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In den Blick genommen

Heinz Bude: Adorno für Ruinenkinder – Eine Geschichte von 1968

50 Jah­re nach 1968 ist auf dem Buch­markt eine Fül­le von Neu­erschei­nun­gen zu fin­den, wel­che sich mit Prot­ago­nis­ten, Fol­gen und Wir­kung der dama­li­gen Auf­bruchs­be­we­gung beschäf­ti­gen. In der Viel­zahl die­ser Ver­öf­fent­li­chun­gen fällt der Titel „Ador­no für Rui­nen­kin­der“, zumal durch den Unter­ti­tel „Eine Geschich­te von 1968“, auf.

Bereits in den 1980er Jah­ren hat­te der Sozio­lo­ge Heinz Bude, Jahr­gang 1954, Inter­views mit Acht­und­sech­zi­gern geführt. An die­se Gesprä­che und Selbst­zeug­nis­se erin­nert sich der Autor – er sel­ber spricht von einem „Remix“ – in sei­nem neu­en Band. Bude bie­tet mit die­ser dop­pel­ten Rück­schau kei­ne sys­te­ma­ti­sche Gesamt­dar­stel­lung von 1968, auch wenn der Unter­ti­tel dies nahe­zu­le­gen scheint, viel­mehr wird „eine“ Geschich­te prä­sen­tiert, mit der sich ver­ste­hen lässt, war­um die Acht­und­sech­zi­ger so stark auf Theo­rie und Gesell­schaft setz­ten. Mit der sehr klei­nen Aus­wahl von nur fünf Gesprächs­part­nern, gebo­ren zwi­schen 1928 und 1948, erhebt Bude kei­nen Anspruch auf Voll­stän­dig­keit, zumal unter den Prot­ago­nis­ten des Buches kein ech­ter „Radi­ka­ler“ zu fin­den ist, doch weist sei­ne Aus­wahl durch­aus reprä­sen­ta­ti­ve Züge auf.

So kon­sta­tiert Bude als zen­tra­le Gemein­sam­keit eine „Ver­letz­lich­keit der Gene­ra­ti­on“, die aus der Erfah­rung einer völ­lig zer­stör­ten Welt resul­tier­te ;  dazu kam die Erfah­rung des feh­len­den oder des schwei­gen­den Vaters. Vie­le zen­tra­le Figu­ren der Acht­und­sech­zi­ger muss­ten als Flücht­lings­kin­der Hei­mat­lo­sig­keit erfah­ren. Der Ein­schnitt von 1968 lässt sich nach Bude nur im Zusam­men­hang mit der Zäsur von 1945 begrei­fen. Bude erkennt hier den biografisch-historischen Hin­ter­grund der Sehn­sucht der „Rui­nen­kin­der“ nach einer Theo­rie, die die zer­stör­te und ver­stö­ren­de Welt zu begrei­fen such­te. Reden und Lesen wur­den zu Über­le­bens­tech­ni­ken, Musik, Dis­kus­sio­nen und Demons­tra­tio­nen als Reso­nanz­räu­me des „Mög­li­chen im Unmög­li­chen“ ent­deckt. „Ich ver­su­che, die Erleb­nis­schich­tung von einer Kind­heit in und kurz nach dem Krieg über die Rebel­li­on gegen das Gan­ze und die Adap­ti­on ans Unver­än­der­ba­re zu ver­fol­gen. Viel­leicht gelingt es mir, in mög­lichst prä­zi­sem Spe­ku­lie­ren über das Leben die­ser Älte­ren zu erfas­sen, wel­chen Ver­wun­dun­gen sie aus­ge­lie­fert waren und wel­che inne­re Wider­stands­kräf­te sie dar­aus gewon­nen haben.“ Bude, sel­ber Ange­hö­ri­ger der Nach­kriegs­ge­nera­ti­on, unter­nimmt mit sei­ner Refle­xi­on den Ver­such, deut­lich zu machen, wie befrei­end und leben­ge­schicht­lich not­wen­dig die Ent­de­ckung eines neu­en „Wir“ den mit schwe­rem Ver­gan­gen­heits­ge­päck behaf­te­ten Rui­nen­kin­dern war.

Zu einer Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur für die Acht­und­sech­zi­ger wur­de der jüdi­sche Intel­lek­tu­el­le Theo­dor W. Ador­no – aus Nazi­deutsch­land geflüch­tet und in die Bun­des­re­pu­blik zurück­ge­kehrt –, indem er mit der Kate­go­rie Gesell­schaft den Denk­rah­men ver­mit­tel­te, mit dem die Erfah­run­gen einer belas­ten­den Wirk­lich­keit bewäl­tigt wer­den konn­ten. Bude bezeich­net Ador­no als „Stich­wort­ge­ber der Zeit“, als den­je­ni­gen, der „den Kriegs­kin­dern zeigt, wie man über­le­ben kann“. Der „Wun­der­be­griff“ der Gesell­schaft gewann dank Ador­no an Brei­ten­wir­kung. „Durch­drun­gen vom Begriff der Gesell­schaft“, schreibt Bude, „konn­ten sich die Kriegs­kin­der schwer­mü­tig dem Bewusst­sein der Fest­ge­setzt­heit und Ver­kehrt­heit hin­ge­ben und zugleich an der Mög­lich­keit des Bes­se­ren fest­hal­ten und sich im Wunsch nach Befrei­ung erheben.“

Bei den Inter­view­part­nern von Heinz Bude wird deut­lich, dass ihre Befrei­ungs­be­mü­hun­gen das Ver­lan­gen nach einem befrei­en­den Leben für sich selbst waren, eine Idee von Auto­no­mie. Ihnen ging es nicht um abs­trak­te Polit­öko­no­mie, viel­mehr dar­um, nicht nur als erlei­den­der, son­dern als han­deln­der Mensch zu leben. Nicht Welt­ver­än­de­rung, son­dern Selbst­ver­än­de­rung war das ange­streb­te Ziel.

Bude und sei­ne Gesprächs­part­ner rekur­rie­ren vor allem auf das Posi­ti­ve, das Gelin­gen­de von ’68, wobei sie beto­nen, der Pro­zess sei ent­schei­dend gewe­sen, nicht das Ergeb­nis. Der im Innern des Pro­jekts der Befrei­ung ange­leg­te Kern von Radi­ka­lis­mus, wel­cher sich im Ter­ror der aus 1968 her­vor­ge­gan­ge­nen Rote Armee Frak­ti­on in grau­sa­mer Wei­se Bahn brach, bleibt in den Inter­views und den Refle­xio­nen des Autors weit­ge­hend aus­ge­spart, Heinz Bude ver­weist eher all­ge­mein dar­auf, 1968 sei „ein ganz kur­zer Moment“ gewe­sen, „wo das Gefühl bestand, man kön­ne die Welt ver­än­dern“. Auch sei die Wir­kungs­ge­schich­te der Gene­ra­ti­on von 1968 mit den Toten des Deut­schen Herbs­tes von 1977 nicht zu Ende gegan­gen, da das „Pro­jekt Rot-Grün“ die Acht­und­sech­zi­ger 1998 ein zwei­tes Mal nach vorn gebracht habe. Bude macht aus­drück­lich auf die Rui­nen­kin­der Ger­hard Schrö­der und Josch­ka Fischer als Ver­tre­ter der Gene­ra­ti­on auf­merk­sam, die gegen auto­ri­tä­re Struk­tu­ren auf­be­gehrt habe und neue gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Model­le aus­zu­pro­bie­ren bereit gewe­sen sei. Zen­tral erscheint Bude die Leis­tung aller Rui­nen­kin­der, alles in Fra­ge zu stel­len, auch die Wirk­lich­keit sel­ber, und in neu­er Gestal­tungs­macht vor­an­zu­ge­hen. Die Acht­und­sech­zi­ger, meint der Autor, wuss­ten, dass das Schlimms­te bereits hin­ter ihnen lag und dass die Zukunft nur bes­ser wer­den könne.

Hier sieht der Sozio­lo­ge auch eine Anwort auf die aktu­ell viel dis­ku­tier­te Fra­ge, was von 68 bleibt, denn im Prag­ma­tis­mus der Gegen­wart gebe es kei­ne Befrei­ung mehr. Eine tie­fe Erkennt­nis der Acht­und­sech­zi­ger, die bis heu­te nach­wir­ke, sei es, Bin­dung und Ver­pflich­tung als bewuss­te Ent­schei­dung zu sehen. Weil, so Bude, nicht alle gern hören, dass Leben Anstren­gung ist und Bin­dun­gen nicht selbst­ver­ständ­lich, pola­ri­sie­re die­se Bot­schaft. Auch sei ein neu­er Ador­no, der als Leit­stern der Enkel­ge­nera­tio­nen die­nen könn­te, nicht in Sicht. Bude drückt in sei­nem „Per­spek­ti­ve“ genann­ten Vor­wort die Hoff­nung aus, bes­ser ver­ste­hen zu kön­nen, „was ich eigent­lich von ihnen [den Acht­und­sech­zi­gern, die Verf.] woll­te“. Damit gibt er den Erwar­tungs­ho­ri­zont für sei­ne Leser vor :  Es kann nicht um eine umfas­sen­de, befrie­di­gen­de Beant­wor­tung der Fra­ge gehen, was heu­te von 1968 bleibt, son­dern immer um Ansät­ze des Ver­ste­hens und Ein­ord­nens. Der von Bude gewähl­te Begriff des „Spe­ku­lie­rens“ erscheint inso­fern sehr pas­send und hät­te als Unter­ti­tel das Buch tref­fen­der cha­rak­te­ri­siert als der eher miss­ver­ständ­li­che Ver­weis auf eine „Geschich­te von 1968“.

Annegret Schröder