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Der glänzende Schatz eines Reichen Geistes

Leben und Werke des westpreußischen Schriftstellers Bogumil Goltz (1801–1870)

Von Andreas Koerner

Der verblassende Nachruhm eines hochgeschätzten Autors

Am 12. November 1870 starb der Schrift­steller Bogumil Goltz in Thorn an der Weichsel. Seinen letzten Weg beglei­teten viele Menschen. In der Bromberger Zeitung vom 22. November wurde darüber berichtet :  Seine Leiche sei würdevoll gewesen, denn sie machte, „wie sie mit dem weißsei­denen Sterbe­hemde bekleidet, auf dem olympi­schen Haupte einen Lorbeer­kranz, einen andern in der linken Hand, während die rechte einen schönen Palmzweig hielt, den Eindruck eines marmornen Kunst­werks“. Die Zeitung schrieb weiter :  „Das Leichen­be­gängnis unseres Bogumil Goltz gab einen erhabenen Beweis der hohen Achtung, welche dem hohen Geiste des Mannes“ gezollt wurde.

Der 1801 in Warschau geborene Autor war nach vielen verschie­denen Lebens­sta­tionen im östlichen Raum 1847 von Gollub an der Drewenz nach Thorn, seinem letzten Wohnort, gezogen. Der Coppernicus-­Verein in Thorn ernannte „unsern großen Philo­sophen, Menschen­kenner und Humoristen“ 1856 zum Ehren­mit­glied. Auch nach seinem Tod ließ es dieser Verein nicht an Ehrungen fehlen. Darüber wurde in der Festschrift zum 50. Geburtstag des Vereins vom Jahre 1904 ausführlich berichtet. Dort heißt es zum Beispiel :  „Zur Erinnerung an Goltz kaufte der Verein drei vom Bildhauer Rosenfeld herge­stellte Gypsab­drücke an, und stiftete die Büste in das Zimmer des Magis­trats­di­ri­genten, die Toten­maske in das städtische Museum, und das Medail­lonbild in den Saal der Stadt­ver­ord­neten.“ Es wurde eine Gedenk­tafel gefertigt, die „in sein Haus in der Tuchma­cher­straße einge­setzt, und am 20. März, seinem Geburtstage, mit einer angemes­senen Feier­lichkeit enthüllt“ wurde. Es wurden Gedenk­reden gehalten und gedruckt :  zu seinem Tode, zur 10. Wiederkehr seines Todes und auch 1901, zu seinem 100. Geburtstag.

Als Theodor Kutten­keuler 1913 seine Disser­tation Bogumil Goltz :  Leben und Werke vorlegte, konnte er die gesamte schrift­liche Hinter­las­sen­schaft des Autors durch­forsten, die sich damals in Privat­besitz befand. Diese vom Coppernicus-Verein heraus­ge­gebene und im Verlag Kafemann in Danzig veröf­fent­lichte Arbeit bildet ein Fundament der Kennt­nisse über Goltz. 1926 erschien in den Mittei­lungen des Copernicus-­Vereins Arthur Semraus Aufsatz „Bogumil Goltz und die Frauen“. Darin erfährt man auch etwas von jüdischen Kaufmanns­frauen, denen Bogumil Goltz eng verbunden war. Dieser Aufsatz gibt insgesamt tiefere Einblicke in die kultu­rellen und gesell­schaft­lichen Verhält­nisse des 19. Jahrhunderts.

1938 erschien in der in Posen verlegten Deutschen wissen­schaft­lichen Zeitschrift für Polen ein Bericht von Reinhold Heuer „Aus unver­öf­fent­lichten Briefen von Bogumil Goltz“. Diesen Bestand hatte die Städtische Copernicus-Bibliothek in Thorn drei Jahre zuvor erworben. Es handelt sich dabei um 27 Briefe des Schrift­stellers an Emil Kuh in Wien, der vor allem als Biograph von Friedrich Hebbel bekannt geworden ist und der Goltz bei seinen Lese- und Vortrags­reisen in Öster­reich unter­stützt hatte.

Als Ergebnis des Ersten Weltkrieges war Thorn als Teil des „polni­schen Korridors“ zum neu erstan­denen Polen gekommen. Durch Abwan­de­rungen nahm die Zahl der Deutschen in diesem Raum ab. Die Folgen des Zweiten Weltkrieges waren noch einschnei­dender. Die Gedenk­tafel am Wohnhaus verschwand, und der Grabstein von Bogumil Goltz auf dem Sankt-Georgs-Friedhof wurde gemeinsam mit den meisten anderen deutschen Grabsteinen zerstört. Von den in den Westen geflo­henen Deutschen übernahmen einige die Aufgabe, die Erinnerung an die verlorene Heimat zu pflegen. Dazu gehörten auch häufiger Texte über den Schrift­steller Bogumil Goltz, die haupt­sächlich im Westpreußen, in den Ostdeut­schen Monats­heften und im Westpreußen-Jahrbuch veröf­fent­licht wurden. Besonders taten sich dabei Werner Schie­nemann und Rudolf Trenkel hervor. Diese ältere Generation der Thorner Goltz-Freunde ist inzwi­schen verstorben, und so ist es allmählich um diesen westpreu­ßi­schen Schrift­steller recht still geworden.

29 unruhige Jahre im Leben des Bogumil Goltz

Bogumil Goltz war – am 20. März 1801 – in Warschau geboren worden, weil sein Vater Karl Gottlieb Goltz 1795 als Stadt­ge­richts­di­rektor, d. h. als Leiter des Justiz­wesens, nach Warschau gekommen war. Bei der dritten Teilung und damit Auflösung Polens hatte Preußen 1795 auch noch fast ganz Masowien erhalten und sich als „Südpreußen“ einver­leibt. Bogumil war als viertes Kind der dritte Sohn seiner Eltern. Seine Mutter kam mit dem lebhaften Jungen nicht zurecht, so dass er zunächst vorwiegend der „Neumann­schen“, einem Hausfak­totum, überlassen war. Als er gerade sechs Jahre alt war, kam er, der den Eltern weiterhin als zu unbändig erschien, zu einer befreun­deten Familie nach Warschau in „Zucht und Pflege“. Diese Familie zog aller­dings schon im Frühjahr 1807 nach Königsberg in Ostpreußen, so dass Bogumil nun dort die Hospi­tal­schule auf dem Oberha­berberg besuchte. Nach zweieinhalb Jahren kam er als Sextaner in die Stadt­schule auf dem Kneiphof. Da die Pflege­eltern mit dem wilden Knaben aber nicht mehr zurecht­kamen, mussten die Eltern Abhilfe schaffen, und so schrieb der Vater am 15. September 1810 einem Verwandten halb scherzhaft :  „Ich habe Bogusch zum Prediger Jackstein nach Klein-Tromnau geben müssen. Will der ihn nicht behalten, so kommt er nach Graudenz ins Zuchthaus.“

Um sein mageres Einkommen als Dorfpfarrer aufzu­bessern, hatte Jackstein ein Knaben­pen­sionat einge­richtet. Dort kam Bogusch als sechster – und jüngster – Knabe unter. Im ländlichen Klein-Tromnau, Kr. Rosenberg, konnte er sich offenbar richtig austoben und entfalten. Der auch im Ort beliebte Pfarrer fand wohl einen guten, von Verständnis geprägten Kontakt zu ihm, denn nach mehr als 35 Jahren erinnert sich der frühere Zögling noch an Jackstein und widmet ihm, „seinem liebe­vollen Erzieher, Ihm, dem guten Genius seiner Kindheit, dem still­be­scheiden fortwir­kenden Menschen­freunde, dem echten Mann Gottes“, seine erste Veröf­fent­li­chung, das Buch der Kindheit, „in herzin­nigster Liebe und Verehrung“.

Nach nur eineinhalb Jahren musste Bogumil aber diesen Hort wieder verlassen und kam 1812 nach Marien­werder, wohin sein Vater 1808 / 09 versetzt worden war, weil „Südpreußen“ 1807 bekanntlich aufge­geben werden musste. Sein Vater nahm ihn in seine herbe, aber keines­falls herzlose Obhut. Drei Jahre später, 1815, ging der Sohn aber wieder nach Königsberg zurück, dieses Mal auf das Fried­rich­skolleg, und wurde vom Oberlehrer Bujack aufge­nommen. Er war freilich immer noch der wilde, unange­passte Junge ;  und als er 1816 zum Prediger Steffen in Pension kam, wurde das Leben für ihn unerträglich. Auf dring­liches Bitten hin erreichte er bei seinem Vater, dass er die Schule verlassen durfte, um Landwirt­schaft zu erlernen.

Im Mai 1817 trat er als Eleve seine Ausbildung auf dem russi­schen Kronen-Domänenamt Ciechocin an der Drewenz an. Der Pächter war Karl Friedrich von Blumberg, ein Jugend­freund des Vaters. Im Domänenamt gab es aller­dings auch viel Verwal­tungs­arbeit zu erledigen, womit sich Goltz nicht recht anzufreunden vermochte.

1819 leistete er seinen Wehrdienst als Einjäh­riger beim Infanterie-Bataillon der Festung Graudenz ab, wo er sogar zum Unter­of­fizier befördert wurde. Danach gab ihm von Blumberg zwar den Posten eines Wirtschafters, wegen Strei­tig­keiten ließ er sich zum Sohn seines Chefs auf das benach­barte Gut Birglau versetzen. Aber auch dort bekam er Streit. Der Vater machte sich um die beruf­liche Zukunft seines Sohnes zunehmend Sorgen und dachte, dass er Beamter werden könnte. Diesem Rat suchte Bogumil unter der Anleitung seines Schwagers, des Postrendanten Zimmermann in Thorn, Folge zu leisten. Nach wenigen Wochen gab er diesen Plan aller­dings wieder auf :  Büroarbeit lag ihm einfach nicht.

1821 reiste er zu seinem Bruder Karl nach Fürsten­walde in der Mark, der dort das Bürger­meis­teramt verwaltete ;  alle Bemühungen, dort Fuß zu fassen, schei­terten jedoch ebenfalls. Daraufhin bekam Bogumil die Erlaubnis, Privat­stunden bei Primanern des Thorner Gymna­siums zu nehmen, um sich auf ein Univer­si­täts­studium vorzu­be­reiten. Überdies fuhr er nach Breslau, nahm dort Unter­richt in klassi­schen Sprachen und erwarb vor einer Prüfungs­kom­mission das Zeugnis der Reife. Im Frühjahr 1822 schrieb er sich an der Univer­sität Breslau als Theolo­gie­student ein, wandte sich aber, nachdem er dem Philo­sophen, Natur­for­scher und Dichter Henrik Steffens (1773–1845) begegnet war, der Philo­sophie zu ;  aber auch diese neue Neigung blieb instabil :  Schon nach zwei Semestern verzichtete er auf alle weiteren akade­mi­schen Ausbil­dungswege – und wollte wieder Landwirt werden.

Ein wichtiger Grund für diese Entscheidung war vermutlich, dass er sich verliebt hatte, und zwar in Amalie Josephine, die älteste Tochter von Karl Friedrich von Blumberg. Der schnellste Weg, sie zu heiraten, war es, zur Landwirt­schaft zurück­zu­kehren. Sein Vater und der Vater seiner Braut kauften ihm im Frühling 1823 für 14.000 Taler das Rittergut Lissewo bei Gollub an der Drewenz. Am 30. Juni 1823 schon heiratete Bogumil seine damals 18-jährige Amalie Josephine. Aller­dings blieb das junge Glück nicht ungetrübt, denn Bogumil Goltz forderte bei einer Wehrübung seinen Vorge­setzten zu einem Duell und wurde daraufhin zu einer dreijäh­rigen Festungshaft verur­teilt. Deshalb verpachtete er sein Gut. Nach sechs Monaten wurde er aber vom König begnadigt, so dass ihm die restliche Zeit in Graudenz erspart blieb. Nun zog Bogumil gemeinsam mit seiner Frau nach Breslau, um weitere Studien zu treiben, fand dort aller­dings auch nicht zu größerer Stetigkeit. Nach Ablauf der Pacht versuchte er sich neuerlich als Landwirt, entschloss sich nach anhal­tenden wirtschaft­lichen Misserfolgen letztlich, sein Gut 1829 gegen eine Leibrente von 400 Talern auf Lebenszeit zu verkaufen. Auf der Suche nach einem möglichst billigen Wohnort, in dem er von seiner kleinen Rente leben könnte, entschied er sich für Gollub.

Ein Autodidakt gelangt zu Erfolg und Ruhm

Ab 1830 wohnte der noch nicht 30-jährige Bogumil Goltz nun als eine Art Frührentner in Gollub. 1831 verbrachte er zwar die drei Sommer­monate in Breslau, aber hielt sich sonst stets in Gollub auf. Er betrieb breit angelegte Selbst­studien auf mannig­fachen Gebieten. Karl Rosen­kranz, Philo­so­phie­pro­fessor in Königsberg, meinte dazu :  „Es ist grenzenlos, was er in seiner Einsamkeit alles in sich durch­ge­ar­beitet hat.“ Er studierte und schrieb, und vieles von dem, was in seinen späteren Büchern zu lesen ist, nahm von hier seinen Ursprung. Nach mehreren Jahren hatte er einige Manuskripte abgeschlossen und machte sich ab 1838 in Berlin, Königsberg oder Danzig auf eine – lange Zeit vergeb­liche – Suche nach einem Verleger.

Ein ganz eigenes Thema schlug der Schrift­steller freilich mit seinen Schil­de­rungen und Refle­xionen der Kindheit an. Hier gelangte er zu Sicht- und Darstel­lungs­weisen, die bald große Aufmerk­samkeit erregten. 1843 las er in Königsberg beim Schulrat Lucas erstmals Teile aus seinem späteren Buch der Kindheit vor. Sie müssen wohl sehr positiv aufge­nommen worden sein, denn er setzte die Arbeit daran intensiv fort. Auch für dieses Projekt fand er weder in Königsberg noch in Berlin einen Verleger ;  dann aber konnte es 1847 bei Zimmer in Frankfurt am Main erscheinen. Die gute Resonanz dieses Buchs ermutigte Goltz, als freier Autor schon im selben Jahr nach Thorn umzusiedeln.

DAS SUJET VON KINDHEIT UND JUGEND Das Buch der Kindheit, auf das er 1852 Ein Jugend­leben, ein drei Bände umfas­sendes biogra­phi­sches Idyll aus Westpreußen, folgen ließ, wurde Goltzens nachhal­tigster Erfolg und sichert sein litera­ri­sches Weiter­leben bis heute. 1908 brachte es Karl Muthesius (1859–1929) in der Buchreihe Bibliothek pädago­gi­scher Klassiker heraus. Friedhelm Kemp (1914–2011) begann 1964 bei Kösel die Reihe Lebens­läufe. Biogra­phien, Erinne­rungen, Briefe mit einer Neuausgabe, die ungefähr fünf Sechstel des Buches enthält ;  und 1992 – um noch ein weiteres Beispiel zu nennen – veröf­fent­lichte der in Breslau lehrende polnische Germanist Marek Zybura ( * 1957) in der bei Nicolai verlegten Reihe Deutsche Bibliothek des Ostens ein Drittel des Buches unter dem Titel Kindheit in Warschau und Königsberg. Darüber hinaus haben einzelne Kapitel unter wechselnden thema­ti­schen Aspekten in mannig­fache Antho­logien Eingang gefunden und halten auf diese Weise die Erinnerung an Bogumil Goltz wach.

Bis heute können sich die Leserinnen und Leser nicht dem beson­deren Reiz entziehen, den das Buch der Kindheit (wie auch Ein Jugend­leben) ausübt. Der Autor versteht es, die Kindheits­phase mit ihrer ganzheit­lichen Weltwahr­nehmung, mit ihren Träumen, Phantasien und inten­siven Erleb­nissen ernst zu nehmen und voller Respekt zu rekon­stru­ieren. Diese hohe Wertschätzung der Kindheit erinnert an die Einsichten, die Jean Paul 1807 in seiner Schrift Levana oder Erzieh­lehre nieder­gelegt hatte. Im § 55 heißt es beispielsweise:

Der Lehr- und Brotherr der Kleinen handelt immer, als sei das ordent­liche Leben des Kindes als Menschen noch gar nicht recht angegangen, sondern warte erst darauf, daß er selber abgegangen sei und so den Schluß­stein seinem Gewölbe einsetze. […] Himmel !  Wo ein Mensch ist, da fängt die Ewigkeit an, nicht einmal die Zeit. Folglich ist das Spielen und Treiben der Kinder so ernst- und gehaltvoll an sich und in Beziehung auf ihre Zukunft als unseres auf unsere.

Im Spannungsfeld zwischen der Verge­gen­wär­tigung des kindlichen Empfindens, Wollens und Denkens und der Reflexion des Erwach­senen, der diesem früheren Zustand sehnsuchtsvoll nachspürt, gewinnt jedes noch so banal schei­nende Detail, jeder Vorgang in der Natur, jeder auftre­tende Charakter oder jede atmosphä­rische Stimmung, eine eigene Bedeutung, einen spezi­fi­schen Wert. Getragen und durch­pulst werden diese Ausfüh­rungen zudem von einer starken Begeis­terung, die bei Goltz oft mit einer Rhetorik des empha­ti­schen, wenn nicht enthu­si­as­ti­schen Sprechens verschwistert erscheint. Diesen Zusam­menhang akzen­tuiert der Schrift­steller Friedrich Lienhard (1865–1929), der 1904 für die anspre­chende Reihe Bücher der Weisheit und Schönheit eine Auswahl von Goltz-Schriften besorgte und in seinem Vorwort aus einem Brief von Schiller an seinen Dresdner Freund Christian Körner den folgenden Satz zitiert :  „Danken Sie dem Himmel für das beste Geschenk, das er Ihnen verleihen konnte, für das glück­liche Talent zur Begeis­terung. Sehen Sie, bester Freund, unsere Seele ist für etwas Höheres da, als bloß den uniformen Takt der Maschine zu halten.“

Diese „Begeis­terung“ bedeutet für Goltz keineswegs eine Distan­zierung von den Niede­rungen des Lebens, ein Streben nach dem Höheren, sondern eine verein­heit­li­chende Kraft, die beide Bereiche umfasst und zur Synthesis bringt. Diese Grund­vor­stellung formu­liert er im Kapitel „Allerlei Historien und Kinder-Erlebniß“ des Buchs der Kindheit (im Abschnitt „Meiner Mutter Amme“) folgen­der­maßen
(S. 375f.) : 

Alles Gedeihen komm hienieden von unten und oben zugleich. Wo nicht Materie und Geist, Herz und Vernunft, das Natür­liche und das Ueber­na­tür­liche, das Gemeine und das Ungemeine, wo nicht Volks- und Herren­leben, Schul- und Mutterwitz und alle Gegen­sätze inein­ander spielen und mitsammen im Geschäft sind, da gibt es über kurz oder lang immer nur ein Extrem der Bruta­lität oder der Ueber­fei­nerung, eine Barbarei der Rohheit, oder eine solche der Hypercivilisation !

Diese Überzeugung steht im engsten Zusam­menhang mit einem unver­brüch­lichen humanis­ti­schen Menschenbild :  „Wo ich immer nur einen echten Menschen und einen glück­lichen Genius kennen lernte, da fand ich auch in ihm einen geborenen Menschen­freund.“ Dabei wendet sich Goltz auch ausdrücklich den unteren Schichten zu und begegnet ihnen mit Verständnis und nicht zuletzt Sympathie. So lässt er seine Leserinnen und Leser innerhalb des genannten Abschnitts „einen Blick in die Armuth und Elendigkeit des Volkes thun“ (S. 380f.):  „Mir gegenüber wohnen verarmte Handwerks­leute, blutarme Menschen.“ Deren Kinder „verführen dicht unter meinem niedrigen Fenster einen Lärmen und Skandal, daß ich weder schreiben noch lesen kann“. Nachdem sogar eine Fenster­scheibe zu Bruch gegangen ist, macht der Autor der Mutter „einige menschen­freund­liche Vorschläge zu einer mehr handgreif­lichen Handhabung der Kinder­zucht“. Davon lässt er aber „bald beschämt und betroffen“ ab, weil ihm „die Frau in ruhiger Weise“ entgegnet:

Bester Herr, das sagen Sie so, aber ich kann meine Kinder nicht ziehen. Sie machen Teufelszeug, es ist wahr, aber wie soll ich sie schlagen, wenn ich ihnen nicht halbsatt zu essen geben kann, und mein Mann, wenn der betrunken ist, so schlägt er sie schon halb todt. Es ist ja nur Haut und Knochen an den Bälgen. Mir will manchmal das Herz brechen, wenn ich bedenke, wo die Kinder noch die Lust und die Kraft herbe­kommen, mit hungrigem Magen und halbna­ckend so viel Spektakel zu machen. Was sollt’ denn aus ihnen werden, wenn sie sich das Elend zu Kopf nehmen möchten ? 

Angesichts dieser Einsicht gelangt der Autor zu dem Schluss: „Ohne Sympathie aber für das arme Volk und die dienende Klasse ist der sogenannte Gebildete und der Vornehme nur eine todte Puppe und kein richtiger Mensch!“

DIE ERKLÄRUNG DER WELT Von seinem schrift­stel­le­ri­schen Durch­bruch an hat Bogumil Goltz eine umfang­reiche Reihe von Büchern veröf­fent­licht, die auf breites Interesse stießen und zum Teil in mehreren Auflagen erschienen sind. Die Digita­li­sierung ganzer Biblio­theken hat dazu geführt, dass diese Schriften mittler­weile im Internet wieder leicht zugänglich geworden sind. Wenn man sich auf die Lektüre dieser Schriften neuerlich einlässt, treten zwei Schwer­punkte hervor, an denen Grund­lagen des Denkens und Argumen­tierens veran­schau­licht werden können.

1847, im gleichen Jahr, in dem Das Buch der Kindheit erscheint, verlegt Heinrich Zimmer in Frankfurt a. M. auch eine Monographie, die eines der Grund­themen anschlägt. Ihr Titel lautet :  Deutsche Entartung in der licht­freund­lichen und modernen Lebensart. An den modernen Stich­wörtern gezeigt. Darin wendet sich Goltz entschieden gegen die einseitige, ungebän­digte Freisetzung „aufklä­re­ri­scher“ Bemühungen (S. 84):

Die neuen Propheten […] gefallen sich einzig und allein nur in Einem :  In einem Extrem von Verstand, von Kälte, von Unruhe, von Moder­nität und Säkula­ri­sation, in einer Verläugnung alles Natur- und Gottes­in­stinkts, in einer Ablösung aller Geschichten Himmels und der Erden, in dem künst­lichen und grellen Phosphor­licht einer Societäts-Philosophie und Schul­ver­nünf­tigkeit, in einem Lichte, an welchem die uralte Finsterniß viel unheim­licher sichtbar wird, als im natür­lichen Licht­dunkel der alten, der bibli­schen und histo­ri­schen Zeit.

Dass Goltz, der sich früher dem Studium der Theologie zugewandt hatte, den Glauben vor aller „fortschritt­lichen“ Religi­ons­kritik und Zerglie­derung der „neuen Propheten“ schützen will, beruht auf einer konser­va­tiven Grund­haltung des Autors, die nicht nur auf Dogmen basiert, sondern aus dem indivi­du­ellen Erlebnis des Wunder­baren gespeist wird und sich durch die Vorstellung einer Einheit, die auch Gegen­sätze zu überwölben vermag, Übergänge in die Philo­sophie offenhält (S. 161) :  „All überall ein Wunder, das uns ersticken, das uns blödsinnig oder toll machen müsste, wenn es noch etwas anderes gäbe als eben das Wunder! Oder sollen wir uns gegen Seele und Leib empören, blos weil wir nicht demons­triren können, wie Beide Eines und Zwei zugleich sind.“

Der Respekt vor der Gesamtheit der als Schöpfung verstan­denen Erschei­nungswelt fordert einer­seits eine univer­selle humanis­tische Orien­tierung des Menschen, wie sie sich z. B. schon in der dezidierten Wahrnehmung der „Armuth und Elendigkeit des Volkes“ gezeigt hat ;  anderer­seits ist er ein ständiger Quell ehrfürch­tigen Staunens. In der zweibän­digen Publi­kation Zur Geschichte und Charak­te­ristik des deutschen Genius. Eine ethno­gra­phische Studie, die 1864 als 2. Auflage der Studie über Die Deutschen (1860) erschienen ist, rekur­riert Goltz im XVII. Kapitel – „Die deutsche Mystik und die moderne Licht­freund­lichkeit mit Glossen versehen“ – auf seine soeben zitierte Aussage, dass „All überall ein Wunder“ zu bestaunen sei, und fügt nun die folgende Beobachtung und Reflexion an (II. Bd., S. 154) :

Eben rennt mir eine zinno­ber­rothe Spinne über das Papier, die so groß ist wie ein Steck­na­delkopf, als ich der tausend­fixen Creatur mit dem Finger nahe komme, steht sie plötzlich erschrocken still, stellt sich, auf den Rücken gelegt, regungslos todt. – Also ein Wurm, welcher alle Augen­blicke, aus den spielenden Bildkräften der Natur hervorgeht, der wehrt sich seines Lebens, der fühlt sich von anderm Dasein unter­schieden, der hat Todes­schreck und Lebens­listen, der hat Nerven-Apparate, ist eine Welt im Kleinen, und doch nur aus ein Paar Stäubchen in ein Paar Augen­blicken zusam­men­ge­blasen ;  begreife das, beruhige sich darüber wer will und kann, mich machts gläubig und dumm.

Die feste moralische, christlich-humanistische Botschaft des Autors ist eng mit einer Weltsicht verschränkt, die von einem wohlge­ord­neten, typolo­gisch erfass­baren Kosmos ausgeht und die den zweiten Flucht­punkt seiner Schriften bildet. Ob Goltz, wie soeben zitiert, die „Charak­te­ristik des deutschen Genius“ erläutert, ob er – unter dem Titel Der Mensch und die Leute – die „Charak­te­ristik der barba­ri­schen und der civili­sirten Nationen“ (1858) erschließt oder ob er 1859 ein Buch Zur Charak­te­ristik und Natur­ge­schichte der Frauen publi­ziert, das bis 1904 immerhin noch sechs Auflagen erlebt – stets ist sein Blick auf das Ganze gerichtet und stets gehen seine syste­ma­ti­schen Unter­glie­de­rungen wider­spruchsfrei und restlos auf.

Dabei bringt er eine Fülle aufschluss­reicher psycho­lo­gi­scher Beobach­tungen ein, die er – wie schon in den Büchern zu Kindheit und Jugendzeit – mit großer Sensi­bi­lität anstellt und schildert ;  zugleich freilich geht er von natio­nalen Hierar­chien aus, die dem Deutschtum regel­mäßig den obersten Rang zuweisen. Diesen Doppel­aspekt soll das folgende Beispiel aus Der Mensch und die Leute erhellen. Im Abschnitt „Zur Natur- und Kultur­ge­schichte der Polen“ (S. 376–413) disku­tiert Goltz unter vielerlei Aspekten auch die Differenz zwischen deutschen und polni­schen Tänzern ein. Dabei skizziert er varian­ten­reich und mit wohlge­setzten satiri­schen Strichen, dass „die deutsche Gründ­lichkeit und Schwer­fäl­ligkeit, die deutsche Oekonomie, […] beim Tanz-Vergnügen keine lustige Figur“ macht (S. 382). Dieser „Karikatur-Wahrheit“ (ebd.) setzt er sein Bild des Polen gegenüber :  Bei ihm erscheint „die ganze Gestalt im Schmelz der Leiden­schaft und des Vergnügens“, und man begreift, „daß seine Körper­be­we­gungen nur die Versinn­bild­li­chung des rhyth­mi­schen und idealen Lebens sind, welche die ganze Seele hinge­nommen hat“.

Diese entschie­denen Vorzüge in der Unbefan­genheit und Natür­lichkeit haben natürlich quasi ihren Preis ;  denn zwangs­läufig erweisen sich dann in Bereichen, in denen die Deutschen brillieren, erheb­liche Defizite (S. 384) :

Für Alles, was Vernunft im engern und bestimmtern Sinne heißt, für Alles was zum Schema­tismus, zur Logik und Grammatik gehört, was Disziplin, System und Methode genannt wird, hat diese allzu natür­liche Polen-Race nur ein unmäch­tiges Organ, eine schwäch­liche Constitution.

Wie in einem Brenn­spiegel zeigt dieser kurze Absatz, wie vorzüglich das typolo­gi­sie­rende Verfahren die Welt erschließt und „erklärt“ :  Sprachlich virtuos, höchst belesen und in abwechs­lungs­reichen Arran­ge­ments schildert Goltz die „Charak­te­ristik“ von Menschen, Geschlechtern und Völkern – und fällt dabei Urteile, bei denen er sicher sein kann, dass sie mit den Vor-Urteilen seiner Leserinnen und Leser aufs Schönste übereinstimmen.

Dies dürfte der wichtigste Grund dafür sein, dass diese Titel heute vor allem noch aus kultur­his­to­ri­schen Inter­essen heraus rezipiert werden: In langwie­rigen Prozessen hat sich seit der Mitte des 19. Jahrhun­derts allmählich die Erkenntnis durch­ge­setzt, dass das meiste von dem, was vermeintlich als natur­ge­geben, als „charak­te­ris­tisch“ gegolten hat, auf gesell­schaft­lichen Konven­tionen und ideolo­gi­schen Konstruk­tionen beruht. Hinter diese Einsicht können wir bei unserer Goltz-Lektüre schwerlich noch zurück.

DER RHAPSODE  Das Bild von Bogumil Goltz wäre lückenhaft, wenn nicht auch seiner Tätigkeit als Vortrags­künstler gedacht würde. Schon vor der Veröf­fent­li­chung seines ersten Buches muss ihm aufge­fallen sein, dass er zu öffent­lichen Auftritten Talent hatte – und dass sich damit Geld verdienen ließ, das er gut gebrauchen konnte, zumal er zwei Pflege­töchter hatte und arme Verwandte unter­stützte. Mitte des 19. Jahrhun­derts fanden solche Veran­stal­tungen große Resonanz, weil sich dafür ein hinlänglich großes – und zahlungs­wil­liges – bürger­liches Publikum gebildet hatte, das sich gerne in unter­schied­lichen Kunst-Sparten von „Virtuosen“ faszi­nieren ließ. Zudem war diese Zeit – in der 1851 die erste Weltaus­stellung veran­staltet wurde – darauf aus, Verkehrswege zu erschließen, und eröffnete dadurch Chancen zu weiträu­migen und flexiblen Reise­pla­nungen. So fuhr Bogumil Goltz 1848 nach Frank­reich, wo er mit Victor Hugo zusam­mentraf, sowie nach London und unternahm ein Jahr später sogar eine Reise, auf der er Ägypten, Italien und Sizilien besuchte. (Aus diesen Erfah­rungen resul­tiert die 1853 erschienene Monographie Ein Klein­städter in Ägypten.) Darüber hinaus absol­vierte er – seit 1860 fast Jahr für Jahr – regel­rechte Vortrags­tourneen, die ihn durch den gesamten deutsch­spra­chigen Raum – von Tilsit bis nach Pressburg und von Hamburg bis nach Triest führten. Dabei entwi­ckelte Goltz einen gut organi­sierten Betrieb, bei dem Helfer vor Ort Säle anmie­teten und entspre­chende Anzeigen in den Zeitungen schalteten.

Bogumil Goltz war von statt­licher Erscheinung, hatte eine markante Hakennase und eine regional gefärbte Aussprache. – In seinen Lebens­er­in­ne­rungen (postum 1906) schrieb Moritz Lazarus (1824–1903) :

Später kam Goltz nach Berlin und besuchte mich. Er war im Gespräch dadurch ausge­zeichnet, daß er sich nicht nur wie in seinen Schriften durch große Übertreibung hervortat, sondern seine fulmi­nanten Redens­arten auch mit der größten Vehemenz hervor­stieß. Dabei hatte er die Gewohnheit, wie viele Slaven, sehr sanft und nahezu tonlos eine Konver­sation zu beginnen, um dann allmählich in ein crescendo zu verfallen, das sich schließlich zu einem förmlichen Brüllen steigerte.

Zu seinem Publikum gehörten auch Friedrich Hebbel, Eduard Mörike, Gottfried Keller oder Hoffmann von Fallers­leben, die dieser Rhetor zu beein­drucken wusste. Die frappie­rende Wirkung, die diese Veran­stal­tungen ausübten, wird noch in den folgenden Formu­lie­rungen spürbar, die Hyacinth Holland 1879, nur wenige Jahre nach Goltzens Tod, in dessen Würdigung für die Allge­meine Deutsche Biographie (Bd. 9, S. 353ff.) fand :

Wo er auf seinen Wander­zügen erschien, überraschte und verblüffte er mit geplanten oder extem­po­ri­sirten Vorle­sungen, welche nicht selten zu fesselnden, immer neuen, sprudelnden socra­ti­schen Paroxismen anschwollen, bis der wunder­liche Mann, welcher stundenlang und ausschließend das Wort geführt hatte, mit herzlichem Dank für die ihm gewährte köstliche Unter­haltung ebenso schnell wieder verschwand als er gekommen war. (S. 354 )

Diese Charak­te­ri­sierung von Goltz als Rhapsoden berührt sich mit Hollands Einschätzung des Schrift­stellers, bei dem ihm zwar „Maß und Form, der Alles verbin­dende klare Faden“ fehlen (S. 355), bei dem er – von dem auch schon der Haupt­titel dieses Beitrags entlehnt ist – aber immerhin zu einer Einschätzung dieses vielge­stal­tigen Westpreußen gelangt, die hinter unsere Betrach­tungen mit Fug und Recht einen würdigen Schluss­punkt zu setzen vermag (S. 354f.) :

Mit den von ihm verschleu­derten Geistes­funken hätten ein Halbdutzend anderer Menschen immerhin ein hübsches Geschäft begründet, hätten sich bei einiger Industrie und Vorsicht rühmlich hervor­gethan und wären am Ende gar noch „deutsche Classiker“ und in Minia­tur­aus­gaben unsterblich geworden. […] Sein Unglück war die Ueber­fülle seines Geistes und seiner Kraft;  sein größter Fehler, daß er damit nie haushäl­te­risch zu Werke ging.

Wenn die Überfülle ein „Unglück“ und der verschwen­de­rische Umgang mit den eigenen Gaben ein „Fehler“ gewesen sind, ist dies keineswegs das Schlech­teste, was die Nachwelt über einen Schrift­steller sagen kann.

 Alle Zitate aus den Schriften von Bogumil Goltz ­folgen der Orthografie und Interpunktion der jeweiligen Erstausgaben.


Im jüngsten Westpreußen-Jahrbuch (2017 / 18) ist ein Beitrag über „Bogumil Goltz und die Juden“ erschienen. Er stammt von Andreas Koerner, der in den letzten Jahren auch als DW-Autor hervorgetreten ist. Seit langer Zeit ist er mit Bogumil Goltz vertraut, und diese hohe Affinität ist ihm in gewisser Weise sogar schon in Zufälligkeiten der Familiengeschichte vorgezeichnet gewesen: Sein Geburtsort Hofleben liegt zwischen Thorn und Gollub; und Bogumil Goltz wohnte von 1847 bis 1850 im Haus des Urgroßvaters, Neustädtischer Markt 3, in Thorn. So war es selbstverständlich, dass wir Andreas Koerner gebeten haben, zum 150. Todestag eine ausführliche Einführung in die bewegte Biographie und das vielschichtige Œuvre dieses explizit westpreußischen Schriftstellers zu verfassen.

Die DW-Redaktion