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In den Blick genommen

Mariusz Hoffmann: Polnischer Abgang. Berlin: Berlin-Verlag, 2023

»Nie wieder auf den Müllberg kacken, weil der alte Herr den Schlüssel von innen hat stecken lassen, nie wieder Kohlen schleppen, nie wieder …« Die antizi­pa­to­ri­schen Überle­gungen des vierzehn­jäh­rigen Jaroslav Sobota, dessen Ausreise mit den Eltern in die Bundes­re­publik unmit­telbar bevor­steht, drehen sich um die ungewisse Zukunft in einem Land, welches sich später als »doch mehr als erwartet fremd« erweisen wird, aber vor allem um das, was zurück­ge­lassen werden kann: »Nie wieder Sonntags­messe, nie wieder Beten vorm Schlafen, nie wieder mit dem Rohrstock auf die Finger, wenn wir im Unter­richt Schle­sisch reden …« 

1990 ist in Polen das Kriegs­recht verhängt worden, die Regierung versucht mit massiven Repres­salien die Bevöl­kerung unter Kontrolle zu bringen und an weiteren Streiks zu hindern, die wirtschaft­liche Lage des Landes ist depri­mierend. Vater Sobota, der sich als Bergmann im oberschle­si­schen Gliwice (Gleiwitz) der Gewerk­schaft Solidarność angeschlossen hat, erlebt am eigenen Leib, wie brutal die Obrigkeit mit denen umgeht, denen sie misstraut. Nach einem Überfall durch eine vom Staat einge­setzte parami­li­tä­rische Sonder­einheit wird der Entschluss gefasst, die Heimat zu verlassen, zumal die Großmutter dies bereits 1982 getan hatte. 

Diese erste Ausreise jedoch ist geheim­nis­um­wittert: »Es brach kein Krieg aus, auch kein Brand, und doch verschwand meine Oma eines Tages mit nicht mehr als dieser gepackten Tasche.« Der Ich-Erzähler, Enkel Jarek, erinnert sich, seinerzeit mit dem Großvater gesucht zu haben, ohne zu verstehen, was die Gründe für das plötz­liche Verschwinden der Oma sein könnten. Schließlich hatte sie eine sichere Stelle bei der polni­schen Post gehabt und im Dorf daher hohes Ansehen genossen. Dass Überfall und Verschleppung des Vaters mit einem Brief, den er nie erhalten hatte, zusam­men­hingen, erfährt der Junge erst spät; auch der Verdacht, die Großmutter – als Postan­ge­stellte mit Zugang zu einge­henden Briefen und mit der Gelegenheit, Schrift­stücke verschwinden zu lassen – könnte eben diesen zentralen Brief unter­schlagen haben, weil sie mit dem gewerk­schaft­lichen Engagement ihres Sohnes nicht einver­standen gewesen war, erschließt sich ihm erst langsam, aber den Gedanken eines unver­zeih­lichen Verrats, der die Familie ausein­an­der­ge­rissen hat, kann er nicht wirklich zulassen. 

Es ist jedoch die schrift­liche Einladung von Oma Agnieszka, die dem polni­schen Staat vorgelegt wird und recht­liche Voraus­setzung dafür ist, dass ein Besuch in der Bundes­re­publik möglich wird. In einer ambiva­lenten Mischung aus Unsicherheit, Ängsten und Hoffnungen bereiten die Eltern alles vor, lösen den Haushalt auf, verkaufen die beweg­liche Habe, während Jarek sich von seinem besten Freund verab­schiedet. Eine erste Krise deutet sich an, als nach dem an sich erfolg­reich gemeis­terten Grenz­über­tritt – im Sommer 1990 sind es an der schlesisch-deutschen Grenze noch DDR-Beamte, die Pässe, Passa­giere und PKWs akribisch kontrol­lieren –, klar wird, dass, anders als erwartet, nicht Friedland das Ziel der Familie sein kann: Da die Großmutter seit Jahren in Hannover ansässig ist, hatte man angenommen, im nieder­säch­si­schen Aufnah­me­lager Friedland eine kurze Zwischen­station zu absol­vieren. Doch das Lager ist überfüllt und die Sobotas müssen nach Nordrhein-Westfalen ausweichen, außer Schalke, BVB und dem VfL Bochum eine Terra incognita für die Familie. 

Statt bei der Großmutter in Hannover kommt die Familie nun in der Erstauf­nah­me­stelle Hamm an, kurz darauf geht es weiter ins Aussied­ler­lager Unna-Massen.

Unna-Massen, ein Fleck zwischen den Flüssen Ruhr und Lippe, war eine Insel der Gestran­deten inmitten blühender Landschaften. Das nächste Gewer­be­gebiet wurde über die Landstraße erreicht und bestand aus einem gigan­ti­schen Möbelhaus, einer Autowasch­anlage und zwei Imbiss­buden auf Rädern. Es stand als Ausflugsziel hoch im Kurs, nicht direkt ein Sehnsuchtsort, aber ein Ort, an dem man zumindest seinen materi­ellen Sehnsüchten nachgehen konnte.

In dieser »eigenen Welt« ist das Einfinden schwer, auch wenn, wie in Polen vor den Lebens­mit­tel­läden, überall Schlange stehen angesagt ist, nur hält man hier statt Lebens­mit­tel­karten Dokumente in Händen, die man nicht versteht. Der ironisch-schnoddrige Ton des Erzählers überdeckt die inneren Befind­lich­keiten der Famili­en­mit­glieder kaum, die behörd­lichen Regeln und Entschei­dungen sind unver­ständlich, die Mitbe­wohner in der Unter­kunft merkwürdig, und vielleicht befinden sich polnische Spitzel unter ihnen; denn der Ausrei­se­grund »Besuch bei der Großmutter« ist ein Vorwand gewesen, dauer­hafter Verbleib in der Bundes­re­publik und Einbür­gerung das eigent­liche Ziel der Familie. 

Dies jedoch gestaltet sich schwie­riger als erwartet, auch wenn mit Langenscheidt-Wörterbuch und Quelle-Katalog fleißig die deutsche Sprache geübt wird, welche die Sobotas bis auf ein paar schle­sische Brocken nicht beherr­schen. Da die Familie nicht der deutschen Minderheit in Schlesien angehört hatte – neben den Sprach­kennt­nissen eine Voraus­setzung für die Anerkennung als Aussiedler –, sind zahlreiche Nachweise zu den Vorfahren erfor­derlich, im Original und in beglau­bigter Kopie und mit beglau­bigter Übersetzung. Schließlich werden, dank Urgroß­vater Josef und seiner Eintragung aus den 1940er Jahren als Landar­beiter in Volks­liste 3, die juris­ti­schen Hürden gemeistert, doch damit sind die Probleme des Ankommens keineswegs vorbei.

Das Ruhrgebiet als Pendant zur oberschle­si­schen Bergwerks­region um Ratibor ist beliebt bei den Aussiedlern, wenn es darum geht, wohin man ziehen will; aller­dings liegt dies vorwiegend an mangelnden Kennt­nissen von Alter­na­tiven, und dann stellen sich die nächsten Fragen: nach Arbeit, nach einer Wohnung (einer richtigen, nicht einer Not-Wohnung) und wie man es schafft, zwischen den Deutschen nicht aufzu­fallen, trotz Akzent und Klamotten aus dem Caritas-Laden. 

Ich schwor, von nun an würde ich immer behaupten, Deutscher zu sein. Wenn jemand fragen sollte, woher ich komme, würde ich »Groß Strehlitz« antworten, nicht Strzelce und schon gar nicht Salesche. Groß Strehlitz, würde ich behaupten, liege in Brandenburg. Ein Dorf in den neuen Bundes­ländern. Und ich würde diese verdammte deutsche Sprache lernen. Sie beherr­schen. Meinen Akzent ausmerzen. Sodass niemand mehr heraus­hören würde, dass ich von jenseits der Grenze kam.

Stoisch durch­halten, auch wenn das erhoffte Schla­raf­fenland sich nicht einstellen will, das können die Polen – so erinnern und ermutigen sie sich immer wieder gegen­seitig, nicht aufzu­geben. Arbeiten bis zum Umfallen, nicht mit dem neuen Auto oder dem tollen Verdienst angeben, sich an alle Regeln halten, Weihnachten mit Kartof­fel­salat und Würstchen feiern, am besten jemanden mit einem deutschen Nachnamen heiraten – dann vielleicht werden die Deutschen sie irgendwann nicht wie welche von Volks­liste 3 behandeln. »Im Übrigen entscheidest nicht du darüber, ob du Deutscher bist, sondern die entscheiden.« Doch in das alte Leben in Polen mit staat­lichen Repres­salien, Armut, Lange­weile und Hoffnungs­lo­sigkeit möchte keiner zurück.

Das drama­tische Famili­en­ge­heimnis des folgen­schweren Verrats klärt sich schließlich anhand des Abschieds­ge­schenks, welches Jarek von seinem Großvater erhalten hatte und erst an Weihnachten öffnet: Es war alles ganz anders, als man jahrelang angenommen hatte. Was die Großmutter, zu der Jarek sich an Silvester aufmacht, dazu zu sagen hat, erfahren wir jedoch nicht.

Mariusz Hoffmanns Roman kommt leicht daher, ein Road Trip aus kindlicher Perspektive, voller Situa­ti­ons­komik und greller Episoden, zugleich ein sensibler Bericht und eine Brücke ins vermeintlich »typisch« Polnische und eine kritische Sicht auf das, was der Kommu­nismus mit Menschen gemacht hat. So zeigen sich bei aller Klischee­haf­tigkeit der Figuren und manchen Übertrei­bungen unerwartete Tiefe und Ernst­haf­tigkeit, wobei die Belas­tungen der Vergan­genheit des 20. Jahrhun­derts in den Bezie­hungen zwischen Deutschen und Polen nur gelegentlich anklingen. 

Annegret Schröder