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Vertreibung und Heimatverlust in Korea

Das Beispiel der Heimatvertriebenen aus der Provinz Hamgyeong

Von Suhyun Bea

Am 12. Juni 2018 trafen sich Kim Jong-un und Donald Trump in Singapur. Welche Folgen dieses historische Ereignis auch immer zeitigen wird – es gibt eine Gruppe, die sich mehr als alle ­anderen politische Stabilität und Frieden auf der koreanischen Halbinsel wünscht :  Die Vertriebenen, die zwischen 1945 und 1953 die koreanischen Nordprovinzen verlassen mussten. Sie hoffen auf ein Wiedersehen mit ihrer Heimat und ihren Familien im Norden. In Deutschland ist das Schicksal dieser Kriegsopfer kaum bekannt :  Zwischen 1945 und dem Ende des Koreakrieges verloren zwei Millionen Menschen im Nordteil der koreanischen Halbinsel ihre Heimat und flohen nach Süd-­Korea. In Korea werden sie als 실향민 (Sil Hyang Min :  „die Leute, die ihre Heimat verloren“) bezeichnet.

Gemeinsames Schicksal

Die Flücht­linge und Vertrie­benen aus dem Norden Koreas haben viele Ähnlich­keiten mit den deutschen Heimat­ver­trie­benen :  Beide waren Opfer der histo­ri­schen Entschei­dungen und Grenz­zie­hungen der Alliierten am Ende des Zweiten Weltkrieges. Beide konnten nur durch den Verlust der Heimat den Bedro­hungen im neuen kommu­nis­ti­schen Einfluss­be­reich entgehen. Seitdem wurden ihre Häuser und ihr Eigentum von den jewei­ligen kommu­nis­ti­schen Regimen konfis­ziert. Vor diesem Hinter­grund bildeten beide Gruppen in den folgenden Jahrzehnten tragende Säulen des antikom­mu­nis­ti­schen Lagers – in Süd-­Korea ebenso wie in der Bundes­re­publik Deutschland. Die Erwartung der ersten Generation von Vertrie­benen, in ihre Heimat zurück­kehren zu können, war sehr stark – und ist es in Korea noch heute. Die deutschen Vertrie­benen und ihre Kinder können die Heimat heute frei besuchen, aber die meisten wollen nicht wieder dauerhaft zurück­kehren. Dies dürfte – realis­tisch betrachtet – im Falle einer Wieder­ver­ei­nigung der korea­ni­schen Halbinsel nicht anders sein.

An dieser Stelle sollen exempla­risch die Vertrie­benen aus der histo­ri­schen Provinz Hamgyeong betrachtet werden, die 1896 in die Provinzen Nord- und Süd-Hamgyeong aufge­teilt worden war. Diese Region hat – trotz der gewal­tigen räumlichen Distanz – Gemein­sam­keiten mit Danzig und Westpreußen aufzu­weisen, und auch die jewei­ligen Vertrei­bungs­schicksale ähneln einander. Wie Westpreußen – seit der Hansezeit – war auch Hamgyeong durch Handel und Schiff­fahrt geprägt. Die Region hatte drei große Häfen – Hamhung, Hŭngnam und Wonsan –, über die der Schiffs­verkehr mit den Hafen­städten des südlichen Koreas, etwa Busan, abgewi­ckelt wurde. In Hamhung, Hŭngnam und Wonsan gab es somit viele Bürger, die Handel, Schiff­fahrt und Fabriken betrieben – eine Bevöl­ke­rungs­schicht, die von den Kommu­nisten als Feinde betrachtet wurde und in den Kriegs­jahren daher erst recht fliehen musste. Dass sich die Bewohner aus Hamgyeong – wie viele West- und Ostpreußen – für den Seeweg entschieden, lag daran, dass die Demar­ka­ti­ons­linie entlang des 38. Breiten­grades für sie ähnlich weit entfernt war wie die Oder-Neiße-Linie für die nordöst­lichen Provinzen des Deutschen Reiches. Ebenso wie eine große Zahl der deutschen Vertrie­benen siedelten sich auch viele Vertriebene aus dem Norden der Halbinsel dort an, wo sie nach der Flucht anlan­deten :  Immer noch gibt es eine große Gemein­schaft von ihnen in den südko­rea­ni­schen Hafen­städten Busan, Sokcho und Masan.

Heimatverlust

Flucht und Vertreibung aus Hamgyeong verliefen seit 1945 in verschie­denen Phasen. – Nachdem Korea 1945 von der japani­schen Koloni­al­herr­schaft befreit worden war, besetzte die sowje­tische Armee die nördlichen Provinzen der Halbinsel :  Im August 1945 wurde eine Militär­ver­waltung einge­richtet, die Rathäuser und andere Amtsge­bäude beschlag­nahmte. Die Sowjets und die von ihnen geschützten korea­ni­schen Kommu­nisten besetzten zudem viele Schul­ge­bäude und belegten Studenten mit Zwangs­arbeit. Bereits vor Ausbruch des Korea­krieges vollzog sich eine Vertreibung und „Säuberung“ der einhei­mi­schen Eliten. Opfer waren vor allem antikom­mu­nis­tische Intel­lek­tuelle, Künstler und Studenten. Alle Kapita­listen sowie Landbe­sitzer, Bergbau­un­ter­nehmer und hochrangige Vorstands­mit­glieder der Fabriken wurden nach der Konfis­zierung ihres Eigentums ermordet oder vertrieben, wenn sie sich nicht schon zuvor in den Süden abgesetzt hatten. In dieser Zeit verließen bereits sechs bis acht Prozent der Bevöl­kerung die Provinz.

An die Stelle dieser Vertrei­bungen traten mit Beginn des Korea­krieges im Juni 1950 Flucht­be­we­gungen von Nord nach Süd, die zwei wesent­liche Gründe hatten. Zum einen konzen­trierte sich bei der Luftkriegs­führung der United States Air Force die Bombar­dierung auf die drei wichtigen, schon genannten Hafen- und Indus­trie­städte von Hamgyeong. Unabhängig von ihrer politi­schen Ideologie mussten die Bürger aus diesen Städte schon nach Südkorea fliehen, nur um zu überleben. Zum anderen mussten Menschen, die während der Kriegs­hand­lungen Angehörige der südko­rea­ni­schen Streit­kräfte versorgt, beher­bergt oder ander­weitig unter­stützt hatten, aus ihrer Heimat fliehen, da sie als „Volks­ver­räter“ verfolgt wurden. Dabei wurde stets die gesamte Großfa­milie in Sippen­haftung genommen.

Vor dem Hinter­grund dieser Entwick­lungen wurde Hŭngnam am Ende des ersten Kriegs­jahres Schau­platz der größten Evaku­ie­rungen von UN-Truppen und nordko­rea­ni­schen Zivilisten während des Korea­krieges. Das Militär und die Zivil­be­völ­kerung konnten nur per Schiff gerettet werden, da die nordko­rea­nische Volks­armee bereits das südlich gelegene Wonsan, das über die einzige Eisen­bahn­ver­bindung in den Süden verfügte, besetzt hatte. Daher versam­melten sich unzählige Menschen in Hŭngnam, um auf dem Seeweg nach Süd-Korea zu gelangen. In seinem Roman „Evaku­ierung aus Hŭngnam“ (흥남철수) beschreibt der südko­rea­nische Schrift­steller und Lyriker Kim Tong-ni eine Szene, die unmit­telbar an die Situation der Flücht­linge in den Häfen der Danziger Bucht gemahnt :  Am 23. Dezember 1950 trafen ameri­ka­nische Kriegs­schiffe um 6:15 Uhr im Hafen von Hŭngnam ein. Die im Schnee und in der Kälte übernach­tenden Massen sahen die am Pier ankom­menden Schiffe und rannten plötzlich über den Pier, schreiend, als ob sie ihre Beherr­schung verloren hätten. […] Sie alle schienen zu denken, dass sie sterben würden, wenn sie nicht in diese Schiffe steigen könnten.

Ursprünglich hatte das Haupt­quartier der UN-Truppen die Einschiffung von Flücht­lingen vermeiden wollen, da ihnen das militä­rische Risiko zu hoch erschien. Vor allem vermu­teten sie jedoch auch, dass sich nordko­rea­nische Spione unter den Flücht­lingen befänden. Die Komman­deure der südko­rea­ni­schen Armee und einige Bürger­meister der Provinz überre­deten jedoch das UN-Hauptquartier. Sie sagten :  „Wenn Ihr die Zivil­be­völ­kerung am Pier zurück­lasst, werden wir bei ihnen bleiben.“ Schließlich, als alle Soldaten und militä­ri­sches Materialen verfrachtet worden waren, wurden die noch freien Kapazi­täten für Flücht­linge freige­geben. So stachen schließlich neben 100.000 Soldaten und Kriegs­ma­terial etwa 180.000 Zivilisten in See.

Heutiges Leben im Süden Koreas

Insgesamt verließen von 1945 bis 1953 zwei Millionen Menschen ihre Heimat in den korea­ni­schen Nordpro­vinzen – 400.000 bis 430.000 von ihnen aus Hamgyeong. Sie kamen mit leeren Händen in den Süden. Obwohl sie eine sehr harte Zeit hatten, waren die meisten fleißig und trugen erheblich zur wirtschaft­lichen Entwicklung Koreas bei. In den frühen Jahren war gut bezahlte Arbeit aller­dings knapp. Dieje­nigen Vertrie­benen, die nicht über einen Hochschul­ab­schluss verfügten, hatten im Norden ursprünglich in Bergwerken oder Fabriken gearbeitet. Aber in den 1950er Jahren war Süd-Koreas Wirtschafts­struktur noch durch Landwirt­schaft und Küsten­fi­scherei geprägt. Seit den 1960er Jahren förderte die Regierung jedoch intensiv den Aufbau einer eigenen Schwer­industrie, und viele der Vertrie­benen konnten nun in Fabriken oder auf Baustellen arbeiten.

Darüber hinaus entsandte die korea­nische Regierung Bergar­beiter und Kranken­schwestern in die Bundes­re­publik Deutschland. Nach ihrer Arbeits­ver­tragszeit sind die meisten von ihnen nach Korea zurück­ge­kehrt. Aber einige von ihnen, darunter viele Vertriebene aus den Nordpro­vinzen, leben immer noch in Deutschland bzw. Europa. Daher besteht bis heute auch hierzu­lande eine Organi­sation der korea­ni­schen Vertriebenen.

In Süd-Korea haben sich die Vertrie­benen – entspre­chend der Provinz­zu­ge­hö­rigkeit – in Lands­mann­schaften organi­siert, die sich zur „Föderation der Nordpro­vinzen Koreas“ zusam­men­ge­schlossen haben. Sie vertreten die politi­schen Inter­essen ihrer Mitglieder – gerade auch mit Blick auf die aktuelle Lage in den Nordpro­vinzen – und setzen sich für das Gedenken an die Vertrei­bungs­opfer sowie die Bewahrung der Kultur ihrer Heimat ein. Einen wichtigen Schwer­punkt bildet dabei die Unter­stützung der jungen Generation. So vergibt etwa die Lands­mann­schaft der Provinz Süd-Hamgyeong Stipendien an Studenten und Schüler, die aus Familien ihrer Region stammen. Darüber hinaus sucht die Lands­mann­schaft Süd-Hamgyeong die Möglichkeit des aktiven inter­na­tio­nalen Austauschs und der Solida­rität mit anderen Vertrie­benen. Dies gilt insbe­sondere für den Kontakt zu den Vertrie­benen aus Danzig und Westpreußen, der sich jetzt erfreu­licher Weise anzubahnen beginnt.

So hob etwa der Vorsit­zende der Lands­mann­schaft, Dr. Seung Wha Yeom, in einer Video­bot­schaft beim „Tag der Danziger“ 2018 hervor :  Wenn wir über unsere eigene traurige Geschichte nachdenken, bilden die deutschen Vertrie­benen aus dem Osten, die die schwere Zeit des Kalten Krieges überwunden und bei der deutschen Wieder­ver­ei­nigung und der EU-Erweiterung nach Osteuropa eine wichtige Rolle für den europäi­schen Frieden gespielt haben, für uns ein wichtiges Leitbild.