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In die Heimat gefahren …

Rezension zu »EINGRAVIERT« von Katharina Elliger

Wer sich jemals auf­ge­macht hat, in die Hei­mat zu fah­ren – sei es auch in die Hei­mat der Eltern oder Groß­el­tern – der wird wahr­schein­lich den Drang ver­spürt haben, davon zu berich­ten, eini­ge Gedan­ken zu Papier zu brin­gen oder wenigs­tens Fotos zu machen. Die Preis­ga­be der eige­nen Gedan­ken, Fra­gen, Erin­ne­run­gen – all das Berüh­ren­de in Wor­te zu fas­sen, ist aber nicht einfach.

Bereits das Titel­bild von  »EINGRAVIERT« lässt ahnen: Hier geht es um ein Flücht­lings­schick­sal. Schon beim ers­ten Blät­tern wird der Leser gefan­gen genom­men davon, was die Autorin an Erin­ne­run­gen und Emo­tio­nen beim Besuch ihrer Hei­mat offen zusam­men­legt. Sie ent­hüllt alles, was sie seit ihrer Kind­heit erlebt und über­legt hat, wodurch ihr Leben geprägt wur­de wie eine Mün­ze oder wie ein Stein, der geformt und ein­ge­kerbt ist. Dazu gehö­ren Ent­schlos­sen­heit und auch Mut, Wor­te zu fin­den, die nicht zurück­ge­nom­men wer­den kön­nen, wenn sie ein­mal gedruckt sind.

Der Krieg, ihre Flucht 1945 aus Ober­schle­si­en, die Rück­kehr in ihr Haus, die Besat­zung durch die Sowjets, die Inter­nie­rung, Zwangs­ar­beit und schließ­lich die Ver­trei­bung durch die Polen, die inzwi­schen in ihrem Hei­mat­dorf leben – all das hat­te sich bei ihr  EINGRAVIERT, und sie konn­te es nicht mehr ändern. Damit hader­te sie und mach­te sich auf einen schwe­ren Weg, den sie in die­sem zwei­ten Buch span­nend darstellt.

Ein letz­tes Mal reist sie direkt in ihr Hei­mat­dorf, in dem sie ihre Kind­heit ver­bracht und Gebor­gen­heit erlebt hat. Sie woll­te schon längst zu einem Ergeb­nis kom­men, zu einer Bewer­tung ihres Schick­sals. Sie war schon drei­mal in der Hei­mat gewe­sen, aber die war »ver­stüm­melt«, beschä­digt, getrof­fen von den schwe­ren Kämp­fen an der Front und fremd. Oder war sie selbst fremd in ihrer Hei­mat? Sie woll­te wis­sen, »ob ihr Dorf noch Her­ber­ge für sie sein konn­te oder ob sie dort her­aus­ge­fal­len war für immer.«

Sie plant, zehn Tage dort zu ver­brin­gen, und wohnt pri­vat bei einer deut­schen Fami­lie. Sie hält die­se Tage durch und geht alle Wege der Kind­heit und der Flucht, der Inter­nie­rung und der Ver­trei­bung, erin­nert sich an ihre Fami­lie, ihre Freun­de und Nach­barn, denkt nach über das dama­li­ge Leben im Ort. Sie über­prüft ihre Erin­ne­run­gen mit­hil­fe von Stan­dard­wer­ken ihr bekann­ter His­to­ri­ker und Zeit­zeu­gen und bie­tet im Anhang die poli­ti­schen Fak­ten, die Lage im Krieg und die Nach­kriegs­zeit, ihre regio­na­le Hei­mat betreffend.

Ihr war immer klar, dass sie schö­ne, aber auch schlim­me Erleb­nis­se wür­de ver­kraf­ten müs­sen. Wie wür­de sie die­se Situa­tio­nen ver­ar­bei­ten und meistern?

Sei­ten­lang könn­te ich zitie­ren – jeder Absatz wur­de durch­lebt und ein­ge­fügt in ihre Erkennt­nis­se, ihre Gefüh­le und Gedan­ken. Die Autorin ist Ger­ma­nis­tin und Theo­lo­gin und wägt ab, wie bibli­sche Gestal­ten mit ihrem Schick­sal hader­ten, sie stellt Glau­bens­ri­tua­le in Fra­ge und ringt um das Ver­ste­hen ihres eige­nen Lebens im Lich­te Gottes.

Sie wird nicht mehr rei­sen in die­ses ihr nun frem­de Land, in dem sie sich aus­kennt, jeden Weg nach­voll­zie­hen kann. Sie scheut sich nicht, auch die grau­sa­men Erin­ne­run­gen gedank­lich zuzu­las­sen und nach­zu­emp­fin­den, aber sie lässt sie nun zurück, so dass sie sie nicht mehr bedrän­gen oder bedro­hen können.

Katha­ri­na Elli­ger beschreibt wun­der­bar die Orte, die Gebäu­de, die Land­schaft, die Natur, den Wind und das Wet­ter, und sie erklärt ihre Bedeu­tung im Rück­blick auf die von ihr erleb­te Geschich­te. Sie erklärt ver­ständ­lich und nach­voll­zieh­bar, war­um für sie die Hei­mat ver­lo­ren ist und sie damit abschlie­ßen kann. Es gibt nicht vie­le, die so gut in Wor­te fas­sen kön­nen, was bei Besu­chen in der Hei­mat so beun­ru­hi­gend sein kann.

Ich zitie­re dazu aus einem Brief der Autorin:

»Wenn die Zeit­zeu­gen feh­len wer­den, wird es schwer, viel­leicht sogar unmög­lich sein, die Fak­ten und ihr Ver­ständ­nis unge­fil­tert zu ver­mit­teln. Ich kann nur die Wahr­heit sagen, jeden­falls die, die ich bezeu­gen kann. Ich muss­te die­ses Buch noch schrei­ben, um Zeug­nis abzu­le­gen, was der Krieg mit mir (und wohl mit vie­len) gemacht hat und was die Erin­ne­rung bedeutet.«

 Sibyl­le Dreher

Katha­ri­na Elli­ger
EINGRAVIERT – Reflek­tier­te Erin­ne­run­gen an Flucht und Ver­trei­bung aus Schle­si­en
Aschendorff-Verlag, Müns­ter 2015, gebun­den, 120 Sei­ten
€ 19,90