Durs Grünbein: Der Komet
Berlin: Suhrkamp, 2024
Dresden, am Abend des 13. Februar 1945 – es ist Faschingsdienstag, auf den belebten Brühlschen Terrassen wollen sich Menschen für eine kurze Weile dem Frohsinn hingeben, Jecken ziehen trunken durch die finsteren Gassen, während auf der anderen Seite der Elbe der Zirkus Sarrasani, zu Friedenszeiten wie ein Lichtdom strahlend, nun aber verdunkelt, für Jung und Alt zur Belustigung aufspielt. Unvorstellbar, dass nur Augenblicke später die lichterloh brennende Zeltkuppel im Flammenwind wehen wird, getroffen von dem Bombenhagel, der nach dem Fliegeralarm von 21:45 Uhr über der Elbmetropole wütet. In das Inferno dieser Nacht mündet die Geschichte, die der Büchner-Preisträger Durs Grünbein in seinem Buch Der Komet erzählt. Er selbst wurde 1962 in Dresden geboren und hat bereits 2005 seiner Heimatstadt, der er sich tief verbunden fühlt, mit dem Gedichtzyklus Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt eine lyrische Hommage gewidmet.
Im nun vorliegenden, dem jüngsten Prosawerk widmet sich der Autor seiner Großmutter Dora und gewissermaßen als zweitem Protagonisten der Stadt Dresden. Akribisch hat Grünbein das politische, wirtschaftliche und soziale Leben, die Architektur, Kunst und Kultur in den Jahren von 1936 bis 1945 erforscht, und er lässt den Leser auf spannende Weise miterleben, wie die Nationalsozialisten »das prächtige Dresden für sich entdecken«, es neu inszenieren und mit Mitteln der Reklame, mit einem hymnischen Wagnerkult oder der gigantischen Reichsgartenschau von 1936 sowie durch die ideologische Besetzung des Hygienemuseums erobern. Die Periode des baulichen und wirtschaftlichen Aufschwungs vermag die Menschen kurzfristig zu blenden und letztlich – gegen alle Zeichen von drohendem Unheil – den Traum vieler von der Unverletzlichkeit der »Königsstadt an der Elbe« zu nähren. Es gelingt Grünbein überzeugend, ein komplexes Tableau von jenem Ort zu entwerfen, an den es das erst 16-jährige junge Mädchen Dora der Liebe wegen verschlägt, dessen Faszination sie erliegt, an dem sie sich misst, reift und bis zu ihrem Tod Mitte der 1990er Jahre sesshaft bleiben wird. Durs Grünbein verfasst keinen Roman über seine Großmutter, sondern betrachtet »Die Geschichte der Dora W.« – diese Bestimmung erfolgt erst auf der nachgeordneten Titelseite – in einem eher nüchtern dokumentarischen Berichtston, er verwendet einige kleine Schwarzweißfotos zur Illustration des historischen Kontextes und hält sich darüber hinaus als persönlich betroffener »Ich«-Erzähler stark zurück.
In fragmentarischen Rückblicken skizziert der Autor die Herkunft seiner Großmutter aus einem Dorf in Niederschlesien, wo sie in ärmlichsten trostlosen Familienverhältnissen aufgewachsen ist, von Gezänk und Prügel, der harschen Stiefmutter und dem trunksüchtigen Vater gedemütigt. Mit bewundernswerter Willensstärke und einer zarten, resilienten Lebensfreude gesegnet, entzieht sich das Kind den täglichen Schikanen, findet seinen Frieden beim Hüten der Ziegen und höchstes Glück im staunenden Betrachten der Natur: »Die Flecken von Blütenstaub auf ihrer Schürze trug sie wie Orden«. Trotz misslicher Bedingungen gelingt es Dora, bis zum fünfzehnten Lebensjahr mehr oder weniger regelmäßig die Schule, insbesondere den Geschichtsunterricht zu besuchen; er »war ihre Erweckung« und lässt sie mit kindlicher Neugier darüber nachdenken, was der Versailler Vertrag mit dem Elend der arbeitenden Massen in Deutschland zu tun habe. Ihren Bildungshunger wird Dora sich zeitlebens bewahren.
Dann allerdings kommt es zu einer schicksalhaften Begegnung, die ihrem Leben die alles entscheidende Wendung gibt: In Goldberg, wo sie in einem Blumenladen angestellt ist, lernt sie den zehn Jahre älteren Schlachtermeister Oskar kennen. Es ist Liebe auf den ersten Blick, die ihr Flügel verleiht und das Paar ein Leben lang in unverbrüchlicher Treue verbinden wird. Ohne Zögern verlässt Dora ihre Heimat, folgt Oskar nach Dresden, vom einfachen Landleben stürzt sie sich unbeirrt und furchtlos in das Treiben der pulsierenden, lärmenden Großstadt – die Sechzehnjährige, zunächst ohne Arbeit und Wohnung, unverheiratet und alsbald noch schwanger, wird diesen Schritt als ihren emanzipatorischen Befreiungsschlag feiern. Sie ist berauscht von dem Gefühl, dass die Entdeckung Dresdens für sie einer zweiten Geburt gleichkomme – und die Lust des Autors, ihre Gabe der unvoreingenommenen Wahrnehmungen und überschwänglichen Sinnesfreude wortreich auszumalen, wird offenkundig.
Die ersten vier Jahre, nachdem sie in der sächsischen Residenzstadt im März 1936 angekommen ist, seien, so beteuerte es Dora stets, die goldene Zeit ihres Lebens gewesen, denn sie war, nach einer Kindheit der Entbehrungen, reich an unvergesslichen Glücksmomenten. Eilends hat sich die junge Frau – bald sogar schon als modebewusste »Dame« gekleidet – mit den belebten verkehrsreichen Straßen und Plätzen vertraut gemacht, vor allem die kultivierten Cafés mit ihren ungeahnten Köstlichkeiten berühmter Konditorenkunst haben es ihr angetan. Sie frohlockt über Aussichten durch große Panoramafenster oder hoch vom Riesenrad herab, taucht ein in die unbekannte Welt der Kinofilme und des Theaters, – nicht zuletzt sind es freilich die regelmäßigen Besuche in den Badeanstalten, die sie das Gefühl wohltuender Freiheit auskosten lassen.
Dass sie neben einem fürsorglichen Mann nun auch noch eine – wie sich beweisen wird – beste Freundin gefunden hat, steigert ihre Zufriedenheit. Der Schulterschluss zwischen zwei Außenseiterinnen, der »Zugereisten«, Dora, und dem deutsch-polnischen bzw. lutherisch-katholischen »Mischling« Trude, stärkt die jungen Frauen auch in ihrem hellsichtigen, bisweilen distanziert spöttischen Blick auf das eskalierende unheilvolle Zeitgeschehen. Sie werden zu unzertrennlichen Kumpanen, als die Männer in den Krieg ziehen – eine beschwichtigende Ansichtskarte aus Danzig mit dem malerischen Krantor ist für lange Zeit das letzte Lebenszeichen, das Dora mit Oskar verbindet –, und es wird Trude sein, die Doras Kinder Gisela und Rosi in der höllischen Februarnacht 1945 selbstlos vor dem sichereren Flammentod bewahrt.
All sein Wissen über das Leben der Großmutter, resümiert der Autor, setze sich allein aus Puzzlesteinen, Splittern zusammen, aus Merkwürdigkeiten , die sich ihm eingeprägt hätten: beispielhaft der Moment, in dem Dora während der Aufführung einer Wagneroper belustigt registriert, dass viele ergriffene Musikliebhaber, auch der Bademeister aus dem Stadtbad, »denselben Schnauzbart trugen, wie lauter Abziehbilder ihres Idols«. Es gab weder die große zusammenhängende Erzählung noch schriftlich Niedergelegtes, sondern nur jene Bruchstücke, die der Enkel bereits als Kind vernahm, wenn er heimlich den vertrauten Selbstgesprächen der Großmutter lauschte. Die Erkenntnisse, die er daraus gewonnen hat, vermag der Autor in ein durchaus gewagtes Bild zu überführen:
Erinnerung – das ist kein Kuchen, den man in Ruhe backen kann. Eher ist es wie mit den Quallen im Meer, die plötzlich da sind, um einen herumschweben, den Schwimmer mit ihren Nesselfäden streifen, und dann wieder erscheinen sie in weiter Ferne, und man sieht zu, wie sie majestätisch dahinziehen, während man selbst umherirrt, richtungslos, in einem Element, in dem man nur um sein Leben schwimmend vorankommt und am Ende in diesem Ozean der Erinnerung nicht einmal den kleinsten Fisch in der Hand hält.
Viele Einsichten zum Leben seiner Großmutter hätte Durs Grünbein gerne vertieft, dem widersetzte sich Dora jedoch beharrlich, so dass auch die alles bewegende Frage nach Schuld und Unschuld immer wieder nur vage beantwortet werden kann. Anlässlich der Feierlichkeiten zu Hitlers 50. Geburtstag sei sie »bei aller Begeisterung, die auch an ihr nicht vorüberging, ein doch blutig naives Ding« gewesen. Zwar spürte sie, dass sich in der Nacht, als die Synagoge brannte, etwas Furchtbares von biblischem Ausmaß ereignet hatte, und es entgingen ihr nicht die »peinlichen Szenen am hellichten [!] Tage«, wenn Juden geächtet wurden; in »alledem war etwas tief Unanständiges, für das sie sich schämte«, doch vor allem schämte sie sich für ihre Ohnmacht, »daß sie dabeigewesen [!] war, als das Unheil organisiert wurde, ›mutwillig und ohne Not‹, wie sie gerne sagte«. Letztlich blieb es für die Großmutter ein ewiges Rätsel, wie Hitler es denn nur so weit hatte bringen können.
Eine Urangst vor dem, was gerade geschieht und von dem sie fürchtet, dass es unvermeidlich gleich einer Apokalypse über das Land hereinbrechen werde, verdichtet sich in Doras Vorstellung zu dem Bild eines zerstörerischen Himmelskörpers aus Eis, Stein und giftigen Gasen – die Erzählungen über Halley, der sich 1910 der Erde genähert und eine Hysterie entfacht hatte, ist bei ihr noch allgegenwärtig und wirkmächtig. Somit wird der Komet nicht nur zum Titelgeber, sondern auch zu dem tragenden Leitmotiv, das im Spiel mit den wiederholt und auf unterschiedliche Art beleuchteten Mosaiksteinen aus der Lebensgeschichte seiner Großmutter den Rhythmus dieses eigensinnigen wie faszinierenden Buches von Durs Grünbein bestimmt.
Ursula Enke