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Der glänzende Schatz eines Reichen Geistes

Leben und Werke des westpreußischen Schriftstellers Bogumil Goltz (1801–1870)

Von Andreas Koerner

Der verblassende Nachruhm eines hochgeschätzten Autors

Am 12. Novem­ber 1870 starb der Schrift­stel­ler Bogu­mil Goltz in Thorn an der Weich­sel. Sei­nen letz­ten Weg beglei­te­ten vie­le Men­schen. In der Brom­ber­ger Zei­tung vom 22. Novem­ber wur­de dar­über berich­tet :  Sei­ne Lei­che sei wür­de­voll gewe­sen, denn sie mach­te, „wie sie mit dem weiß­sei­de­nen Ster­be­hem­de beklei­det, auf dem olym­pi­schen Haup­te einen Lor­beer­kranz, einen andern in der lin­ken Hand, wäh­rend die rech­te einen schö­nen Palm­zweig hielt, den Ein­druck eines mar­mor­nen Kunst­werks“. Die Zei­tung schrieb wei­ter :  „Das Lei­chen­be­gäng­nis unse­res Bogu­mil Goltz gab einen erha­be­nen Beweis der hohen Ach­tung, wel­che dem hohen Geis­te des Man­nes“ gezollt wurde.

Der 1801 in War­schau gebo­re­ne Autor war nach vie­len ver­schie­de­nen Lebens­sta­tio­nen im öst­li­chen Raum 1847 von Gollub an der Dre­wenz nach Thorn, sei­nem letz­ten Wohn­ort, gezo­gen. Der Coppernicus-­Verein in Thorn ernann­te „unsern gro­ßen Phi­lo­so­phen, Men­schen­ken­ner und Humo­ris­ten“ 1856 zum Ehren­mit­glied. Auch nach sei­nem Tod ließ es die­ser Ver­ein nicht an Ehrun­gen feh­len. Dar­über wur­de in der Fest­schrift zum 50. Geburts­tag des Ver­eins vom Jah­re 1904 aus­führ­lich berich­tet. Dort heißt es zum Bei­spiel :  „Zur Erin­ne­rung an Goltz kauf­te der Ver­ein drei vom Bild­hau­er Rosen­feld her­ge­stell­te Gyps­ab­drü­cke an, und stif­te­te die Büs­te in das Zim­mer des Magis­trats­di­ri­gen­ten, die Toten­mas­ke in das städ­ti­sche Muse­um, und das Medail­lon­bild in den Saal der Stadt­ver­ord­ne­ten.“ Es wur­de eine Gedenk­ta­fel gefer­tigt, die „in sein Haus in der Tuch­ma­cher­stra­ße ein­ge­setzt, und am 20. März, sei­nem Geburts­ta­ge, mit einer ange­mes­se­nen Fei­er­lich­keit ent­hüllt“ wur­de. Es wur­den Gedenk­re­den gehal­ten und gedruckt :  zu sei­nem Tode, zur 10. Wie­der­kehr sei­nes Todes und auch 1901, zu sei­nem 100. Geburtstag.

Als Theo­dor Kut­ten­keu­ler 1913 sei­ne Dis­ser­ta­ti­on Bogu­mil Goltz :  Leben und Wer­ke vor­leg­te, konn­te er die gesam­te schrift­li­che Hin­ter­las­sen­schaft des Autors durch­fors­ten, die sich damals in Pri­vat­be­sitz befand. Die­se vom Coppernicus-Verein her­aus­ge­ge­be­ne und im Ver­lag Kafe­mann in Dan­zig ver­öf­fent­lich­te Arbeit bil­det ein Fun­da­ment der Kennt­nis­se über Goltz. 1926 erschien in den Mit­tei­lun­gen des Copernicus-­Vereins Arthur Semraus Auf­satz „Bogu­mil Goltz und die Frau­en“. Dar­in erfährt man auch etwas von jüdi­schen Kauf­manns­frau­en, denen Bogu­mil Goltz eng ver­bun­den war. Die­ser Auf­satz gibt ins­ge­samt tie­fe­re Ein­bli­cke in die kul­tu­rel­len und gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se des 19. Jahrhunderts.

1938 erschien in der in Posen ver­leg­ten Deut­schen wis­sen­schaft­li­chen Zeit­schrift für Polen ein Bericht von Rein­hold Heu­er „Aus unver­öf­fent­lich­ten Brie­fen von Bogu­mil Goltz“. Die­sen Bestand hat­te die Städ­ti­sche Copernicus-Bibliothek in Thorn drei Jah­re zuvor erwor­ben. Es han­delt sich dabei um 27 Brie­fe des Schrift­stel­lers an Emil Kuh in Wien, der vor allem als Bio­graph von Fried­rich Heb­bel bekannt gewor­den ist und der Goltz bei sei­nen Lese- und Vor­trags­rei­sen in Öster­reich unter­stützt hatte.

Als Ergeb­nis des Ers­ten Welt­krie­ges war Thorn als Teil des „pol­ni­schen Kor­ri­dors“ zum neu erstan­de­nen Polen gekom­men. Durch Abwan­de­run­gen nahm die Zahl der Deut­schen in die­sem Raum ab. Die Fol­gen des Zwei­ten Welt­krie­ges waren noch ein­schnei­den­der. Die Gedenk­ta­fel am Wohn­haus ver­schwand, und der Grab­stein von Bogu­mil Goltz auf dem Sankt-Georgs-Friedhof wur­de gemein­sam mit den meis­ten ande­ren deut­schen Grab­stei­nen zer­stört. Von den in den Wes­ten geflo­he­nen Deut­schen über­nah­men eini­ge die Auf­ga­be, die Erin­ne­rung an die ver­lo­re­ne Hei­mat zu pfle­gen. Dazu gehör­ten auch häu­fi­ger Tex­te über den Schrift­stel­ler Bogu­mil Goltz, die haupt­säch­lich im West­preu­ßen, in den Ost­deut­schen Monats­hef­ten und im Westpreußen-Jahrbuch ver­öf­fent­licht wur­den. Beson­ders taten sich dabei Wer­ner Schie­ne­mann und Rudolf Tren­kel her­vor. Die­se älte­re Gene­ra­ti­on der Thor­ner Goltz-Freunde ist inzwi­schen ver­stor­ben, und so ist es all­mäh­lich um die­sen west­preu­ßi­schen Schrift­stel­ler recht still geworden.

29 unruhige Jahre im Leben des Bogumil Goltz

Bogu­mil Goltz war – am 20. März 1801 – in War­schau gebo­ren wor­den, weil sein Vater Karl Gott­lieb Goltz 1795 als Stadt­ge­richts­di­rek­tor, d. h. als Lei­ter des Jus­tiz­we­sens, nach War­schau gekom­men war. Bei der drit­ten Tei­lung und damit Auf­lö­sung Polens hat­te Preu­ßen 1795 auch noch fast ganz Maso­wi­en erhal­ten und sich als „Süd­preu­ßen“ ein­ver­leibt. Bogu­mil war als vier­tes Kind der drit­te Sohn sei­ner Eltern. Sei­ne Mut­ter kam mit dem leb­haf­ten Jun­gen nicht zurecht, so dass er zunächst vor­wie­gend der „Neu­mann­schen“, einem Haus­fak­to­tum, über­las­sen war. Als er gera­de sechs Jah­re alt war, kam er, der den Eltern wei­ter­hin als zu unbän­dig erschien, zu einer befreun­de­ten Fami­lie nach War­schau in „Zucht und Pfle­ge“. Die­se Fami­lie zog aller­dings schon im Früh­jahr 1807 nach Königs­berg in Ost­preu­ßen, so dass Bogu­mil nun dort die Hos­pi­tal­schu­le auf dem Oberha­ber­berg besuch­te. Nach zwei­ein­halb Jah­ren kam er als Sex­ta­ner in die Stadt­schu­le auf dem Knei­phof. Da die Pfle­ge­el­tern mit dem wil­den Kna­ben aber nicht mehr zurecht­ka­men, muss­ten die Eltern Abhil­fe schaf­fen, und so schrieb der Vater am 15. Sep­tem­ber 1810 einem Ver­wand­ten halb scherz­haft :  „Ich habe Bogusch zum Pre­di­ger Jack­stein nach Klein-Tromnau geben müs­sen. Will der ihn nicht behal­ten, so kommt er nach Grau­denz ins Zuchthaus.“

Um sein mage­res Ein­kom­men als Dorf­pfar­rer auf­zu­bes­sern, hat­te Jack­stein ein Kna­ben­pen­sio­nat ein­ge­rich­tet. Dort kam Bogusch als sechs­ter – und jüngs­ter – Kna­be unter. Im länd­li­chen Klein-Tromnau, Kr. Rosen­berg, konn­te er sich offen­bar rich­tig aus­to­ben und ent­fal­ten. Der auch im Ort belieb­te Pfar­rer fand wohl einen guten, von Ver­ständ­nis gepräg­ten Kon­takt zu ihm, denn nach mehr als 35 Jah­ren erin­nert sich der frü­he­re Zög­ling noch an Jack­stein und wid­met ihm, „sei­nem lie­be­vol­len Erzie­her, Ihm, dem guten Geni­us sei­ner Kind­heit, dem still­be­schei­den fort­wir­ken­den Men­schen­freun­de, dem ech­ten Mann Got­tes“, sei­ne ers­te Ver­öf­fent­li­chung, das Buch der Kind­heit, „in her­zin­nigs­ter Lie­be und Verehrung“.

Nach nur ein­ein­halb Jah­ren muss­te Bogu­mil aber die­sen Hort wie­der ver­las­sen und kam 1812 nach Mari­en­wer­der, wohin sein Vater 1808 / 09 ver­setzt wor­den war, weil „Süd­preu­ßen“ 1807 bekannt­lich auf­ge­ge­ben wer­den muss­te. Sein Vater nahm ihn in sei­ne her­be, aber kei­nes­falls herz­lo­se Obhut. Drei Jah­re spä­ter, 1815, ging der Sohn aber wie­der nach Königs­berg zurück, die­ses Mal auf das Fried­rich­skol­leg, und wur­de vom Ober­leh­rer Bujack auf­ge­nom­men. Er war frei­lich immer noch der wil­de, unan­ge­pass­te Jun­ge ;  und als er 1816 zum Pre­di­ger Stef­fen in Pen­si­on kam, wur­de das Leben für ihn uner­träg­lich. Auf dring­li­ches Bit­ten hin erreich­te er bei sei­nem Vater, dass er die Schu­le ver­las­sen durf­te, um Land­wirt­schaft zu erlernen.

Im Mai 1817 trat er als Ele­ve sei­ne Aus­bil­dung auf dem rus­si­schen Kronen-Domänenamt Ciech­o­cin an der Dre­wenz an. Der Päch­ter war Karl Fried­rich von Blum­berg, ein Jugend­freund des Vaters. Im Domä­nen­amt gab es aller­dings auch viel Ver­wal­tungs­ar­beit zu erle­di­gen, womit sich Goltz nicht recht anzu­freun­den vermochte.

1819 leis­te­te er sei­nen Wehr­dienst als Ein­jäh­ri­ger beim Infanterie-Bataillon der Fes­tung Grau­denz ab, wo er sogar zum Unter­of­fi­zier beför­dert wur­de. Danach gab ihm von Blum­berg zwar den Pos­ten eines Wirt­schaf­ters, wegen Strei­tig­kei­ten ließ er sich zum Sohn sei­nes Chefs auf das benach­bar­te Gut Bir­glau ver­set­zen. Aber auch dort bekam er Streit. Der Vater mach­te sich um die beruf­li­che Zukunft sei­nes Soh­nes zuneh­mend Sor­gen und dach­te, dass er Beam­ter wer­den könn­te. Die­sem Rat such­te Bogu­mil unter der Anlei­tung sei­nes Schwa­gers, des Pos­t­rendan­ten Zim­mer­mann in Thorn, Fol­ge zu leis­ten. Nach weni­gen Wochen gab er die­sen Plan aller­dings wie­der auf :  Büro­ar­beit lag ihm ein­fach nicht.

1821 reis­te er zu sei­nem Bru­der Karl nach Fürs­ten­wal­de in der Mark, der dort das Bür­ger­meis­ter­amt ver­wal­te­te ;  alle Bemü­hun­gen, dort Fuß zu fas­sen, schei­ter­ten jedoch eben­falls. Dar­auf­hin bekam Bogu­mil die Erlaub­nis, Pri­vat­stun­den bei Pri­man­ern des Thor­ner Gym­na­si­ums zu neh­men, um sich auf ein Uni­ver­si­täts­stu­di­um vor­zu­be­rei­ten. Über­dies fuhr er nach Bres­lau, nahm dort Unter­richt in klas­si­schen Spra­chen und erwarb vor einer Prü­fungs­kom­mis­si­on das Zeug­nis der Rei­fe. Im Früh­jahr 1822 schrieb er sich an der Uni­ver­si­tät Bres­lau als Theo­lo­gie­stu­dent ein, wand­te sich aber, nach­dem er dem Phi­lo­so­phen, Natur­for­scher und Dich­ter Hen­rik Stef­fens (1773–1845) begeg­net war, der Phi­lo­so­phie zu ;  aber auch die­se neue Nei­gung blieb insta­bil :  Schon nach zwei Semes­tern ver­zich­te­te er auf alle wei­te­ren aka­de­mi­schen Aus­bil­dungs­we­ge – und woll­te wie­der Land­wirt werden.

Ein wich­ti­ger Grund für die­se Ent­schei­dung war ver­mut­lich, dass er sich ver­liebt hat­te, und zwar in Ama­lie Jose­phi­ne, die ältes­te Toch­ter von Karl Fried­rich von Blum­berg. Der schnells­te Weg, sie zu hei­ra­ten, war es, zur Land­wirt­schaft zurück­zu­keh­ren. Sein Vater und der Vater sei­ner Braut kauf­ten ihm im Früh­ling 1823 für 14.000 Taler das Rit­ter­gut Lis­se­wo bei Gollub an der Dre­wenz. Am 30. Juni 1823 schon hei­ra­te­te Bogu­mil sei­ne damals 18-jährige Ama­lie Jose­phi­ne. Aller­dings blieb das jun­ge Glück nicht unge­trübt, denn Bogu­mil Goltz for­der­te bei einer Wehr­übung sei­nen Vor­ge­setz­ten zu einem Duell und wur­de dar­auf­hin zu einer drei­jäh­ri­gen Fes­tungs­haft ver­ur­teilt. Des­halb ver­pach­te­te er sein Gut. Nach sechs Mona­ten wur­de er aber vom König begna­digt, so dass ihm die rest­li­che Zeit in Grau­denz erspart blieb. Nun zog Bogu­mil gemein­sam mit sei­ner Frau nach Bres­lau, um wei­te­re Stu­di­en zu trei­ben, fand dort aller­dings auch nicht zu grö­ße­rer Ste­tig­keit. Nach Ablauf der Pacht ver­such­te er sich neu­er­lich als Land­wirt, ent­schloss sich nach anhal­ten­den wirt­schaft­li­chen Miss­erfol­gen letzt­lich, sein Gut 1829 gegen eine Leib­ren­te von 400 Talern auf Lebens­zeit zu ver­kau­fen. Auf der Suche nach einem mög­lichst bil­li­gen Wohn­ort, in dem er von sei­ner klei­nen Ren­te leben könn­te, ent­schied er sich für Gollub.

Ein Autodidakt gelangt zu Erfolg und Ruhm

Ab 1830 wohn­te der noch nicht 30-jährige Bogu­mil Goltz nun als eine Art Früh­rent­ner in Gollub. 1831 ver­brach­te er zwar die drei Som­mer­mo­na­te in Bres­lau, aber hielt sich sonst stets in Gollub auf. Er betrieb breit ange­leg­te Selbst­stu­di­en auf man­nig­fa­chen Gebie­ten. Karl Rosen­kranz, Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor in Königs­berg, mein­te dazu :  „Es ist gren­zen­los, was er in sei­ner Ein­sam­keit alles in sich durch­ge­ar­bei­tet hat.“ Er stu­dier­te und schrieb, und vie­les von dem, was in sei­nen spä­te­ren Büchern zu lesen ist, nahm von hier sei­nen Ursprung. Nach meh­re­ren Jah­ren hat­te er eini­ge Manu­skrip­te abge­schlos­sen und mach­te sich ab 1838 in Ber­lin, Königs­berg oder Dan­zig auf eine – lan­ge Zeit ver­geb­li­che – Suche nach einem Verleger.

Ein ganz eige­nes The­ma schlug der Schrift­stel­ler frei­lich mit sei­nen Schil­de­run­gen und Refle­xio­nen der Kind­heit an. Hier gelang­te er zu Sicht- und Dar­stel­lungs­wei­sen, die bald gro­ße Auf­merk­sam­keit erreg­ten. 1843 las er in Königs­berg beim Schul­rat Lucas erst­mals Tei­le aus sei­nem spä­te­ren Buch der Kind­heit vor. Sie müs­sen wohl sehr posi­tiv auf­ge­nom­men wor­den sein, denn er setz­te die Arbeit dar­an inten­siv fort. Auch für die­ses Pro­jekt fand er weder in Königs­berg noch in Ber­lin einen Ver­le­ger ;  dann aber konn­te es 1847 bei Zim­mer in Frank­furt am Main erschei­nen. Die gute Reso­nanz die­ses Buchs ermu­tig­te Goltz, als frei­er Autor schon im sel­ben Jahr nach Thorn umzusiedeln.

DAS SUJET VON KINDHEIT UND JUGEND Das Buch der Kind­heit, auf das er 1852 Ein Jugend­le­ben, ein drei Bän­de umfas­sen­des bio­gra­phi­sches Idyll aus West­preu­ßen, fol­gen ließ, wur­de Golt­zens nach­hal­tigs­ter Erfolg und sichert sein lite­ra­ri­sches Wei­ter­le­ben bis heu­te. 1908 brach­te es Karl Muthe­si­us (1859–1929) in der Buch­rei­he Biblio­thek päd­ago­gi­scher Klas­si­ker her­aus. Fried­helm Kemp (1914–2011) begann 1964 bei Kösel die Rei­he Lebens­läu­fe. Bio­gra­phien, Erin­ne­run­gen, Brie­fe mit einer Neu­aus­ga­be, die unge­fähr fünf Sechs­tel des Buches ent­hält ;  und 1992 – um noch ein wei­te­res Bei­spiel zu nen­nen – ver­öf­fent­lich­te der in Bres­lau leh­ren­de pol­ni­sche Ger­ma­nist Marek Zybu­ra ( * 1957) in der bei Nico­lai ver­leg­ten Rei­he Deut­sche Biblio­thek des Ostens ein Drit­tel des Buches unter dem Titel Kind­heit in War­schau und Königs­berg. Dar­über hin­aus haben ein­zel­ne Kapi­tel unter wech­seln­den the­ma­ti­schen Aspek­ten in man­nig­fa­che Antho­lo­gien Ein­gang gefun­den und hal­ten auf die­se Wei­se die Erin­ne­rung an Bogu­mil Goltz wach.

Bis heu­te kön­nen sich die Lese­rin­nen und Leser nicht dem beson­de­ren Reiz ent­zie­hen, den das Buch der Kind­heit (wie auch Ein Jugend­le­ben) aus­übt. Der Autor ver­steht es, die Kind­heits­pha­se mit ihrer ganz­heit­li­chen Welt­wahr­neh­mung, mit ihren Träu­men, Phan­ta­sien und inten­si­ven Erleb­nis­sen ernst zu neh­men und vol­ler Respekt zu rekon­stru­ie­ren. Die­se hohe Wert­schät­zung der Kind­heit erin­nert an die Ein­sich­ten, die Jean Paul 1807 in sei­ner Schrift Leva­na oder Erzieh­leh­re nie­der­ge­legt hat­te. Im § 55 heißt es beispielsweise:

Der Lehr- und Brot­herr der Klei­nen han­delt immer, als sei das ordent­li­che Leben des Kin­des als Men­schen noch gar nicht recht ange­gan­gen, son­dern war­te erst dar­auf, daß er sel­ber abge­gan­gen sei und so den Schluß­stein sei­nem Gewöl­be ein­set­ze. […] Him­mel !  Wo ein Mensch ist, da fängt die Ewig­keit an, nicht ein­mal die Zeit. Folg­lich ist das Spie­len und Trei­ben der Kin­der so ernst- und gehalt­voll an sich und in Bezie­hung auf ihre Zukunft als unse­res auf unsere.

Im Span­nungs­feld zwi­schen der Ver­ge­gen­wär­ti­gung des kind­li­chen Emp­fin­dens, Wol­lens und Den­kens und der Refle­xi­on des Erwach­se­nen, der die­sem frü­he­ren Zustand sehn­suchts­voll nach­spürt, gewinnt jedes noch so banal schei­nen­de Detail, jeder Vor­gang in der Natur, jeder auf­tre­ten­de Cha­rak­ter oder jede atmo­sphä­ri­sche Stim­mung, eine eige­ne Bedeu­tung, einen spe­zi­fi­schen Wert. Getra­gen und durch­pulst wer­den die­se Aus­füh­run­gen zudem von einer star­ken Begeis­te­rung, die bei Goltz oft mit einer Rhe­to­rik des empha­ti­schen, wenn nicht enthu­si­as­ti­schen Spre­chens ver­schwis­tert erscheint. Die­sen Zusam­men­hang akzen­tu­iert der Schrift­stel­ler Fried­rich Lien­hard (1865–1929), der 1904 für die anspre­chen­de Rei­he Bücher der Weis­heit und Schön­heit eine Aus­wahl von Goltz-Schriften besorg­te und in sei­nem Vor­wort aus einem Brief von Schil­ler an sei­nen Dresd­ner Freund Chris­ti­an Kör­ner den fol­gen­den Satz zitiert :  „Dan­ken Sie dem Him­mel für das bes­te Geschenk, das er Ihnen ver­lei­hen konn­te, für das glück­li­che Talent zur Begeis­te­rung. Sehen Sie, bes­ter Freund, unse­re See­le ist für etwas Höhe­res da, als bloß den uni­for­men Takt der Maschi­ne zu halten.“

Die­se „Begeis­te­rung“ bedeu­tet für Goltz kei­nes­wegs eine Distan­zie­rung von den Nie­de­run­gen des Lebens, ein Stre­ben nach dem Höhe­ren, son­dern eine ver­ein­heit­li­chen­de Kraft, die bei­de Berei­che umfasst und zur Syn­the­sis bringt. Die­se Grund­vor­stel­lung for­mu­liert er im Kapi­tel „Aller­lei His­to­ri­en und Kinder-Erlebniß“ des Buchs der Kind­heit (im Abschnitt „Mei­ner Mut­ter Amme“) fol­gen­der­ma­ßen
(S. 375f.) : 

Alles Gedei­hen komm hie­nie­den von unten und oben zugleich. Wo nicht Mate­rie und Geist, Herz und Ver­nunft, das Natür­li­che und das Ueber­na­tür­li­che, das Gemei­ne und das Unge­mei­ne, wo nicht Volks- und Her­ren­le­ben, Schul- und Mut­ter­witz und alle Gegen­sät­ze inein­an­der spie­len und mit­sam­men im Geschäft sind, da gibt es über kurz oder lang immer nur ein Extrem der Bru­ta­li­tät oder der Ueber­fei­ne­rung, eine Bar­ba­rei der Roh­heit, oder eine sol­che der Hypercivilisation !

Die­se Über­zeu­gung steht im engs­ten Zusam­men­hang mit einem unver­brüch­li­chen huma­nis­ti­schen Men­schen­bild :  „Wo ich immer nur einen ech­ten Men­schen und einen glück­li­chen Geni­us ken­nen lern­te, da fand ich auch in ihm einen gebo­re­nen Men­schen­freund.“ Dabei wen­det sich Goltz auch aus­drück­lich den unte­ren Schich­ten zu und begeg­net ihnen mit Ver­ständ­nis und nicht zuletzt Sym­pa­thie. So lässt er sei­ne Lese­rin­nen und Leser inner­halb des genann­ten Abschnitts „einen Blick in die Armuth und Elen­dig­keit des Vol­kes thun“ (S. 380f.):  „Mir gegen­über woh­nen ver­arm­te Hand­werks­leu­te, blut­ar­me Men­schen.“ Deren Kin­der „ver­füh­ren dicht unter mei­nem nied­ri­gen Fens­ter einen Lär­men und Skan­dal, daß ich weder schrei­ben noch lesen kann“. Nach­dem sogar eine Fens­ter­schei­be zu Bruch gegan­gen ist, macht der Autor der Mut­ter „eini­ge men­schen­freund­li­che Vor­schlä­ge zu einer mehr hand­greif­li­chen Hand­ha­bung der Kin­der­zucht“. Davon lässt er aber „bald beschämt und betrof­fen“ ab, weil ihm „die Frau in ruhi­ger Wei­se“ entgegnet:

Bes­ter Herr, das sagen Sie so, aber ich kann mei­ne Kin­der nicht zie­hen. Sie machen Teu­fels­zeug, es ist wahr, aber wie soll ich sie schla­gen, wenn ich ihnen nicht halb­satt zu essen geben kann, und mein Mann, wenn der betrun­ken ist, so schlägt er sie schon halb todt. Es ist ja nur Haut und Kno­chen an den Bäl­gen. Mir will manch­mal das Herz bre­chen, wenn ich beden­ke, wo die Kin­der noch die Lust und die Kraft her­be­kom­men, mit hung­ri­gem Magen und halb­na­ckend so viel Spek­ta­kel zu machen. Was sollt’ denn aus ihnen wer­den, wenn sie sich das Elend zu Kopf neh­men möchten ? 

Ange­sichts die­ser Ein­sicht gelangt der Autor zu dem Schluss: „Ohne Sym­pa­thie aber für das arme Volk und die die­nen­de Klas­se ist der soge­nann­te Gebil­de­te und der Vor­neh­me nur eine tod­te Pup­pe und kein rich­ti­ger Mensch!“

DIE ERKLÄRUNG DER WELT Von sei­nem schrift­stel­le­ri­schen Durch­bruch an hat Bogu­mil Goltz eine umfang­rei­che Rei­he von Büchern ver­öf­fent­licht, die auf brei­tes Inter­es­se stie­ßen und zum Teil in meh­re­ren Auf­la­gen erschie­nen sind. Die Digi­ta­li­sie­rung gan­zer Biblio­the­ken hat dazu geführt, dass die­se Schrif­ten mitt­ler­wei­le im Inter­net wie­der leicht zugäng­lich gewor­den sind. Wenn man sich auf die Lek­tü­re die­ser Schrif­ten neu­er­lich ein­lässt, tre­ten zwei Schwer­punk­te her­vor, an denen Grund­la­gen des Den­kens und Argu­men­tie­rens ver­an­schau­licht wer­den können.

1847, im glei­chen Jahr, in dem Das Buch der Kind­heit erscheint, ver­legt Hein­rich Zim­mer in Frank­furt a. M. auch eine Mono­gra­phie, die eines der Grund­the­men anschlägt. Ihr Titel lau­tet :  Deut­sche Ent­ar­tung in der licht­freund­li­chen und moder­nen Lebens­art. An den moder­nen Stich­wör­tern gezeigt. Dar­in wen­det sich Goltz ent­schie­den gegen die ein­sei­ti­ge, unge­bän­dig­te Frei­set­zung „auf­klä­re­ri­scher“ Bemü­hun­gen (S. 84):

Die neu­en Pro­phe­ten […] gefal­len sich ein­zig und allein nur in Einem :  In einem Extrem von Ver­stand, von Käl­te, von Unru­he, von Moder­ni­tät und Säku­la­ri­sa­ti­on, in einer Verl­äug­nung alles Natur- und Got­tes­in­stinkts, in einer Ablö­sung aller Geschich­ten Him­mels und der Erden, in dem künst­li­chen und grel­len Phos­phor­licht einer Societäts-Philosophie und Schul­ver­nünf­tig­keit, in einem Lich­te, an wel­chem die uralte Fins­ter­niß viel unheim­li­cher sicht­bar wird, als im natür­li­chen Licht­dun­kel der alten, der bibli­schen und his­to­ri­schen Zeit.

Dass Goltz, der sich frü­her dem Stu­di­um der Theo­lo­gie zuge­wandt hat­te, den Glau­ben vor aller „fort­schritt­li­chen“ Reli­gi­ons­kri­tik und Zer­glie­de­rung der „neu­en Pro­phe­ten“ schüt­zen will, beruht auf einer kon­ser­va­ti­ven Grund­hal­tung des Autors, die nicht nur auf Dog­men basiert, son­dern aus dem indi­vi­du­el­len Erleb­nis des Wun­der­ba­ren gespeist wird und sich durch die Vor­stel­lung einer Ein­heit, die auch Gegen­sät­ze zu über­wöl­ben ver­mag, Über­gän­ge in die Phi­lo­so­phie offen­hält (S. 161) :  „All über­all ein Wun­der, das uns ersti­cken, das uns blöd­sin­nig oder toll machen müss­te, wenn es noch etwas ande­res gäbe als eben das Wun­der! Oder sol­len wir uns gegen See­le und Leib empö­ren, blos weil wir nicht demons­tri­ren kön­nen, wie Bei­de Eines und Zwei zugleich sind.“

Der Respekt vor der Gesamt­heit der als Schöp­fung ver­stan­de­nen Erschei­nungs­welt for­dert einer­seits eine uni­ver­sel­le huma­nis­ti­sche Ori­en­tie­rung des Men­schen, wie sie sich z. B. schon in der dezi­dier­ten Wahr­neh­mung der „Armuth und Elen­dig­keit des Vol­kes“ gezeigt hat ;  ande­rer­seits ist er ein stän­di­ger Quell ehr­fürch­ti­gen Stau­nens. In der zwei­bän­di­gen Publi­ka­ti­on Zur Geschich­te und Cha­rak­te­ris­tik des deut­schen Geni­us. Eine eth­no­gra­phi­sche Stu­die, die 1864 als 2. Auf­la­ge der Stu­die über Die Deut­schen (1860) erschie­nen ist, rekur­riert Goltz im XVII. Kapi­tel – „Die deut­sche Mys­tik und die moder­ne Licht­freund­lich­keit mit Glos­sen ver­se­hen“ – auf sei­ne soeben zitier­te Aus­sa­ge, dass „All über­all ein Wun­der“ zu bestau­nen sei, und fügt nun die fol­gen­de Beob­ach­tung und Refle­xi­on an (II. Bd., S. 154) :

Eben rennt mir eine zin­no­ber­ro­the Spin­ne über das Papier, die so groß ist wie ein Steck­na­del­kopf, als ich der tau­send­fi­xen Crea­tur mit dem Fin­ger nahe kom­me, steht sie plötz­lich erschro­cken still, stellt sich, auf den Rücken gelegt, regungs­los todt. – Also ein Wurm, wel­cher alle Augen­bli­cke, aus den spie­len­den Bild­kräf­ten der Natur her­vor­geht, der wehrt sich sei­nes Lebens, der fühlt sich von anderm Dasein unter­schie­den, der hat Todes­schreck und Lebens­lis­ten, der hat Nerven-Apparate, ist eine Welt im Klei­nen, und doch nur aus ein Paar Stäub­chen in ein Paar Augen­bli­cken zusam­men­ge­bla­sen ;  begrei­fe das, beru­hi­ge sich dar­über wer will und kann, mich machts gläu­big und dumm.

Die fes­te mora­li­sche, christlich-humanistische Bot­schaft des Autors ist eng mit einer Welt­sicht ver­schränkt, die von einem wohl­ge­ord­ne­ten, typo­lo­gisch erfass­ba­ren Kos­mos aus­geht und die den zwei­ten Flucht­punkt sei­ner Schrif­ten bil­det. Ob Goltz, wie soeben zitiert, die „Cha­rak­te­ris­tik des deut­schen Geni­us“ erläu­tert, ob er – unter dem Titel Der Mensch und die Leu­te – die „Cha­rak­te­ris­tik der bar­ba­ri­schen und der civi­li­sir­ten Natio­nen“ (1858) erschließt oder ob er 1859 ein Buch Zur Cha­rak­te­ris­tik und Natur­ge­schich­te der Frau­en publi­ziert, das bis 1904 immer­hin noch sechs Auf­la­gen erlebt – stets ist sein Blick auf das Gan­ze gerich­tet und stets gehen sei­ne sys­te­ma­ti­schen Unter­glie­de­run­gen wider­spruchs­frei und rest­los auf.

Dabei bringt er eine Fül­le auf­schluss­rei­cher psy­cho­lo­gi­scher Beob­ach­tun­gen ein, die er – wie schon in den Büchern zu Kind­heit und Jugend­zeit – mit gro­ßer Sen­si­bi­li­tät anstellt und schil­dert ;  zugleich frei­lich geht er von natio­na­len Hier­ar­chien aus, die dem Deutsch­tum regel­mä­ßig den obers­ten Rang zuwei­sen. Die­sen Dop­pel­aspekt soll das fol­gen­de Bei­spiel aus Der Mensch und die Leu­te erhel­len. Im Abschnitt „Zur Natur- und Kul­tur­ge­schich­te der Polen“ (S. 376–413) dis­ku­tiert Goltz unter vie­ler­lei Aspek­ten auch die Dif­fe­renz zwi­schen deut­schen und pol­ni­schen Tän­zern ein. Dabei skiz­ziert er vari­an­ten­reich und mit wohl­ge­setz­ten sati­ri­schen Stri­chen, dass „die deut­sche Gründ­lich­keit und Schwer­fäl­lig­keit, die deut­sche Oeko­no­mie, […] beim Tanz-Vergnügen kei­ne lus­ti­ge Figur“ macht (S. 382). Die­ser „Karikatur-Wahrheit“ (ebd.) setzt er sein Bild des Polen gegen­über :  Bei ihm erscheint „die gan­ze Gestalt im Schmelz der Lei­den­schaft und des Ver­gnü­gens“, und man begreift, „daß sei­ne Kör­per­be­we­gun­gen nur die Ver­sinn­bild­li­chung des rhyth­mi­schen und idea­len Lebens sind, wel­che die gan­ze See­le hin­ge­nom­men hat“.

Die­se ent­schie­de­nen Vor­zü­ge in der Unbe­fan­gen­heit und Natür­lich­keit haben natür­lich qua­si ihren Preis ;  denn zwangs­läu­fig erwei­sen sich dann in Berei­chen, in denen die Deut­schen bril­lie­ren, erheb­li­che Defi­zi­te (S. 384) :

Für Alles, was Ver­nunft im engern und bestimm­tern Sin­ne heißt, für Alles was zum Sche­ma­tis­mus, zur Logik und Gram­ma­tik gehört, was Dis­zi­plin, Sys­tem und Metho­de genannt wird, hat die­se all­zu natür­li­che Polen-Race nur ein unmäch­ti­ges Organ, eine schwäch­li­che Constitution.

Wie in einem Brenn­spie­gel zeigt die­ser kur­ze Absatz, wie vor­züg­lich das typo­lo­gi­sie­ren­de Ver­fah­ren die Welt erschließt und „erklärt“ :  Sprach­lich vir­tu­os, höchst bele­sen und in abwechs­lungs­rei­chen Arran­ge­ments schil­dert Goltz die „Cha­rak­te­ris­tik“ von Men­schen, Geschlech­tern und Völ­kern – und fällt dabei Urtei­le, bei denen er sicher sein kann, dass sie mit den Vor-Urteilen sei­ner Lese­rin­nen und Leser aufs Schöns­te übereinstimmen.

Dies dürf­te der wich­tigs­te Grund dafür sein, dass die­se Titel heu­te vor allem noch aus kul­tur­his­to­ri­schen Inter­es­sen her­aus rezi­piert wer­den: In lang­wie­ri­gen Pro­zes­sen hat sich seit der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts all­mäh­lich die Erkennt­nis durch­ge­setzt, dass das meis­te von dem, was ver­meint­lich als natur­ge­ge­ben, als „cha­rak­te­ris­tisch“ gegol­ten hat, auf gesell­schaft­li­chen Kon­ven­tio­nen und ideo­lo­gi­schen Kon­struk­tio­nen beruht. Hin­ter die­se Ein­sicht kön­nen wir bei unse­rer Goltz-Lektüre schwer­lich noch zurück.

DER RHAPSODE  Das Bild von Bogu­mil Goltz wäre lücken­haft, wenn nicht auch sei­ner Tätig­keit als Vor­trags­künst­ler gedacht wür­de. Schon vor der Ver­öf­fent­li­chung sei­nes ers­ten Buches muss ihm auf­ge­fal­len sein, dass er zu öffent­li­chen Auf­trit­ten Talent hat­te – und dass sich damit Geld ver­die­nen ließ, das er gut gebrau­chen konn­te, zumal er zwei Pfle­ge­töch­ter hat­te und arme Ver­wand­te unter­stütz­te. Mit­te des 19. Jahr­hun­derts fan­den sol­che Ver­an­stal­tun­gen gro­ße Reso­nanz, weil sich dafür ein hin­läng­lich gro­ßes – und zah­lungs­wil­li­ges – bür­ger­li­ches Publi­kum gebil­det hat­te, das sich ger­ne in unter­schied­li­chen Kunst-Sparten von „Vir­tuo­sen“ fas­zi­nie­ren ließ. Zudem war die­se Zeit – in der 1851 die ers­te Welt­aus­stel­lung ver­an­stal­tet wur­de – dar­auf aus, Ver­kehrs­we­ge zu erschlie­ßen, und eröff­ne­te dadurch Chan­cen zu weit­räu­mi­gen und fle­xi­blen Rei­se­pla­nun­gen. So fuhr Bogu­mil Goltz 1848 nach Frank­reich, wo er mit Vic­tor Hugo zusam­men­traf, sowie nach Lon­don und unter­nahm ein Jahr spä­ter sogar eine Rei­se, auf der er Ägyp­ten, Ita­li­en und Sizi­li­en besuch­te. (Aus die­sen Erfah­run­gen resul­tiert die 1853 erschie­ne­ne Mono­gra­phie Ein Klein­städ­ter in Ägyp­ten.) Dar­über hin­aus absol­vier­te er – seit 1860 fast Jahr für Jahr – regel­rech­te Vor­trags­tour­neen, die ihn durch den gesam­ten deutsch­spra­chi­gen Raum – von Til­sit bis nach Press­burg und von Ham­burg bis nach Tri­est führ­ten. Dabei ent­wi­ckel­te Goltz einen gut orga­ni­sier­ten Betrieb, bei dem Hel­fer vor Ort Säle anmie­te­ten und ent­spre­chen­de Anzei­gen in den Zei­tun­gen schalteten.

Bogu­mil Goltz war von statt­li­cher Erschei­nung, hat­te eine mar­kan­te Haken­na­se und eine regio­nal gefärb­te Aus­spra­che. – In sei­nen Lebens­er­in­ne­run­gen (pos­tum 1906) schrieb Moritz Laza­rus (1824–1903) :

Spä­ter kam Goltz nach Ber­lin und besuch­te mich. Er war im Gespräch dadurch aus­ge­zeich­net, daß er sich nicht nur wie in sei­nen Schrif­ten durch gro­ße Über­trei­bung her­vor­tat, son­dern sei­ne ful­mi­nan­ten Redens­ar­ten auch mit der größ­ten Vehe­menz her­vor­stieß. Dabei hat­te er die Gewohn­heit, wie vie­le Slaven, sehr sanft und nahe­zu ton­los eine Kon­ver­sa­ti­on zu begin­nen, um dann all­mäh­lich in ein cre­scen­do zu ver­fal­len, das sich schließ­lich zu einem förm­li­chen Brül­len steigerte.

Zu sei­nem Publi­kum gehör­ten auch Fried­rich Heb­bel, Edu­ard Möri­ke, Gott­fried Kel­ler oder Hoff­mann von Fal­lers­le­ben, die die­ser Rhe­tor zu beein­dru­cken wuss­te. Die frap­pie­ren­de Wir­kung, die die­se Ver­an­stal­tun­gen aus­üb­ten, wird noch in den fol­gen­den For­mu­lie­run­gen spür­bar, die Hya­c­in­th Hol­land 1879, nur weni­ge Jah­re nach Golt­zens Tod, in des­sen Wür­di­gung für die All­ge­mei­ne Deut­sche Bio­gra­phie (Bd. 9, S. 353ff.) fand :

Wo er auf sei­nen Wan­der­zü­gen erschien, über­rasch­te und ver­blüff­te er mit geplan­ten oder extem­po­ri­sir­ten Vor­le­sun­gen, wel­che nicht sel­ten zu fes­seln­den, immer neu­en, spru­deln­den socra­ti­schen Paroxis­men anschwol­len, bis der wun­der­li­che Mann, wel­cher stun­den­lang und aus­schlie­ßend das Wort geführt hat­te, mit herz­li­chem Dank für die ihm gewähr­te köst­li­che Unter­hal­tung eben­so schnell wie­der ver­schwand als er gekom­men war. (S. 354 )

Die­se Cha­rak­te­ri­sie­rung von Goltz als Rhap­so­den berührt sich mit Hol­lands Ein­schät­zung des Schrift­stel­lers, bei dem ihm zwar „Maß und Form, der Alles ver­bin­den­de kla­re Faden“ feh­len (S. 355), bei dem er – von dem auch schon der Haupt­ti­tel die­ses Bei­trags ent­lehnt ist – aber immer­hin zu einer Ein­schät­zung die­ses viel­ge­stal­ti­gen West­preu­ßen gelangt, die hin­ter unse­re Betrach­tun­gen mit Fug und Recht einen wür­di­gen Schluss­punkt zu set­zen ver­mag (S. 354f.) :

Mit den von ihm ver­schleu­der­ten Geis­tes­fun­ken hät­ten ein Halb­dut­zend ande­rer Men­schen immer­hin ein hüb­sches Geschäft begrün­det, hät­ten sich bei eini­ger Indus­trie und Vor­sicht rühm­lich her­vor­gethan und wären am Ende gar noch „deut­sche Clas­si­ker“ und in Minia­tur­aus­ga­ben unsterb­lich gewor­den. […] Sein Unglück war die Ueber­fül­le sei­nes Geis­tes und sei­ner Kraft;  sein größ­ter Feh­ler, daß er damit nie haus­häl­te­risch zu Wer­ke ging.

Wenn die Über­fül­le ein „Unglück“ und der ver­schwen­de­ri­sche Umgang mit den eige­nen Gaben ein „Feh­ler“ gewe­sen sind, ist dies kei­nes­wegs das Schlech­tes­te, was die Nach­welt über einen Schrift­stel­ler sagen kann.

 Alle Zitate aus den Schriften von Bogumil Goltz ­folgen der Orthografie und Interpunktion der jeweiligen Erstausgaben.


Im jüngsten Westpreußen-Jahrbuch (2017 / 18) ist ein Beitrag über „Bogumil Goltz und die Juden“ erschienen. Er stammt von Andreas Koerner, der in den letzten Jahren auch als DW-Autor hervorgetreten ist. Seit langer Zeit ist er mit Bogumil Goltz vertraut, und diese hohe Affinität ist ihm in gewisser Weise sogar schon in Zufälligkeiten der Familiengeschichte vorgezeichnet gewesen: Sein Geburtsort Hofleben liegt zwischen Thorn und Gollub; und Bogumil Goltz wohnte von 1847 bis 1850 im Haus des Urgroßvaters, Neustädtischer Markt 3, in Thorn. So war es selbstverständlich, dass wir Andreas Koerner gebeten haben, zum 150. Todestag eine ausführliche Einführung in die bewegte Biographie und das vielschichtige Œuvre dieses explizit westpreußischen Schriftstellers zu verfassen.

Die DW-Redaktion