tan, anzu­tref­fen, die als Jiddisch-Muttersprachler Deutsch ledig­lich als Fremd­spra­che beherrsch­ten. Für einen von Vor­ur­tei­len gelei­te­ten Beob­ach­ter mute­ten die in der Dan­zi­ger Nie­der­stadt in den 1830er Jah­ren zu beob­ach­ten­den pol­ni­schen Juden sogar »asia­tisch« an.

Auf­grund von Han­dels­be­zie­hun­gen mit dem König­reich Polen blie­ben die Ortho­do­xen bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts eine bedeu­ten­de Min­der­heit inner­halb der Dan­zi­ger Juden­schaft. Bis 1883 exis­tier­ten hier neben­ein­an­der sogar fünf Kehi­lot, eine Beson­der­heit, die zu die­ser Zeit nir­gend­wo sonst im deutsch­spra­chi­gen Raum zu fin­den war. Um die Ver­ei­ni­gung der Gemein­den vor­an­zu­trei­ben, ver­pflich­te­te sich die reform­ori­en­tier­te Mehr­heit, auch in den kom­men­den Jahr­zehn­ten ein ortho­do­xes Gebets­haus zu unter­hal­ten, das ins­be­son­de­re durch älte­re Dan­zi­ger besucht wurde.

Auch wenn die Ver­brei­tung der Ortho­do­xie in West­preu­ßen noch zu erfor­schen wäre, lässt sich anneh­men, dass sie vor allem im süd­li­chen Teil der Pro­vinz län­ger domi­nant blieb. Dies beruh­te auf den Bezie­hun­gen der dor­ti­gen Juden­hei­ten mit ihren Glau­bens­ge­nos­sen in der Pro­vinz Posen, die für ihre tra­di­ti­ons­ge­bun­de­ne Aus­rich­tung bekannt waren.

Ins­ge­samt las­sen sich im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert bei den Juden­schaf­ten West­preu­ßens ein­deu­ti­ge Säku­la­ri­sie­rungs­ten­den­zen beob­ach­ten. Aus Dan­zig wur­de über Fami­li­en berich­tet, die die Regeln der Kasch­rut ent­we­der ganz auf­ga­ben oder sie nur zuhau­se prak­ti­zier­ten. Der Dan­zi­ger Rab­bi­ner Max Freu­den­thal soll im Jahr 1906 sogar das Ver­bot des Schwei­ne­fleisch­ver­zehrs rela­ti­viert haben. Auch der Besuch von Gemein­de­ein­rich­tun­gen, die als Merk­ma­le der Fröm­mig­keit gal­ten, wur­de sel­te­ner. Über das zur ritu­el­len Rei­ni­gung die­nen­de Bad (Mik­we) ver­füg­ten im Jahr 1906 bei­spiels­wei­se rund 60 % (23 von 39) der Kehi­lot West­preu­ßens, ein Anteil, der deut­lich gerin­ger war als in der Pro­vinz Posen (mit 80 %), zugleich aller­dings auch höher als der gesamt­preu­ßi­sche Anteil von 45 %.

Soziale Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden

Da die Nie­der­las­sung von Juden in West­preu­ßen vor­nehm­lich aus wirt­schaft­li­chen Grün­den erfolg­te, war das Berufs­le­ben ein Bereich, in dem es an ers­ter Stel­le zu regel­mä­ßi­gen Kon­tak­ten zwi­schen Juden und Nicht­ju­den kam. Der Han­del war das gan­ze 19. Jahr­hun­dert hin­durch eine vor­herr­schen­de Tätig­keit der Juden. Des Wei­te­ren ver­dien­te etwa ein Fünf­tel bis ein Drit­tel der jüdi­schen Erwerbs­tä­ti­gen sei­nen Unter­halt in Hand­werk und Indus­trie. Ins­be­son­de­re in den süd­li­chen Regio­nen der Pro­vinz beschäf­tig­te auch die Schank­wirt­schaft eini­ge weni­ge Pro­zent von jüdi­schen Erwach­se­nen. Mit der Aus­for­mung des moder­nen Bür­ger­tums nah­men zudem zahl­rei­che jüdi­sche Kauf­leu­te, Ban­kiers, Fabrik­be­sit­zer und Geschäfts­füh­rer als Wirt­schafts­bür­ger am gesell­schaft­li­chen Leben teil. Dar­über hin­aus wid­me­ten sich jüdi­sche Auf­stei­ger im Bil­dungs­bür­ger­tum vor­nehm­lich den frei­en Beru­fen und gehör­ten bei­spiels­wei­se als Ärz­te und Rechts­an­wäl­te zu den intel­lek­tu­el­len und finan­zi­el­len Eli­ten ihrer loka­len Gemeinschaften.

Grund­sätz­lich waren die jüdi­schen West­preu­ßen meis­tens als Selbst­stän­di­ge tätig. Ein typi­scher Händ­ler war stets bemüht, sei­nen Laden so lan­ge wie mög­lich zu behal­ten, ehe er sich als Ange­stell­ter oder Arbei­ter hät­te enga­gie­ren las­sen. Die­sem Fest­hal­ten am eige­nen Geschäft lag eine Über­zeu­gung zugrun­de, nach der ein eige­nes Unter­neh­men mate­ri­el­le Siche­rung in Kri­sen­jah­ren garan­tie­re. Dar­über hin­aus ermög­lich­te es die Ein­hal­tung jüdi­scher Fei­er­ta­ge und schütz­te vor Anti­se­mi­tis­mus im Berufs­le­ben, dem jüdi­sche Ange­stell­te und Arbei­ter unter Umstän­den hät­ten begeg­nen müssen.

Jüdi­sche Vier­tel oder Shtetl, wie die­se aus eini­gen mit­tel­al­ter­li­chen Städ­ten bzw. ost­eu­ro­päi­schen Regio­nen bekannt sind, gab es im West­preu­ßen des 19. Jahr­hun­derts nicht, auch wenn es gewis­se Nie­der­las­sungs­mus­ter gab. Die Kauf­leu­te und Händ­ler unter den jüdi­schen West­preu­ßen waren häu­fig dar­an inter­es­siert, im Stadt­zen­trum, in der Nähe des Mark­tes zu woh­nen. Dar­über hin­aus leb­ten Juden ver­mehrt in unmit­tel­ba­rer Nähe der Syn­ago­ge oder ande­rer Gemeindeeinrichtungen.

Soweit bekannt, waren die Bezie­hun­gen zwi­schen jüdi­schen und christ­li­chen Stadt­be­woh­nern durch typi­sche nach­bar­schaft­li­che The­men, Freund­schaf­ten und Feind­schaf­ten – und gewiss auch durch den Anti­se­mi­tis­mus geprägt. Ins­be­son­de­re von letz­te­rem Phä­no­men zeu­gen zahl­rei­che his­to­ri­sche Quel­len. Neben indi­vi­du­el­len anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­len im öffent­li­chen Raum gab es im West­preu­ßen des 19. Jahr­hun­derts eini­ge Aus­brü­che der Mas­sen­ge­walt gegen Juden. In Dan­zig kamen die ableh­nen­den Hal­tun­gen gegen­über dem Eman­zi­pa­ti­ons­pro­zess in Aus­schrei­tun­gen zum Aus­druck, die am wich­tigs­ten jüdi­schen Fei­er­tag, dem Jom Kip­pur, im Sep­tem­ber 1819 statt­fan­den. Dies lässt sich im Nach­hin­ein in eine Wel­le anti­jü­di­scher Kra­wal­le, bekannt als »Hep-Hep-Unruhen«, ein­ord­nen, die von Som­mer bis Herbst 1819 in einer Rei­he deut­scher Städ­te, dar­un­ter in Würz­burg, Hei­del­berg, Frank­furt am Main und Ham­burg, her­vor­ge­ru­fen wor­den sind. Zwei Jah­re spä­ter kul­mi­nier­ten in Dan­zig die auch schon für frü­he­re Jah­re nach­ge­wie­se­nen Feind­se­lig­kei­ten zwi­schen den Aus­stel­lern und der loka­len Bevöl­ke­rung beim jähr­lich ver­an­stal­te­ten Dominik-Markt in drei­tä­gi­gen anti­jü­di­schen Über­grif­fen. Wäh­rend der bei­den Aus­brü­che wur­den meh­re­re Juden ver­letzt, etli­che ihrer Woh­nun­gen beschä­digt, eini­ge Geschäf­te geplün­dert und die von den jüdi­schen Händ­lern für den Jahr­markt auf­ge­stell­ten Kram­lä­den kom­plett zer­stört. Die man­geln­de Bericht­erstat­tung über ähn­li­che Vor­fäl­le in den dar­auf­fol­gen­den Jah­ren lässt ver­mu­ten, dass sich die Situa­ti­on wäh­rend des Dominik-Jahrmarkts wie­der beruhigte.

Wei­te­re Aus­schrei­tun­gen die­ses Aus­ma­ßes ereig­ne­ten sich in West­preu­ßen erst 1881, als sich die anti­jü­di­sche Mas­sen­ge­walt, aus­ge­hend von der Pro­vinz Pom­mern, gen Osten und Süden ver­brei­te­te. Davon erfasst wur­den im Juli und August unter ande­rem die Städ­te Ham­mer­stein (Kreis Schloch­au), Jas­trow (Kreis Deutsch Kro­ne) und Konitz. Beglei­tet wur­den die Aus­schrei­tun­gen zwar durch eine neu­ar­ti­ge, sich aus der Ras­sen­leh­re spei­sen­de anti­se­mi­ti­sche Pro­pa­gan­da, das Ziel der Angrif­fe war den­noch vor allem der jüdi­sche Besitz, weni­ger die Men­schen selbst.

In den dar­auf­fol­gen­den Jahr­zehn­ten stieß ins­be­son­de­re die in ihren Ursprün­gen mit­tel­al­ter­li­che Ritu­al­mord­le­gen­de auf brei­te Reso­nanz in Deutsch­land, dar­un­ter nicht zuletzt in West­preu­ßen. Beschul­di­gun­gen, dass Juden christ­li­che Kin­der für ritu­el­le Zwe­cke miss­han­del­ten, wur­den 1894 in Berent, 1900 in Konitz, 1902 in Schloch­au und 1903 in Fla­tow vor­ge­bracht. Ins­be­son­de­re der Konit­zer Fall lös­te ein reichs­wei­tes Echo aus. Ein bru­ta­ler Mord an dem Gym­na­si­as­ten Ernst Win­ter im März 1900, von des­sen zer­stü­ckel­ter Lei­che spä­ter ein­zel­ne Kör­per­tei­le auf­ge­fun­den wur­den, beflü­gel­te die Fan­ta­sie der loka­len Bevöl­ke­rung und der anti­se­mi­ti­schen Publi­zis­ten. Als Resul­tat griff der empör­te Mob sowohl in Konitz als auch in den benach­bar­ten Land­krei­sen mehr­mals die jüdi­sche Bevöl­ke­rung, deren Geschäf­te und Gebets­häu­ser an. Die Konit­zer Syn­ago­ge blieb nur dank mili­tä­ri­schem Schutz von der Zer­stö­rung verschont.

Unge­ach­tet sol­cher feind­li­chen Vor­komm­nis­se enga­gier­ten sich die west­preu­ßi­schen Juden das gan­ze 19.  Jahr­hun­dert hin­durch im poli­ti­schen Leben ihrer loka­len Gemein­schaf­ten. Schon direkt nach der Ein­füh­rung der Städ­te­ord­nung 1808 wur­den die ers­ten jüdi­schen West­preu­ßen als Stadt­ver­ord­ne­te und Magis­trats­mit­glie­der gewählt. Die Ver­tre­tung der Juden in den städ­ti­schen Selbst­ver­wal­tun­gen war ins­be­son­de­re in den Ort­schaf­ten mit einer gro­ßen jüdi­schen Min­der­heit stark, z. B. in Fla­tow, Kro­jan­ke oder Zem­pel­burg. Dort stell­ten sie mit bis zu einem Drit­tel aller städ­ti­schen Abge­ord­ne­ten eine bedeu­ten­de poli­ti­sche Macht dar. In den Städ­ten mit gerin­ge­rem Anteil von Juden an der Gesamt­be­völ­ke­rung fun­gier­ten sie eher als ver­ein­zel­te, oft­mals pro­mi­nen­te Indi­vi­du­en, die in der loka­len Selbst­ver­wal­tung nicht aus­schließ­lich die Inter­es­sen der jüdi­schen Bewoh­ner, son­dern auch die der ande­ren Bür­ger ver­tra­ten. Wäh­rend des Deut­schen Kai­ser­reichs beklei­de­ten etwa rund 20 jüdi­sche Dan­zi­ger die Ämter von Stadt­ver­ord­ne­ten und Magistratsmitgliedern.

Außer der poli­ti­schen Tätig­keit enga­gier­ten sich die jüdi­schen Eli­ten West­preu­ßens auch sozi­al, kul­tu­rell und wohl­tä­tig. Zu den größ­ten gemein­nüt­zi­gen Ein­rich­tun­gen in der Pro­vinz gehör­ten etwa das Aschen­heim­sche Alters­heim in Dan­zig (gegrün­det 1894), das Israe­li­ti­sche Alters­heim in Thorn (1902) oder das Cas­per Lach­mann­sche Provinzial-Waisenhaus in Grau­denz (1903). In Dan­zig erfreu­te sich ins­be­son­de­re Les­ser Giełd­ziń­ski als lang­jäh­ri­ges Vor­stand­mit­glied der jüdi­schen Gemein­de, Wohl­tä­ter und Kul­tur­mä­zen eines beson­de­ren Rufs. In der loka­len Gemein­schaft war er vor allem durch sei­ne impo­san­te Samm­lung der Alt­dan­zi­ger Kunst und Arte­fak­te sowie als Grün­der eines der ers­ten Dan­zi­ger Muse­en bekannt. In den jüdi­schen Krei­sen gewann sei­ne »Abwehr­ak­ti­on« im Jahr 1890 einen nahe­zu legen­dä­ren Cha­rak­ter: Als selbst­be­wuss­ter Preu­ße scheu­te Giełd­ziń­ski sich nicht, einen Ober­leut­nant öffent­lich zu ohr­fei­gen, nach­dem er erfah­ren hat­te, dass der Letz­te­re sei­nen im Mili­tär die­nen­den Sohn dis­kri­mi­nie­rend behan­delt hat­te. Dies war zwar eine radi­ka­le Hand­lungs­wei­se, aber den­noch nur eine von vie­len ande­ren Aus­drü­cken der Iden­ti­tät jüdi­scher Bür­ger als loka­ler Patrio­ten, Preu­ßen und Deutscher.

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Das 19. Jahr­hun­dert war für die west­preu­ßi­schen Juden eine Zeit, in der sich auch ihre Lebens­wei­sen vor dem Hori­zont der Moder­ne wan­del­ten. Ihren christ­li­chen Nach­barn recht­lich gleich­ge­stellt, ergrif­fen sie Mög­lich­kei­ten, in lokal­po­li­ti­schen, wirt­schaft­li­chen, sozia­len und kul­tu­rel­len Sphä­ren nach außen zu wir­ken und ihre loka­len Gemein­schaf­ten zu beein­flus­sen. Die zuvor alle Berei­che des Lebens bestim­men­de Reli­gi­on begrif­fen nun die meis­ten von ihnen als eine Kon­fes­si­on, als eine Eigen­schaft, die vor allem im pri­va­ten Bereich zum Aus­druck kom­men soll­te. Damit ver­än­der­ten sich zugleich die Funk­tio­nen jüdi­scher Gemein­den: von »Schüt­zern« jüdi­scher Fröm­mig­keit im All­tag zu kari­ta­ti­ven Orga­ni­sa­tio­nen und Bewah­rern der Tradition.

Von nicht­jü­di­scher Sei­te wur­de die­sem Wan­del einer­seits mit Wohl­wol­len begeg­net, ande­rer­seits sorg­ten die neu­en, auf Ras­sen­leh­ren bezo­ge­nen For­men des Anti­se­mi­tis­mus unter den jüdi­schen West­preu­ßen für ein – mal öfter, mal sel­te­ner vor­kom­men­des – Gefühl der Nicht­zu­ge­hö­rig­keit zur Mehr­heits­ge­sell­schaft. Dies waren die untrüg­li­chen Vor­bo­ten einer Ent­wick­lung, inner­halb derer der Ers­te Welt­krieg und die dar­auf­fol­gen­den Jah­re die sozia­le Kon­struk­ti­on der jüdisch-christlichen Ver­hält­nis­se zurück in eine über­wun­den geglaub­te Kri­se führte.


Weiterführende Literatur

  • Max Asch­ke­witz: Zur Geschich­te der Juden in West­preus­sen, Mar­burg 1967.
  • Miłosła­wa Borzyszkowska-Szewczyk / Chris­ti­an Plet­zing (Hrsg.): Jüdi­sche Spu­ren in der Kaschub­ei. Ein Rei­se­hand­buch, Mün­chen 2010.
  • Micha­el Bro­cke / Mar­gret Heit­mann / Harald Lor­dick (Hrsg.): Zur Geschich­te und Kul­tur der Juden in Ost- und West­preu­ßen, Hil­des­heim / Zürich / New York 2000.
  • Ger­hard Salin­ger: Zur Erin­ne­rung und zum Geden­ken. Die eins­ti­gen jüdi­schen Gemein­den West­preu­ßens, 3 Bde., New York 2009.
  • Micha­el K. Schulz: Sozi­al­ge­schich­te der Dan­zi­ger Juden im 19. Jahr­hun­dert, Ber­lin 2020.
  • Michał Szulc: Eman­zi­pa­ti­on in Stadt und Staat. Die Juden­po­li­tik in Dan­zig 1807–1847, Göt­tin­gen 2016.