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In den Blick genommen

Ulrike Draesner: Die Verwandelten

München: Penguin Random House, 2023

Wer einen eher flüch­ti­gen Blick auf den neu­en Roman von Ulri­ke Draes­ner wirft, meint viel­leicht, der Titel lau­te Die Ver­wand­ten oder auch Die Ver­wun­de­ten – Asso­zia­tio­nen, die zufäl­lig erschei­nen mögen und doch sehr tref­fend sind: Wie­der hat die viel­fach aus­ge­zeich­ne­te Schrift­stel­le­rin eine Fami­li­en­ge­schich­te her­aus­ge­bracht, zugleich nimmt sie sich – eben­falls zum wie­der­hol­ten Male – der The­men Hei­mat, Krieg und Nach­krieg, Flucht und Ver­trei­bung, Gewalt und der Nach­wir­kun­gen sol­cher Erschüt­te­run­gen und Erfah­run­gen an; denn denen, die »ver­wan­delt« dem Grau­en ent­kom­men sind, feh­len die Wor­te, davon zu erzäh­len – und Ulri­ke Draes­ner gibt ihnen ihre Stim­men zurück. Kon­se­quent ver­folgt sie dabei aus­schließ­lich weib­li­che Per­spek­ti­ven, ver­knüpft mit­ein­an­der ver­wo­be­ne Ein­zel­ge­schich­ten, prä­sen­tiert Puz­zle­stü­cke, über­rascht und irri­tiert, indem zwi­schen Iden­ti­tä­ten, Spra­chen und Län­dern gewech­selt wird.

Das Spie­gel­bild in den Schau­fens­tern zeigt mir eine Frau, die älter ist, als ich es von mir ­glau­ben kann. Außen 70-und-und. Und im Kopf? Wach­se ich zurück ins Kind?

Man hört, dass das den Alten pas­siert. Dass das Gehirn sich umsor­tiert und die Kind­heits­bil­der aus den tiefs­ten Schü­ben zieht. Mag sein. Ich – gebe es zu. Auch des­we­gen bin ich hier. Ich ban­ne die Ver­gan­gen­heit mit der Stadt von heute.

Der Stim­men­reich­tum des Romans setzt in der Gegen­wart ein, mit der allein­er­zie­hen­den Anwäl­tin Kinga, die sich nach dem Tod ihrer Mut­ter her­aus­ge­for­dert sieht durch die Tat­sa­che, dass die sei­ner­zeit in einem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Lebensborn-Heim Gebo­re­ne, die spä­ter von einer Münch­ner Fami­lie adop­tiert wor­den war, sich in ihren letz­ten Lebens­jah­ren auf die Suche nach ihren schle­si­schen Wur­zeln gemacht und in der alten Hei­mat Bres­lau eine Woh­nung erwor­ben hat­te – die nun als Erbe der Toch­ter zufällt. Kinga, die den »Nebel­kin­dern« zuge­hört, jenen, deren Eltern sich nach dem Krie­ge in Schwei­gen hüll­ten, lässt sich eben­so über­rascht wie neu­gie­rig auf ihre unbe­kann­te Fami­li­en­ge­schich­te ein, um in Ver­wir­rung gera­te­ne Lebens­li­ni­en zu ent­zer­ren und schließ­lich sich selbst von den Schat­ten der Ver­gan­gen­heit zu befrei­en. Doch das letz­te Ange­bot der Mut­ter birgt Stol­per­fal­len, vor allem die Ent­de­ckung einer »Neben­fa­mi­lie« wirft zahl­rei­che neue Fra­gen auf. Zugleich erfährt Kinga eine uner­war­te­te Annä­he­rung an die Stadt und an den ihr bis dahin frem­den Fluss, die Oder, der ihre Fan­ta­sie anspricht und Sehn­süch­te weckt.

Was für eine Geschich­te das wird? Die Haupt­fi­gur ent­deckt: Zuhau­se ist, wo man auf­bricht. Zuhau­se war ein Anfang. Im Lau­fe des Lebens geht das unter. Aber ver­liert sich nicht.

Bevor Ali­s­sa, King­as Mut­ter, von natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vorzeige-Adoptiveltern aus­ge­wählt wird, erlebt sie als gedul­de­te Toch­ter des Dienst­mäd­chens Ade­le eine – wenn­gleich brü­chi­ge – Fami­li­en­idyl­le im Hau­se des Thea­ter­re­gis­seurs Marolf Vale­ri­us. Die­ser, beschrie­ben als »Weich­ling, Halb­künst­ler, Pan­tof­fel­held«, ein »Frau­en­mann«, ver­strickt in Frau­en­ge­schich­ten, glän­zend nur im Thea­ter, lässt sich aus­nut­zen und nutzt aus, endet im Volks­sturm, als die Kriegs­wal­ze über Bres­lau hin­weg­zieht. Mut­ter Else Vale­ri­us und Toch­ter Reni flüch­ten im Win­ter 1945 vor der her­an­rü­cken­den Roten Armee, keh­ren zurück nach end­lo­sen Wochen vol­ler Grau­sam­keit und Ver­lo­ren­heit. Wie ein Wun­der erscheint es, dass die Fami­li­en­mit­glie­der wie­der zusam­men­fin­den, doch schon wei­sen die neu­en pol­ni­schen Macht­ha­ber alle aus, die Deut­sche sind. Reni bleibt allein in der völ­lig zer­stör­ten Stadt zurück – haben die Eltern sie auf­ge­ge­ben? Oder hat sie sich ent­schie­den zu blei­ben? Denn Reni weiß, sie ist kei­ne »Flüch­te­rin«, son­dern eine »Oder­men­schin«, sie kann nur an einem Ort zuhau­se sein, in Bres­lau, nun Wro­cław. Nach­dem die Behör­den schon ihren Aus­weis ein­ge­zo­gen hat­ten, gelingt es ihr, neue Papie­re zu bekom­men, pol­ni­sche Papie­re, die aus Rena­te Vale­ri­us Wale­ria Kos­zyk machen: »Denn das ist mei­ne Idee: Wenn ich eine ande­re wer­de, wer­de ich frei.«

Jeder muss­te lügen. Lügen erhiel­ten einem das Leben.

Der Iden­ti­täts­wech­sel bestimmt fort­an ihr offi­zi­el­les Leben, Ein­sam­keit und Trau­er um die ver­lo­re­nen Eltern muss sie mit sich allein aus­ma­chen, Ver­ständ­nis kann sie im pol­ni­schen Umfeld nicht erwar­ten, im Gegen­teil sind Vor­sicht und Ver­schwie­gen­heit lebens­not­wen­di­ge Beglei­ter ihrer freiwillig-unfreiwilligen Ver­wand­lung. – Die­se dra­ma­ti­sche Bio­gra­fie erforscht Kinga Jahr­zehn­te spä­ter mit Unter­stüt­zung der Polin Doro und schließ­lich auch deren sprö­der Mut­ter Wal­la selbst, zugleich kommt die Deut­sche dabei ihren eige­nen schle­si­schen Wur­zeln näher – und Stück für Stück der eige­nen, lan­ge so frem­den Mutter.

Auch Ulri­ke Draes­ner hat fami­liä­re Wur­zeln in Schle­si­en, zu der Figur der Wal­la und dem ent­spre­chen­den Erzähl­strang reg­te sie jedoch die pol­ni­sche Ver­le­ge­rin Hali­na Simon an. Wie die Roman­prot­ago­nis­tin wan­del­te sich Simons Mut­ter im Bres­lau der Nach­kriegs­zeit von der Deut­schen zur Polin, leb­te in der Ille­ga­li­tät, immer in der Angst, ihre wah­re Iden­ti­tät könn­te auf­ge­deckt wer­den. So bestim­mend, so nach­hal­tig war die­se Angst, dass Toch­ter Hali­na erst als erwach­se­ne Frau erfuhr, dass ihre Mut­ter ursprüng­lich eine Deut­sche gewe­sen ist. Im Ver­bor­ge­nen aber wirk­te das Ver­schwie­ge­ne, das Dunk­le, und bestimm­te nicht nur das Ver­hält­nis von Mut­ter und Toch­ter. In der Schrift­stel­le­rin Ulri­ke Draes­ner eine sen­si­ble Zuhö­re­rin gefun­den zu haben, die den Schmer­zen der Frau­en nach­spürt und die Trau­ma­ta der Töch­ter kennt, ermu­tig­te Hali­na Simon, ihr die Geschich­te der Mut­ter anzu­ver­trau­en. »Das, was die Gene­ra­ti­on der Kin­der der Kriegs­kin­der erlebt, das ähnelt ein­an­der, egal, ob man eine Polin ist oder eine Deut­sche«, kon­sta­tier­te Simon, wäh­rend Draes­ner den von Natio­na­li­tä­ten unab­hän­gi­gen Grau­be­reich zwi­schen Spra­che und Schwei­gen auf­zu­hel­len ver­sucht, um den »Ver­wan­del­ten« end­lich eine Stim­me zu verleihen.

Draes­ners Roman for­dert sei­ne Leser und Lese­rin­nen her­aus – in sei­ner kom­ple­xen Kon­struk­ti­on, mit wech­seln­den Per­spek­ti­ven, in sei­nen sprach­li­chen Beson­der­hei­ten: mit Sprün­gen zwi­schen schle­si­schen Aus­drü­cken, pol­ni­schen Bro­cken, deut­scher Umgangs­spra­che, frag­men­ta­ri­schen Erzähl­ele­men­ten, ein­ge­streu­ten lyri­schen Akzen­ten, und nicht zuletzt auch in der inhalt­li­chen Ein­dring­lich­keit. So inten­siv und empa­thisch die Autorin den Bio­gra­fien ihrer Prot­ago­nis­tin­nen folgt, so wenig gelingt es ihr aller­dings (mit einer meta­pho­ri­schen Anlei­he bei Til­man Röh­rig), das »Kleid«, das sie ihnen über­streift – die Autorin selbst spricht von Schutz­hül­len und von Foli­en –, zu vari­ie­ren: Alle Frau­en­fi­gu­ren, unab­hän­gig von ihrer Her­kunft, ihrem Alter und ihren Lebens­er­fah­run­gen, zeich­net Draes­ner in ver­gleich­ba­rer Wei­se als stark und unab­hän­gig, an ihrer Rol­le als Toch­ter eben­so zwei­felnd wie wach­send, wider­stän­dig einer durch männ­li­che Gewalt gepräg­ten Welt gegenüber.

Mehr noch als in allen frü­he­ren Wer­ken spie­gelt sich in den »Ver­wan­del­ten« die Per­son Ulri­ke Draes­ner wider, mit ihren Ideen, Gedan­ken, Fra­gen, Sor­gen. Nicht zufäl­lig ist Kinga – eben­so wie Draes­ner selbst – eine allein­er­zie­hen­de Mut­ter einer dun­kel­häu­ti­gen Toch­ter. Und viel­leicht deu­tet der pol­ni­sche Vor­na­me der suchen­den Prot­ago­nis­tin des Romans auf eine noch enge­re Bin­dung zu Schle­si­en und Polen, als die Autorin sie bis­lang aus­le­ben konn­te. Ver­wand­lun­gen, Irrun­gen, Ver­let­zun­gen, die Frau­en im 20. Jahr­hun­dert erle­ben und durch­ste­hen muss­ten, beson­ders jene, die Fol­gen von Ideo­lo­gie und Krieg waren, bezieht Draes­ner ein, sucht sie zu erläu­tern und zu ver­ste­hen, um sich selbst ver­ste­hen zu kön­nen. Das wird sprach­ge­wal­tig und kunst­voll umge­setzt, doch hät­te dem Werk an man­cher Stel­le eine Straf­fung gut­ge­tan – und sicher­lich auch der eine oder ande­re Blick aus einer nicht aus­schließ­lich femi­nis­ti­schen Perspektive. 

Ver­ges­sen wir immer, die uns nahe­ste­hen­den Men­schen, solan­ge sie da sind, nach dem Wich­tigs­ten zu fra­gen? — Weil wir uns vor einer ehr­li­chen Ant­wort fürch­ten? — Uns fürch­ten, in die­ser Ant­wort nicht vor­zu­kom­men? — Oder weil sich das Wich­tigs­te stän­dig verändert?

Anne­gret Schröder