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„Der Geist von Rache und Erniedrigung“

Vor 100 Jahren – Das Ende von Westpreußen (1): Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und der „Friedensvertrag“ von 1919

Von Martin Koschny

Als am 28. Juni 1919 im Spie­gel­saal des Schlos­ses von Ver­sailles der „Ver­sailler Ver­trag“ durch die Unter­schrif­ten der Bevoll­mäch­tig­ten aus 33 Dele­ga­tio­nen beschlos­sen wur­de, gab man sich nur all­zu bereit­wil­lig der Illu­si­on hin, damit eine neue Welt­ord­nung auf dem Grund­satz der Gleich­be­rech­ti­gung und Selbst­be­stim­mung der Völ­ker geschaf­fen zu haben. Deutsch­land, als Haupt­schul­di­ger am Kriegs­aus­bruch, soll­te geschwächt und zur „Wiedergut­machung“ ver­pflich­tet wer­den. Obers­tes Cre­do die­ser neu­en Welt­ord­nung bestand dar­in, in Zukunft die Wahrschein­lichkeit für einen ver­gleich­ba­ren Waf­fen­gang so gut wie unmög­lich zu machen.

Die Rea­li­tät sah bereits kurz nach dem Inkraft­tre­ten der Frie­dens­ord­nung ganz anders aus. Die Tin­te war noch nicht getrock­net, da ließ sich kaum jemand fin­den, der bereit gewe­sen wäre, das Ver­trags­werk zu ver­tei­di­gen. In Deutsch­land bil­de­te sich rasch eine „Anti-Versailles-Koalition“, die alle Gesell­schafts­schich­ten erreich­te. Selbst inner­halb des alli­ier­ten Lagers war­fen sich die Poli­ti­ker gegen­sei­tig vor, für einen schlech­ten Frie­den ver­ant­wort­lich zu sein. Den einen erschien er als zu hart, den ande­ren wie­der­um als zu mild. Es ver­wun­dert daher kaum, wenn von über­all Stim­men laut wur­den, die im Ver­trags­werk eine Ansamm­lung fau­ler Kom­pro­mis­se sahen. Bei­spiel­haft für die­se Ent­täu­schung steht die fol­gen­de Aus­sa­ge des ame­ri­ka­ni­schen Jour­na­lis­ten und Poli­ti­kers Wil­liam
A. White, der 1919 im Gefol­ge des ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Wood­row Wil­son nach Paris gereist war:

Wir haben so gro­ße Hoff­nun­gen auf die­ses Unter­neh­men gesetzt; wir haben geglaubt, Gott selbst hat uns geru­fen; und nun, am Ende, müs­sen wir die schmut­zigs­te Arbeit der Höl­le ver­rich­ten: Men­schen aus­hun­gern, Besitz von Gebie­ten ergrei­fen – oder unse­ren Freun­den dabei hel­fen; wir sind dabei, wenn der Geist von Rache und Ernied­ri­gung auch die­sen Krieg mit der nicht enden­den Ket­te von Krie­gen ver­bin­det, die zurück­führt bis zu Kain [und Abel].

Für den bri­ti­schen Kul­tur­theo­re­ti­ker und Geschichts­philosophen Arnold Joseph Toyn­bee, der der bri­ti­schen Dele­ga­ti­on ange­hör­te, war die Frie­dens­kon­fe­renz „a soul des­troy­ing affair“ [eine see­len­zer­stö­ren­de Angelegenheit].

So stand und steht Ver­sailles im öffent­li­chen Bewusst­sein stell­ver­tre­tend für einen Dik­tat­frie­den der Sie­ger­mäch­te, mit dem die Ver­lie­rer des Krie­ges nach­hal­tig bestraft wer­den soll­ten. Die Insze­nie­rung des Unter­zeich­nungs­ak­tes, dem es nicht an Sym­bo­lik fehl­te, stand am Beginn die­ser Bestra­fung. Im Spie­gel­saal von Ver­sailles – dem Ort der Pro­kla­ma­ti­on des Deut­schen Rei­ches 1871 – muss­te die besieg­te deut­sche Sei­te durch die Unter­schrif­ten der Bevoll­mäch­tig­ten Her­mann Mül­ler (Reichs­au­ßen­mi­nis­ter, Sozi­al­de­mo­krat) und Dr. Johan­nes Bell (Zen­trum) einen Ver­trag unter­zeich­nen, der aus deut­scher Sicht als dra­ko­nisch emp­fun­den wur­de. Ein Augen­zeu­ge, der engs­te Bera­ter Wood­row Wil­sons, Oberst Edward House, hat­te zum Unter­zeich­nungs­akt bemerkt: „Ich wünsch­te, es wäre ein­fa­cher gewe­sen und ein Ele­ment der Rit­ter­lich­keit hät­te nicht gefehlt, das völ­lig man­gel­te. Die Affä­re war sorg­fäl­tig insze­niert und war so gestal­tet, daß sie für den Geg­ner so demü­ti­gend wie mög­lich war.“ Kom­plet­tiert wur­de die Sym­bo­lik durch eine Grup­pe schwer­be­schä­dig­ter fran­zö­si­scher Sol­da­ten. Die­se, in einer Fens­ter­ni­sche plat­ziert, soll­ten an die Opfer und das Leid mah­nen, wel­ches nun gesühnt wer­den würde.

Das wesent­li­che Merk­mal des Frie­dens­schlus­ses lag also dar­in, die Demü­ti­gung Deutsch­lands sicht­bar zu machen. Dabei waren es weni­ger die unge­heu­ren mate­ri­el­len Belas­tun­gen, die auf­er­legt wur­den – Gebiets­ab­tre­tun­gen sowie Kriegs­ent­schä­di­gun­gen gab es auch in frü­he­rer Zeit. Die ver­gif­ten­de Wir­kung lag viel­mehr in den bis dahin unüb­li­chen For­men des Vor­ge­hens wäh­rend der Ver­hand­lun­gen und beim Ver­trags­schluss. Durch die Ent­schei­dun­gen der Frie­dens­kon­fe­renz wur­den der Hass und die Gegen­sät­ze, nicht nur zwi­schen Deutsch­land und Frank­reich, son­dern auch weit über Euro­pa hin­aus, nicht abge­baut. Neu­es Kon­flikt­po­ten­ti­al und wei­te­re Span­nun­gen tra­ten in der Fol­ge auf, die weit in das 20. Jahr­hun­dert hin­ein­wir­ken sollten.

Der Weg aus dem Krieg

Wäh­rend der Kämp­fe zwi­schen 1914 bis 1918 war noch von kei­ner der kriegs­füh­ren­den Par­tei­en eine Ver­stän­di­gung zu erwar­ten. Zu fixiert ver­folg­ten sowohl die Alli­ier­ten wie auch die Mit­tel­mäch­te ihre Kriegs­zie­le. Der Aus­bruch der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on und das anschlie­ßen­de Aus­schei­den Russ­lands aus dem Krieg, die Sie­ge gegen Rumä­ni­en und Ita­li­en, lie­ßen auf deut­scher Sei­te die Hoff­nun­gen auf einen bal­di­gen Sieg­frie­den auch an der West­front stei­gen. Die Vor­stel­lung, durch eine letz­te gro­ße Kraft­an­stren­gung – eine gro­ße deut­sche Offen­si­ve wur­de für Ende 1917 geplant – den Krieg mit einem deut­schen Sieg zu been­den, half die zuvor bereits auf­kom­men­de Resi­gna­ti­on im Heer und in der Hei­mat für den Augen­blick zu über­win­den. Aus­sich­ten, den Krieg mit­hil­fe eines Ver­stän­di­gungs­frie­dens been­den zu kön­nen, wur­den um die Jah­res­wen­de 1917/18 auf deut­scher Sei­te kaum ver­folgt. Die immer noch hoch gesteck­ten deut­schen Kriegs­zie­le gaben den Blick auf solch eine Alter­na­ti­ve nicht frei.

Nicht anders stan­den die Din­ge auf Sei­ten der Alli­ier­ten. Trotz der zeit­wei­se pre­kä­ren Lage lässt sich dort kei­ne gro­ße Ver­stän­di­gungs­be­reit­schaft für einen Frie­dens­schluss erken­nen. Die Kriegs­ziel­for­de­run­gen waren auch hier hoch ange­setzt. Deren Rea­li­sie­rung konn­te nur durch eine völ­li­ge Nie­der­la­ge der Mit­tel­mäch­te gewähr­leis­tet wer­den. Der Kriegs­ein­tritt der Ver­ei­nig­ten Staa­ten 1917 beflü­gel­te zusätz­lich die Aus­sich­ten auf einen sol­chen Sieg.

Eine Abkehr von der offen­si­ven Kriegs­füh­rung lag im Win­ter 1917/18 somit noch für bei­de Par­tei­en in wei­ter Fer­ne. Erst das Schei­tern der groß ange­leg­ten deut­schen Offen­si­ve am 5. April 1918 führ­te zu einer Neu­ori­en­tie­rung. In den Rei­hen der Sol­da­ten mach­ten sich Ent­täu­schung und Frus­tra­ti­on breit. Frei­wil­li­ge Gefan­gen­schaf­ten und Deser­tio­nen waren an der Tages­ord­nung. Ein suk­zes­si­ves Zurück­wei­chen der deut­schen Trup­pen an allen Abschnit­ten der West­front war die Fol­ge. Der rasche Zusam­men­bruch der deut­schen Ver­bün­de­ten Bul­ga­ri­en, Österreich-Ungarn und der Tür­kei ver­schärf­te die Situa­ti­on zusätz­lich. Es dau­er­te jedoch noch bis Ende Sep­tem­ber, bis Erich Luden­dorff, der „Ers­te Gene­ral­quar­tier­meis­ter“ des deut­schen Hee­res und Stell­ver­tre­ter Gene­ral­feld­mar­schalls von Hin­den­burgs, zu dem Ein­ge­ständ­nis bereit war, dass der Krieg ver­lo­ren sei. Die deut­schen Sol­da­ten wur­den also – anders als es die beschö­ni­gen­de und objek­tiv fal­sche For­mel vom „im Fel­de unbe­siegt“ aus­drückt – tat­säch­lich im Fel­de geschla­gen. Die­ses Fak­tum des Besiegt-Seins stand somit am Anfang eines Weges, der in Ver­sailles endete.

Vom Waffenstillstandsgesuch zum Waffenstillstandsabkommen

Die dro­hen­de deut­sche Kriegs­nie­der­la­ge setz­te ab Sep­tem­ber 1918 eine Rei­he von Ent­wick­lun­gen in Gang, die noch kurz zuvor undenk­bar schie­nen. Die neue deut­sche Regie­rung (mit Ver­tre­tern des Zen­trums, der Libe­ra­len Fort­schritts­par­tei und der Mehr­heits­so­zi­al­de­mo­kra­tie) rich­te­te nun, bedrängt durch die OHL (Obers­te Hee­res­lei­tung), ein Waf­fen­still­stands­an­ge­bot an den ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Wood­row Wil­son. Bereits im Janu­ar 1918 hat­te die­ser sein „Pro­gramm des Welt­frie­dens“ in den bekann­ten „Vier­zehn Punk­ten“ dar­ge­legt. In ihnen war als Grund­la­ge eines libe­ra­len Frie­dens von Demo­kra­ti­sie­rung der Außen­po­li­tik, frei­em Zugang zu Märk­ten und Roh­stof­fen, Abrüs­tung und Selbst­be­stim­mung die Rede sowie von einem grund­le­gen­den Neu­an­satz in den inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen, einer „all­ge­mei­nen Gesell­schaft der Natio­nen“, die eine insti­tu­tio­nel­le Vor­keh­rung zum schiedlich-friedlichen Kon­flikt­aus­gleich dar­stel­len und allen Staa­ten „Unab­hän­gig­keit und ter­ri­to­ria­le Inte­gri­tät“ garan­tie­ren sollte.

Wil­sons Pro­gramm bot aus deut­scher Sicht einen geeig­ne­ten Ansatz, um den Krieg zu been­den. In einer Note vom 3. Okto­ber 1918 bat die Regie­rung, Wil­son sol­le die Her­stel­lung des Frie­dens in die Hand neh­men und ersuch­te um einen sofor­ti­gen Waf­fen­still­stand zu Lan­de, zu Was­ser und in der Luft.

Im Ergeb­nis fand vom 29. Okto­ber bis zum 4. Novem­ber 1918 in Paris eine inner­al­li­ier­te Kon­fe­renz statt. Die Bera­tun­gen kreis­ten um die 14 Punk­te als Grund­la­ge von Waf­fen­still­stands­be­din­gun­gen und einem Frie­dens­schluss. Nicht ein ein­heit­li­cher Kon­sens, son­dern eher unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen präg­ten die­ses Zusam­men­tref­fen. Die Bri­ten arti­ku­lier­ten vor allem Vor­be­hal­te gegen den Grund­satz der „Frei­heit der Mee­re“, der einen erheb­li­chen Ein­griff in das bri­ti­sche Empire nach sich zie­hen wür­de. Die Fran­zo­sen bestan­den ihrer­seits auf einer mög­lichst umfas­sen­den Defi­ni­ti­on der deut­schen Ver­pflich­tung zu Wie­der­gut­ma­chungs­leis­tun­gen. Schließ­lich waren es die Euro­pä­er, die sich mit ihren For­de­run­gen nach stren­gen Bestim­mun­gen für den Waf­fen­still­stand durch­setz­ten. Wil­sons Pro­gramm soll­te den­noch die Grund­la­ge für einen Frie­dens­schluss mit dem Deut­schen Reich bil­den. Im Wald von Com­piè­g­ne, unweit von Paris, erfolg­te am 8. Novem­ber 1918 dann die Ent­ge­gen­nah­me der Waf­fen­still­stands­be­din­gun­gen durch die deut­schen Bevollmächtigten.

Die sofor­ti­ge Räu­mung aller besetz­ten bel­gi­schen und fran­zö­si­schen Gebie­te wie auch des gesam­ten lin­ken Rhein­ufers inklu­si­ve der drei Brü­cken­köp­fe bei Mainz, Koblenz und Köln, die Zurück­füh­rung des deut­schen Ost­hee­res hin­ter die Gren­ze vom 1. August 1914 (die Räu­mung Rumä­ni­ens, Polens, der Ukrai­ne sowie der bal­ti­schen Staa­ten), eine radi­ka­le Abrüs­tung sowie der Ver­zicht auf die Rege­lun­gen der Frie­dens­ver­trä­ge von Brest-Litowsk und Buka­rest nebst Zusatz­ver­trä­gen gehör­ten zu den Haupt­for­de­run­gen. Bin­nen 72 Stun­den soll­ten die Bedin­gun­gen durch die deut­sche Sei­te ange­nom­men werden.

Am 11. Novem­ber 1918 um 5 Uhr mor­gens wur­de schließ­lich, nach ver­geb­li­chen Ver­su­chen, die Bedin­gun­gen abzu­mil­dern, das Waf­fen­still­stands­ab­kom­men durch die Dele­ga­tio­nen auf bei­den Sei­ten unter­zeich­net. Anfangs nur auf 36 Tage begrenzt, wur­de es in Fol­ge noch drei­mal ver­län­gert, bis es schließ­lich am 16. Febru­ar 1919 auf unbe­grenz­te Zeit fest­ge­setzt wur­de. Die­ses auf­grund eines deut­schen Ersu­chens zustan­de gekom­me­ne Waffenstill­standsabkommen schuf die Vor­aus­set­zung für die nach­fol­gen­de Friedenskonferenz.

Frieden schließen

Erst jetzt, nach­dem die Waf­fen end­lich schwie­gen, galt es, einen Frie­dens­ver­trag auf den Weg zu brin­gen, der den Welt­frie­den auf Dau­er gewähr­leis­ten wür­de. Aus der Retro­spek­ti­ve wird deut­lich, das die „Frie­dens­ma­cher“ von 1919 vor einer Auf­ga­be stan­den, die bis dato ohne Bei­spiel war. Die Vor­aus­set­zun­gen des Frieden-Schließens hat­ten sich näm­lich seit dem 19. Jahr­hun­dert in ent­schei­den­der Wei­se verändert.

Die wohl größ­te Her­aus­for­de­rung lag in der „Tota­li­tät des Krie­ges“. Die seit über vier Jah­ren inten­siv täti­ge Propaganda­maschinerie mit ihrem publi­zis­ti­schen Trom­mel­feu­er hat­te auf bei­den Sei­ten natio­na­le Lei­den­schaf­ten mobi­li­siert. Eine immer stär­ke­re Idea­li­sie­rung des Krie­ges sowie eine zuneh­men­de Dämo­ni­sie­rung des Geg­ners waren die kon­se­quen­te Fol­ge. Ange­sichts der emo­ti­ons­ge­la­de­nen und erwar­tungs­vol­len Stim­mung in den jewei­li­gen Natio­nen sahen sich die Staats­män­ner außer Stan­de, auf die ver­lo­cken­den Gewin­ne nach den ver­lust­rei­chen Kämp­fen zu ver­zich­ten. Der bri­ti­sche Diplo­mat Harold Nicol­son räum­te ein: „Die Stim­mung jener Zeit vor­aus­ge­setzt und die lei­den­schaft­li­che Erre­gung, die sich in den vie­len Kriegs­jah­ren aller Demo­kra­tien bemäch­tigt hat­te, wäre es auch für Über­men­schen unmög­lich gewe­sen, einen Frie­den der Mäßi­gung und Gerech­tig­keit zu ersinnen.“

Die­se „Tota­li­tät des Krie­ges“ kor­re­spon­dier­te mit einer „Tota­li­tät der deut­schen Nie­der­la­ge“. Die Kampf­un­fä­hig­keit Deutsch­lands ver­schaff­te den Sie­gern die Gele­gen­heit, ihre Ambi­tio­nen ohne Risi­ko durch­zu­set­zen. Dies muss­te zwangs­läu­fig die Qua­li­tät der Frie­dens­ver­hand­lun­gen beeinträchtigen.

Eine wei­te­re Her­aus­for­de­rung stell­te der Rang des Krie­ges als eines „Welt­kriegs“ dar. Die Betei­li­gung zahl­rei­cher Staa­ten außer­halb Euro­pas, allen vor­an der USA und Japans, ver­lang­te nach einer Aus­wei­tung der Frie­dens­re­ge­lung über Euro­pa hin­aus. Neue Pro­blem­kom­ple­xe wie bei­spiels­wei­se die Rege­lung der Erb­mas­se des Osma­ni­schen Rei­ches oder der auf­kom­men­de japa­ni­sche Impe­ria­lis­mus in Ost­asi­en kamen hin­zu und ver­lang­ten eben­so nach einer Regelung.

Nicht zuletzt belas­te­te auch noch der kurz nach dem Waf­fen­still­stand wie­der auf­flam­men­de Dis­sens inner­halb der Sie­ger­mäch­te die Bemü­hun­gen um eine kon­sen­su­el­le Klä­rung der Nach­kriegs­ord­nung. Die Dis­kre­panz zwi­schen Wil­sons Frie­dens­pro­gramm und den jewei­li­gen natio­na­len Macht­in­ter­es­sen warf im Ver­lauf der Kon­fe­renz zahl­rei­che Streit­punk­te auf.

Vor dem Hin­ter­grund solch ver­floch­te­ner Pro­blem­strän­ge über­rascht es nicht all­zu sehr, wie­so wäh­rend der Kon­fe­renz nicht mit den Besieg­ten ver­han­delt wur­de, son­dern nur über sie. Die Angst, eine deut­sche Dele­ga­ti­on könn­te in die durch­aus brü­chi­ge Pha­lanx der Alli­ier­ten einen oder meh­re­re Kei­le trei­ben, erscheint mehr als nach­voll­zieh­bar – und auf deut­scher Sei­te leg­te man die eige­ne Stra­te­gie auch genau dar­auf an.

Positionen und Ergebnisse

Trotz all die­ser Schwie­rig­kei­ten erfolg­te die fei­er­li­che Eröff­nung der Kon­fe­renz am 18. Janu­ar 1919. Zum Vor­sit­zen­den wur­de der fran­zö­si­sche Minis­ter­prä­si­dent Geor­ge Cle­men­ceau ernannt. Das wich­tigs­te Entscheidungs­gremium bil­de­te hin­ge­gen der „Rat der Vier“, dem Wood­row Wil­son, Geor­ge Cle­men­ceau, der bri­ti­sche Pre­mier­mi­nis­ter Lloyd Geor­ge und der ita­lie­ni­sche Minis­ter­prä­si­dent Orlan­do ange­hör­ten. Die Entscheidungs­kompetenz die­ses Rates war umfas­send. Alle bedeu­ten­den Fra­gen der Pazi­fi­zie­rung Euro­pas, die Rege­lun­gen in den außer­eu­ro­päi­schen Räu­men sowie nicht zuletzt die strit­ti­gen Fra­gen inner­halb der unter­ge­ord­ne­ten Gre­mi­en wur­den in letz­ter Instanz im „Rat der Vier“ erör­tert und entschieden.

In ihren Grund­for­de­run­gen nach ter­ri­to­ria­len Gebiets­abtretungen, der Zah­lung von Repa­ra­tio­nen wie auch der radi­ka­len Abrüs­tung herrsch­te unter den Sie­ger­mäch­ten Kon­sens. Über das kon­kre­te Aus­maß die­ser Maß­nah­men sowie die zukünf­ti­ge Rol­le Deutsch­lands in Euro­pa tra­ten hin­ge­gen diver­gie­ren­de Vor­stel­lun­gen auf, die von hit­zi­gen Debat­ten beglei­tet wur­den. Auf bri­ti­scher Sei­te lag das Inter­es­se vor allem auf der Auf­recht­erhal­tung des kon­ti­nen­ta­len Gleich­ge­wichts. Eine all­zu gro­ße Macht­fül­le Frank­reichs galt es eben­so zu ver­mei­den wie ein Aus­grei­fen der bol­sche­wis­ti­schen Revo­lu­ti­on auf Deutsch­land. Lloyd Geor­ge plä­dier­te daher für einen har­ten, aber „gerech­ten“ Frie­den, der nicht von der „Arro­ganz“ der Sie­ger geprägt sein dürfe.

Für Frank­reich lag hin­ge­gen eine Sicher­heits­dok­trin zugrun­de, die in umfas­sen­der Wei­se geo­po­li­ti­sche, stra­te­gi­sche, bevöl­ke­rungs­po­li­ti­sche und wirt­schaft­li­che Ziel­set­zun­gen bün­del­te. Die struk­tu­rel­le Über­le­gen­heit Deutsch­lands soll­te durch den Frie­den so weit wie mög­lich redu­ziert wer­den. Nur so schien man die Sicher­heit Frank­reichs gewähr­leis­ten zu kön­nen. Erreicht wer­den soll­te die­ses Ziel vor allem durch umfang­rei­che Gebiets­abtretungen im Wes­ten wie im Osten, durch dras­ti­sche Rüs­tungs­be­schrän­kun­gen sowie gewal­ti­ge Reparations­verpflichtungen. Eine dau­er­haf­te Iso­la­ti­on und Kon­trol­le Deutsch­lands ver­sprach man sich von einem fest­ge­füg­ten Bünd­nis­sys­tem. In einer Sicher­heits­zo­ne, einem „Cor­don Sani­taire“, soll­te dabei dem wie­der­be­grün­de­ten pol­ni­schen Staat als Puf­fer zwi­schen Deutsch­land und der Sowjet­uni­on eine tra­gen­de Rol­le zufal­len. Für Wood­row Wil­son schließ­lich lag der Schlüs­sel zum Erfolg des gan­zen Frie­dens­pro­zes­ses in der Bil­dung eines Völ­ker­bun­des, eines welt­wei­ten Sys­tems kol­lek­ti­ver Sicherheit.

Die ter­ri­to­ria­len Bestim­mun­gen des Frie­dens­ver­tra­ges tra­fen das Deut­sche Reich mit gro­ßer Här­te. Es ver­lor über ein Ach­tel sei­nes Staats­ge­bie­tes zuzüg­lich aller Kolo­nien und damit ein Zehn­tel sei­ner Bevöl­ke­rung. Aus wirt­schaft­li­cher Sicht büß­te es 15 % sei­ner land­wirt­schaft­li­chen Pro­duk­ti­on, 50 % sei­ner Eisen­erz­ver­sor­gung und 25 % sei­ner Steinkohle­förderung ein.

Befan­den sich Wil­son und Lloyd Geor­ge an die­sem Punkt noch weit­ge­hend in Über­ein­stim­mung, so sah sich der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent in der Repa­ra­ti­ons­fra­ge zuneh­mend iso­liert. Bri­ten wie Fran­zo­sen waren fest davon über­zeugt, durch rigo­ro­se Repa­ra­ti­ons­an­sprü­che einen voll­stän­di­gen Ersatz ihrer Kriegs­kos­ten anzu­stre­ben. Dabei spiel­te ihre hohe Ver­schul­dung gegen­über den USA eine nicht uner­heb­li­che Rol­le. Für die exak­te Fest­set­zung einer Repa­ra­ti­ons­sum­me wur­de eine Kom­mis­si­on ein­ge­setzt, die die Beträ­ge bis 1921 fest­le­gen soll­te. Juris­tisch soll­te der Anspruch auf Repa­ra­tio­nen durch den soge­nann­ten Kriegs­schuld­ar­ti­kel abge­si­chert wer­den. Aus deut­scher Sicht war die­se Fest­le­gung gleich­zu­set­zen mit einem mora­li­schen, ehren­rüh­ri­gen Ver­dikt: Dass Deutsch­land die Schuld am Krieg ein­ge­ste­hen muss­te, trug mas­siv zur Emotiona­lisierung der Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Frie­dens­ver­trag bei.

Weni­ger schwie­rig war ein Kon­sens der Sie­ger­mäch­te im Bereich der mili­tä­ri­schen Bestim­mun­gen zu errei­chen. Einen tie­fen Ein­schnitt bedeu­te­te für Deutsch­land die Abschaf­fung der all­ge­mei­nen Wehr­pflicht, die Auf­lö­sung des Gene­ral­stabs, die Schlei­fung der Fes­tun­gen in der neu­tra­len Zone im Rhein­land sowie ein Ver­bot moder­ner Waf­fen­ar­ten (Pan­zer, U‑Boote, Luft­waf­fe). Das Heer durf­te eine Truppen­stärke von 100.000 Mann nicht über­schrei­ten. Eine inner­alliierte Mili­tär­kom­mis­si­on hat­te über die Bestim­mun­gen zu wachen.

Als außer­or­dent­lich bit­ter emp­fand man in Deutsch­land letzt­lich auch den Arti­kel 80, wonach ein Wie­der­an­schluss Öster­reichs strikt ver­bo­ten wur­de. Die­ser Arti­kel wog umso schwe­rer, weil er doch das Selbst­be­stim­mungs­recht, das vor allem von Wil­son für die welt­wei­te Frie­dens­re­ge­lung so ener­gisch ver­tre­ten wur­de, ekla­tant verletzte.

Das Diktat

Trotz eines gro­ßen Pres­se­auf­kom­mens blieb die Bericht­erstat­tung über die Ver­hand­lun­gen wäh­rend der Kon­fe­renz äußerst spär­lich. Dies führ­te dazu, dass in Deutsch­land weder die Regie­rung noch die Öffent­lich­keit ein eini­ger­ma­ßen rea­lis­ti­sches Bild des­sen besa­ßen, was auf Deutsch­land zukom­men wür­de. Man klam­mer­te sich daher immer noch an die Illu­si­on, dass auf die har­ten Waffenstill­standsbestimmungen eher glimpf­li­che Friedens­bestimmungen fol­gen wür­den. Die­se Illu­si­on ver­puff­te abrupt am 7. Mai 1919, als in Ver­sailles der deut­schen Dele­ga­ti­on die stren­gen Frie­dens­be­stim­mun­gen über­ge­ben wurden.

Der wohl größ­te Schock bestand dar­in, dass hier bereits ein fer­ti­ges Ver­trags­werk prä­sen­tiert wur­de und kei­ne münd­li­chen Ver­hand­lun­gen vor­ge­se­hen waren. Den Wie­ner Kon­gress von 1815 vor Augen, hat­te man sich auf deut­scher Sei­te gera­de im Vor­feld auf sol­che Ver­hand­lun­gen vor­be­rei­tet. Nach­dem die Alli­ier­ten dar­an fest­hiel­ten, kei­ne münd­li­chen Ver­hand­lun­gen zu gestat­ten, ver­leg­te sich die deut­sche Sei­te auf einen „Noten­krieg“, frei­lich ohne einen wei­ter­rei­chen­den Erfolg zu erzielen.

Die gerin­ge Bereit­schaft der Sie­ger­mäch­te, den Ver­trag noch zu ändern, lös­te in Deutsch­land eine inten­si­ve Debat­te über des­sen Annah­me oder Ableh­nung aus. Schließ­lich beschloss die Natio­nal­ver­samm­lung am 23. Juni, knapp vor Ablauf der von den Alli­ier­ten gesetz­ten Frist, dass die Regie­rung zur Unter­zeich­nung des Frie­dens­ver­tra­ges ermäch­tigt sei. Zum Bestand­teil des deut­schen Staats­rechts wur­de der Ver­sailler Ver­trag durch das Gesetz über den Frie­dens­schluss vom 16. Juli 1919.

Nachwirkung in Deutschland

Unmit­tel­bar nach dem Inkraft­tre­ten des Ver­tra­ges brach sich in Deutsch­land die Über­zeu­gung Bahn, dass dem Land ein „gerech­ter“ Frie­den, auf den man Anspruch zu haben glaub­te, ver­sagt wor­den sei. So waren sowohl die Moda­li­tä­ten des Zustan­de­kom­mens wie die kon­kre­ten Bestim­mun­gen des „Dik­tats von Ver­sailles“ Gegen­stand lei­den­schaft­li­cher – und nicht sel­ten maß­lo­ser – Kri­tik. Als schwe­re natio­na­le Demü­ti­gung wur­den, ins­be­son­de­re in bürgerlich-nationalistischen Krei­sen, die „Straf­bestimmungen“ des Ver­tra­ges, also die Ankla­ge­er­he­bung gegen Kai­ser Wil­helm II., die Offi­zie­re und Sol­da­ten, empfunden.

Im Zen­trum der Agi­ta­ti­on gegen den „Diktat-Frieden“ stand aller­dings die The­se von der deut­schen Allein­schuld am Krieg – obgleich im besag­ten Arti­kel immer­hin die Rede von Deutsch­land und sei­nen Ver­bün­de­ten ist. Durch eine Wider­le­gung des Kriegs­schuld­ar­ti­kels ver­such­te die deut­sche Sei­te einen Hebel anzu­set­zen, mit des­sen Hil­fe eine Gesamt­re­vi­si­on der Bestim­mun­gen hät­te erreicht wer­den kön­nen. Die­se – fast schon an Beses­sen­heit gren­zen­den – Revi­si­ons­be­stre­bun­gen erreich­ten nahe­zu alle Schich­ten der Gesell­schaft. Nur weni­ge waren in der Lage zu erken­nen, dass trotz der har­ten Bestim­mun­gen Deutsch­land noch glimpf­li­cher davon­ge­kom­men war, als es wäh­rend der Bera­tun­gen in Paris zeit­wei­lig im Bereich des Mög­li­chen gele­gen hat­te. Deut­lich wird dies mit Blick auf das Saar­ge­biet, die Rhein­re­gi­on oder auf Ober­schle­si­en. Die staat­li­che Ein­heit Deutsch­lands blieb eben­so erhal­ten. Das Aus­schei­den Russ­lands aus dem euro­päi­schen Kon­zert wie auch die sich ver­än­dern­den Ver­hält­nis­se in Süd­ost­eu­ro­pa konn­ten auf län­ge­re Sicht für Deutsch­land sogar von wirt­schaft­li­chem und poli­ti­schem Vor­teil sein. Der Ver­sailler Ver­trag eröff­ne­te somit, unge­ach­tet der auf­er­leg­ten Belas­tun­gen, auch neue Mög­lich­kei­ten. Unter Umstän­den hät­te Deutsch­land sogar über einen grö­ße­ren außen­politischen Bewe­gungs­spiel­raum ver­fü­gen kön­nen als noch vor 1914. Allein die dafür benö­tig­te Geduld lie­ßen die Deut­schen ver­mis­sen. Die Fixie­rung auf das „Trau­ma Ver­sailles“ ver­wisch­te weit­hin den Blick für neue Chan­cen. Die Kom­bi­na­ti­on aus der „Dolch­stoß­le­gen­de“ und der Pole­mik gegen die Kriegs­schuld­lü­ge sowie die hemmungs­lose Agi­ta­ti­on der poli­ti­schen Rech­ten gegen das „Dik­tat von Ver­sailles“ ins­ge­samt wur­den in den Hän­den der Republik­gegner, die den „Schmach­frie­den“ mit der Exis­tenz der Wei­ma­rer Demo­kra­tie iden­ti­fi­zier­ten, zu gefähr­li­chen Waf­fen gegen die Demo­kra­tie. All dies blieb zwei­fel­los nicht ohne Ein­druck auf einen gro­ßen Teil der Bevölkerung.

Die Erfah­run­gen des Zwei­ten Welt­krie­ges ebne­ten aber den Weg zu einer weni­ger emo­ti­ons­ge­la­de­nen Bewer­tung des Frie­dens­schlus­ses von 1919 und somit auch zu einer mil­de­ren Beur­tei­lung der „Frie­dens­ma­cher“. Nach dem inzwi­schen erreich­ten Stand der geschichtswissen­schaftlichen For­schung zeigt sich dem Betrach­ter heu­te statt schlich­ter pola­rer Deu­tungs­mus­ter ein kom­pli­zier­tes, nur schwer zu durch­drin­gen­des Ursa­chen­knäu­el. – Einen sehr frü­hen auf­schluss­rei­chen Wan­del der Beur­tei­lung voll­zog aus der spe­zi­fisch deut­schen Per­spek­ti­ve der bedeu­ten­de His­to­ri­ker Ger­hard Rit­ter, der 1919 noch ein ent­schie­de­ner Geg­ner der Unter­zeich­nung gewe­sen war, bereits im Jah­re 1951:

Für eine klu­ge, beson­ne­ne und gedul­di­ge deut­sche Poli­tik, die für unse­ren Staat nichts ande­res erstreb­te, als ihn zur frie­dens­si­chern­den Mit­te Euro­pas zu machen, eröff­ne­ten sich – auf lan­ge Sich­te gese­hen – die bes­ten Chan­cen. Daß wir sie ver­fehlt haben und in maß­lo­ser Unge­duld, in blin­dem Haß gegen das soge­nann­te Ver­sailler Sys­tem uns einem gewalt­tä­ti­gen Aben­teu­er in die Arme stürz­ten, ist das gro­ße Unglück und der ver­häng­nis­volls­te Fehl­tritt unse­rer neue­ren Geschichte.