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Der Holzmarkt in Danzig – Targ drzewny w Gdańsku, oder: Nationalisierung des städtischen Raumes

Teil II: Das Sobieski-Denkmal in Lemberg (1898)

Von Katja Bernhardt

Ein Reiter mit Anspruch

Besucht man den Holzmarkt, den Targ Drzewny, in Danzig, so wird man ziemlich genau dort, wo einst das Krieger­denkmal stand (das in der letzten WP-Ausgabe Gegen­stand der Darstellung war), ein gänzlich anderes Denkmal finden. (Abb. 1) Es ist anspruchsvoll. Auf einem hohen Stein­sockel steht ein in Bronze gegos­senes Standbild eines Reiters. Er ist in ein geschlos­senes Gewand mit langen Ärmeln gekleidet, über das ein an den Ärmeln aufge­schnit­tener Mantel geworfen ist. Der Kopf ist mit einer feder­ge­schmückten Mütze bedeckt. Leicht zur Seite gedreht hält der Reiter mit seiner Linken die Zügel des Pferdes und streckt mit seiner Rechten einen Gefechtsstab in die Höhe. Von seinem Gürtel hängt ein mächtiges Schwert herab. Unter dem sich mit beiden Vorder­hufen aufbäu­menden, kurbet­tie­renden Pferd sind ein zertrüm­mertes Rad, ein zerfetzter Muniti­onskorb und ein Kanonenrohr aufge­häuft. Inmitten dessen liegt eine Fahne, die sich mit dem Halbmond an der Spitze ihres Mastes als Standarte einer türki­schen Truppe zu erkennen gibt.

Dem unbedarften Betrachter weist der Sockel eine Orien­tierung; denn die Inschrift »Królowi Janowi III. / Miasto Lwów /mdcccxcviii.« auf der Haupt­an­sicht des Sockels infor­miert darüber, dass das Denkmal dem König Jan III. (1629–1696) – zu ergänzen ist: Sobieski – von der Stadt Lemberg im Jahre 1898 gewidmet worden sei. Und richtig, an der vorderen Schmal­seite des hohen Sockels prangt, hinter­fangen von einem Waffenfeld, das Wappen des König­reiches Polen-Litauen, bekrönt vom polni­schen Adler. An der hinteren Schmal­seite wiederholt sich das Motiv, nur wird hier die sogenannte Janina, eine Wappenform des polni­schen Adels – hier als Wappen der herzog­lichen Familie Sobieski –, gezeigt. In die Rückseite des Sockels aber sind, jeweils mit einer Jahreszahl versehen, Namen von zwanzig Orten gemeißelt, deren Bedeutung sich nicht unmit­telbar vermittelt. (Abb. 2)

Auf den ersten Blick erscheint die Sache einfach: Sobieski wird uns – das könig­liche Wappen und die könig­lichen Insignien im Fries über dem Sockel­schaft lassen daran keinen Zweifel – als polni­scher König und als siegreicher, über seine Feinde trium­phie­render Feldherr präsen­tiert. Nicht aber in könig­lichem Gewand oder in Rüstung wird er hier gezeigt, sondern mit Kontusz (Unter­gewand), Żupan (Mantel) und Kołpak (Mütze) als Vertreter des polni­schen Adels ausge­wiesen, und auch die Janina legt hierauf Wert. Vor allem aber: Warum steht dieses Denkmal in Danzig (Gdańsk) ?  Diese Geschichte ist nicht schnell erzählt. Sie führt noch weiter hinein in die vielschichtige Historie des östlichen Europas, die vor dem Hinter­grund des andau­ernden Krieges Russlands gegen die Ukraine einmal mehr Aufmerk­samkeit verlangt. Die Inschrift lenkt uns dabei in diesem Teil des Beitrages nach Lemberg (ukr. L’viv, poln. Lwów), bevor im dritten Teil der Bogen wieder nach Danzig geschlagen wird.

Nehmen wir also den Faden auf, der mit der Widmung gelegt ist ! 1898 löste der Lemberger Stadtrat ein Versprechen ein, das er sich 15 Jahre zuvor selbst gegeben hatte, nämlich jährlich 1.000 Gulden / Złoty für die Errichtung eines Denkmals zu Ehren des polni­schen Königs zurück­zu­legen. Im Jahr 1893 war das Geld offenbar beiein­ander, und der Stadtrat beauf­tragte den Lemberger Bildhauer Tadeusz Barącz (1849–1905), der sich selbst dafür angeboten hatte, das Denkmal in Stein auszu­führen, modifi­zierte jedoch schon ein Jahr später den Auftrag und bat um ein Werk, das in Bronze gegossen sei. Den Sockel stellte Julian Markowski (1846–1903) her.

Ausdauer und Aufwand dieses langjäh­rigen Projektes hatten einen gewich­tigen Anlass. 1883 – in jenem Jahr, in dem der Beschluss des Stadt­rates gefallen war – war das 200-jährige Jubiläum des Entsatzes von Wien begangen worden; also jener Schlacht am 12. September 1683 am Kahlenberg, in der die Belagerung der Stadt Wien durch türkische Truppen, geführt von Großwesir Kara Mustafâ (1634/35–1683), erfolg­reich beendet worden war. Die entschei­denden militä­ri­schen Züge, die zum Erfolg der kaiser­lichen Truppen und ihrer Verbün­deten beigetragen hatten, waren von Herzog Karl V. von Lothringen (1643–1690) und vom polni­schen König Jan III. Sobieski geführt worden. Das 200-jährige Jubiläum dieser Schlacht wurde im September 1883 in Öster­reich feierlich begangen, zunächst in Wien, einige Tage später in Krakau und ebenso in der Haupt­stadt des König­reichs Galizien und Lodomerien, in Lemberg.1 Das Projekt des hiesigen Stadt­rates verste­tigte jedoch das Gedenken über ein weiteres Jahrzehnt hinaus und gab ihm in der feier­lichen Einweihung des Reiter­stand­bildes am 20. November 1898 schließlich einen neuen Höhepunkt.2 Was veran­lasste also die Lemberger Stadt­väter, die Mühen dieser Denkmal­setzung auf sich zu nehmen? Welche Funktionen hatte die physische Verge­gen­wär­tigung Sobieskis und seiner Taten Ende des 19. Jahrhun­derts in der und für die Stadt Lemberg bzw. Galizien zu erfüllen?

Ein »Bollwerk des Christentums«

Die Schlacht am Kahlenberg bei Wien galt als Ereignis, mit dem die Expansion des Osmani­schen Reiches in Europa gestoppt und mit dem – so der Duktus der Zeit – das christ­liche Europa vor dem weiteren Vordringen der »Barbaren« bewahrt werden konnte. Ohne Zweifel war die Erinnerung hieran der unmit­telbare Anlass des Lemberger Denkmal­pro­jektes. Jahr und Ort der Schlacht finden sich in der Liste auf der Rückseite des Denkmals, wo sich die anderen neunzehn Orte und Jahre nunmehr weiteren siegreichen Schlachten Sobieskis zuordnen lassen – gegen Kosaken, Tataren und Osmanen. Der König wurde also für mehr als nur für seinen Erfolg am Kahlenberg gepriesen. (Abb. 2)

Eine erste Perspektive auf diesen breiteren Horizont eröffnet ein Blick nach Wien. Auf dem dortigen Helden­platz steht ein Reiter­standbild Prinz Eugens von Savoyen (1663–1736), der wie Sobieski ein kurbet­tie­rendes Pferd führt, das sich ebenso über einem Waffenkorb und nieder­ge­wor­fenen türki­schen Standarten aufbäumt. Auch der Sockel, obgleich höher und tekto­ni­scher in seiner Auffassung, ist dem des Sobieski-Denkmals im Aufbau, in der Ornamentik und seiner neoba­rocken Anmutung verwandt. Die Paral­lelen zwischen beiden Denkmälern in Typus, Form, Ikono­grafie und Stilistik sind auffallend. (Abb. 3)

Das monumentale Denkmal Prinz Eugens, der hier als Feldherr präsen­tiert wird, ist ein Werk der Wiener Bildhauer Anton Dominik Fernkorn (1813–1878) und Franz Pönninger (1832–1906) und war 1865 in der Haupt­achse der Wiener Hofburg platziert worden. Es ist also das ältere. Auch Prinz Eugen hatte – sehr jung noch – an der Schlacht am Kahlenberg teilge­nommen. Der Ruhm, der ihn in Wien zu Bronze werden ließ und ihm die Aufstellung an einem derart reprä­sen­ta­tiven Ort eröffnete, ging jedoch eher auf seine späteren siegreichen Feldzüge zurück. In ihm, dem »Türken­krieger«, verkör­perte sich im Habsburger Reich die Erinnerung an die Kriege gegen das türkische Heer, und er stand in diesem Sinne symbo­lisch für die Vertei­digung und Einheit der öster­rei­chi­schen Terri­torien.3

Der Bezug, den Barącz und Markowski in der Gestaltung ihres Werkes auf das Prinz-Eugen-Denkmal nahmen, lässt sich zunächst als Anver­wandlung verstehen. Suggestiv wird auf den gemein­samen – öster­rei­chi­schen und polni­schen – Kampf gegen die Feinde des christ­lichen »Abend­landes« angespielt und der Gedanke der ­Einigkeit in den formalen Ähnlich­keiten vorge­führt. Die Erinnerung an den Entsatz von Wien erscheint in diesem Sinne allgemein als Vertei­digung der »westlichen Zivili­sation« abstra­hiert, und das damit artiku­lierte Selbst­ver­ständnis wurde auf die Gegenwart proji­zierbar. Der Feind, gegen den es sich aus Sicht Galiziens zum Ende des 19. Jahrhun­derts zu positio­nieren galt, war jedoch weniger das Osmanische Reich als vielmehr Russland. Dessen latenter Einfluss auf die ruthe­nische Bevöl­kerung im Land, etwa unter den sogenannten Russo­philen, wurde insbe­sondere aus polni­scher Sicht und nicht zuletzt mit Blick auf die hart durch­grei­fende Russi­fi­zierung im russi­schen Teilungs­gebiet, dem König­reich Polen, als Gefahr wahrge­nommen und war Gegen­stand natio­nal­po­li­ti­schen Kalküls in Öster­reich, das um seine Integrität besorgt war.⁴

So kann das Lemberger Sobieski-Denkmal samt seinen sugges­tiven Bezügen zum Wiener Denkmal, und zwar als eine histo­risch argumen­tie­rende Aktua­li­sierung des Gedenkens an die »Türken­kriege«, als Loyali­täts­be­kundung gegenüber der öster­rei­chi­schen Idee und öster­rei­chi­schen Sendung verstanden werden. Eine Loyali­täts­be­kundung aller­dings, die in der Anver­wandlung zugleich die Ebenbür­tigkeit Sobieskis demons­trativ vorführte. Dessen heraus­ra­gende Rolle in der Abwehr der türki­schen Truppen bzw. eben allge­meiner: der Feinde des »abend­län­di­schen« Chris­tentums war den polni­schen Eliten ein zentraler identi­fi­ka­to­ri­scher Bezugs­punkt geworden, und er wurde, da sich die Elite als Reprä­sen­tanten derselben begriff, für die Nation an sich in Anspruch genommen. Polen sei das »Bollwerk des Chris­tentums«, das »Antem­urale Chris­tia­ni­tatis«. Der Entsatz von Wien wurde dabei als »die größte Tat, welche Polen für das Wohlergehen der Menschheit erbracht hat«, gefeiert.⁵

Ein König für die Gegenwart

Es ging mit diesem Denkmal also ebenso um die Verortung des seit 1795 vollständig unter Preußen, Russland und Öster­reich aufge­teilten Polens in der Geschichte und in der Gegenwart, und zwar – wie es zeitge­nös­sisch hieß: der »westlichen Zivili­sation«. Eine Selbst­ver­ortung, die anerkannt werden wollte und von der Ansprüche abgeleitet wurden. Die Konturen dieser Bestre­bungen treten in einer zweiten Perspektive hervor.

Der zeitge­nös­sische wissende Betrachter wird unzwei­felhaft in dem Reiter Jan III. Sobieski erkannt haben. In zahlreichen gemalten und gedruckten Bildwerken und plasti­schen Arbeiten hatte sich über die Jahrhun­derte hinweg eine Vorstellung des Königs heraus­ge­bildet, die ihn in seiner Physio­gnomie und in der Art, wie und womit er wieder­ge­geben wurde, leicht identi­fi­zieren ließ. Das Lemberger Denkmal schloss darüber hinaus unmit­telbar an ältere Reiter­dar­stel­lungen Sobieskis an – an das von einem nicht bekannten Künstler 1693 in Gips angefer­tigte Reiter­standbild im Schloss Wilanów ebenso wie an das 1788 von André le Brun (1737–1811) und Francois Pinck (1733–1798) geschaffene und im Warschauer könig­lichen Park Łazienki aufge­stellte steinerne Reiterbild.⁶ (Abb. 4) In Krakau war zudem im Rahmen der Jubilä­ums­fei­er­lich­keiten 1883 an der Außen­seite der Marien­kirche ein Bronze­relief mit dem Bild des reitenden Sobieski enthüllt worden.

Barącz nahm im Lemberger Denkmal die Konven­tionen, die sich in diesen Darstel­lungen etabliert hatten, auf. Er überführte sie aber in der Wahl des Materials – der Bronze – und der Art der plasti­schen Ausführung – der Vollplastik – in einen reprä­sen­ta­ti­veren Typus, den des ehernen, vollplas­ti­schen Reiter­stand­bildes. Und so war es zwar rheto­rische Zuspitzung, aber auch nicht ganz falsch, wenn der Dziennik Polski, das Lemberger polnische Tageblatt, am Tag der Enthüllung feststellte, dass man erst jetzt, zweihundert Jahre später, der Pflicht einer angemes­senen Erinnerung an den König und Erretter des Chris­tentums nachge­kommen sei.⁷ Die Änderung des Auftrages, mit der der Lemberger Stadtrat 1894 von Barącz statt eines steinernen ein bronzenes Bildwerk bestellte, war also programmatisch !

Als Medien anschau­licher Macht­aus­übung und ‑legiti­mation reprä­sen­tierten Reiter­stand­bilder dieser Art seit Jahrhun­derten den Herrscher in seiner Abwesenheit. Im 19. Jahrhundert erlebte dieser Typus eine neue Hochzeit, wobei er für die Bedürf­nisse der modernen Gesell­schaft aktua­li­siert und dabei mal einer imperialen – man denke an das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Danzig –, mal – wie zu zeigen sein wird – einer natio­nalen Sinngebung unter­zogen wurde. Sobieski wurde also nicht nur als Vertei­diger des christ­lichen »Abend­landes« präsen­tiert, sondern mit dem ehren­vollen Typus des überle­bens­großen, bronzenen Reiter­stand­bildes demons­trativ im Reigen der großen europäi­schen Herrscher positioniert.

Knapp zweihundert Jahre nach dem Tode Sobieskis ging es freilich nicht um die Reprä­sen­tation des tatsächlich herrschenden Königs, ebenso wenig ging es um eine histo­risch argumen­tie­rende Legiti­mierung einer dynas­ti­schen Nachfolge. Um einen Herrschafts­an­spruch ging es gleichwohl. Die konkrete Gestaltung des Stand­bildes mit seinen neoba­rocken Anmutungen und formalen Rückgriffen auf ältere plastische Darstel­lungen lassen sich dabei als rheto­rische Mittel verstehen. Mit ihnen wurde die Ancien­nität und die einstige Größe der polni­schen Nation in der Person des Königs im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt. Das wurde zeitge­nös­sisch von Kommen­taren begleitet, in denen Sobieski als der letzte große polnische König stili­siert wurde; alles Nachfol­gende sei nur noch Niedergang gewesen, der in die Polni­schen Teilungen gemündet sei.⁸ Beides, die Demons­tration der könig­lichen Würde Sobieskis und damit Polens und die Klage über den Verlust derselben, bildete ein dialek­ti­sches Paar, das Sinn und Ziel in der Gegenwart hatte. (Abb. 5)

Die Nieder­lagen Öster­reichs in den kriege­ri­schen Ausein­an­der­set­zungen des 19. Jahrhun­derts – insbe­sondere der sogenannte Deutsch-deutsche Krieg von 1866, der im Danziger Krieger­denkmal als Sieg gefeiert wurde – hatten grund­le­gende Reformen im Habsburger Reich nach sich gezogen. Mit der sogenannten Dezem­ber­ver­fassung von 1867 war u. a. der recht­liche Status der Länder Öster­reichs neu geregelt und dabei auch das König­reich Galizien und Lodomerien mit Rechten der Selbst­ver­waltung ausge­stattet worden. Diese wurde von den polni­schen Eliten wahrge­nommen. Die Hoffnung und der Anspruch auf umfas­sende Unabhän­gigkeit, wenigstens für diesen Teil des einstigen Polens, war damit dennoch nicht erfüllt. Das Denkmal war so einer­seits in seiner Präsenz Ausdruck der erlangten Quasi­au­to­nomie. Mit dem dezidierten Verweis auf die könig­liche Ebenbür­tigkeit Sobieskis und auf die Rolle Polens für das christ­liche »Abendland« wurde aller­dings ebenso dem noch nicht erfüllten Anspruch auf tatsäch­liche Unabhän­gigkeit Nachdruck verliehen; es wurde Loyalität gegenüber der Loyalität einge­fordert, die Polen als »Bollwerk des Chris­tentums« noch immer unter Beweis stelle.⁹

Eine Nation für alle

Sobieski wird im Lemberger Denkmal aber nicht nur als Feldherr und könig­licher Herrscher vorge­führt, sondern mit Kontusz, Żupan und Kołpak ebenso markant als Vertreter des polni­schen Adels, der Szlachta. Die Tracht war für die Zeit Sobieskis histo­risch genau. Sie fungierte im Denkmal aber ebenso als Medium der Identi­fi­kation, denn im Laufe des 19. Jahrhun­derts hatte sie als »polski strój« (Polnische Tracht) die Bedeutung eines natio­nalen Bekennt­nisses angenommen. Und so erschienen die offizi­ellen Vertreter der Stadt zu den Feier­lich­keiten der Denkmal­sent­hüllung in Kontusz und Żupan. Damit gewann ein Habitus sichtbare und symbo­lische Form, mit dem perfor­mativ eine Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart geschlagen wurde. Sie verweist darauf, wie eng die Idee einer polni­schen Nation auch am Ende des 19. Jahrhun­derts noch mit der Vorstellung des polni­schen Adels verbunden war.

Die Feier­lich­keiten und die verschie­denen Initia­tiven zum Jubiläum des Entsatzes von Wien 1883 hatten jedoch bereits angezeigt, dass hier etwas in Bewegung geraten war. Mit gezielten Aktionen war die Erinnerung an Sobieski in die breitere Masse getragen worden, und trotz eines scharf geführten Streites und der Sorge, dass das Niveau leiden würde, waren auch Bauern zu den dreitä­gigen Feier­lich­keiten des Jubiläums 1883 nach Krakau einge­laden worden.1⁰ Auch die Denkmal­sent­hüllung in Lemberg fünfzehn Jahre später war mit einer Veran­staltung des »Künstlerisch-literarischen Zirkels« am Vorabend, mit einem großen Zug von Korpo­ra­tionen, Schulen und Handwerks­in­nungen, einem feier­lichen Gottes­dienst, der öffent­lichen Enthüllung, mit einem Empfang im Rathaus und am Abend bei der Familie des Stadt­prä­si­denten, mit nachmit­täg­lichen Theater­auf­füh­rungen und Lesungen und schließlich mit der abend­lichen Illumi­nation des enthüllten Werkes so choreo­gra­fiert worden, dass einer­seits für die Eliten exklusive Gelegen­heiten geschaffen wurden und anderer­seits die städtische Bevöl­kerung in der Breite an dem Ereignis teilhatte und angehalten wurde, sich mit dem vom Stadtrat initi­ierten Erinne­rungs­projekt zu identifizieren.

In Galizien, zumal in dessen Osten, wo der Anteil einer Bevöl­kerung, die sich nicht nur sozial, sondern auch in Sprache, Kultur und Konfession von der polni­schen Oberschicht unter­schied, war damit mehr als nur die sukzessive Veran­kerung der natio­nalen Idee in der breiten Masse verbunden. Den polni­schen Initia­toren war es vielmehr daran gelegen, die Erinnerung an die Kämpfe gegen die Türken zugleich als Vehikel der Integration von Polen und vor allem Ukrainern zu nutzen. Argumen­ta­tives Mittel war einer­seits ein Pansla­wismus, bei dem das westliche, »zivili­sierte« Slawentum vom einem östlichen »tyran­ni­schen« – gemeint war Russland – abgegrenzt wurde. Anderer­seits wurde mit der Redewendung »Gente Rutheni, Natione Poloni« (Dem Stamme nach Ruthenen, der Nation nach Polen), die gelegentlich auch die Litauer einschloss, auf die einstige Polnische Adels­re­publik, die Rzecz­pos­polita, angespielt, in der die verschie­denen Völker sich zugleich der überge­ord­neten polni­schen Nation zugehörig gefühlt hätten.11

Eine polnische Hauptstadt

Das Denkmal an sich ließ durchaus Spielraum für eine solche Deutung, und dennoch nahm es einen exklusiv polni­schen Charakter an. Für die Beschreibung dessen bedarf es einer weiteren Perspektive: Wie auch in Danzig für das Krieger­denkmal so war auch für das Sobieski-Denkmal in Lemberg mit seiner Aufstellung auf den Wały Hetmańskie, den Hetmans­wällen (heute ukr.: Prospekt Swobody), ein prägnanter Ort in der Stadt gefunden worden. (Abb. 6) Mit diesem breiten Boulevard westlich der Altstadt hatte sich das urbane Leben des 19. Jahrhun­derts an Stelle der alten Festungs­wälle einen reprä­sen­ta­tiven Raum geschaffen. Eine breite, baumbe­standene Promenade trennte zwei Straßenzüge, die von Banken, Büro- und Geschäfts­häusern gesäumt waren. (Abb. 7)

Das Sobieski-Denkmal wurde in der Mitte dieser Achse aufge­stellt, und zwar da, wo sich die östlich gelegene Altstadt mit dem Heiligen-Geist-Platz (histo­risch poln.: pl. Św. Ducha, heute ukr.: pl. Iwanu Pidkowi) zu den Hetmans­wällen nach Westen hin öffnete. In seiner Haupt­an­sicht wurde es vom Städti­schen Theater im Norden hinter­fangen (Abb. 5), das sich zum Zeitpunkt der Denkmal­sent­hüllung im Bau befand. Am südlichen Ende der Promenade schloss sich nach einem leichten Knick in östliche Richtung ein Platz an, auf dem 1904 ein Denkmal für den polni­schen Natio­nal­dichter Adam Mickiewicz (1798–1855) einge­weiht wurde. Damit war das Sobieski-Denkmal auf dieser Achse zwischen zwei Orten einge­spannt, mit denen sich das moderne polnische Natio­nal­ver­ständnis im Lemberger Stadtraum präsen­tierte. Kam man hingegen von Westen, etwa vom Bahnhof oder dem Stadtpark, auf das Stadt­zentrum zu, so sprengte einem der König vor der Altstadt­ku­lisse entgegen. (Abb. 8) Im Lichte der abend­lichen Illumi­nation – so der Bericht vom Tag der Denkmal­sent­hüllung – sei Sobieski vor diesem Hinter­grund wie ein Geist aus der Vergan­genheit aufer­standen.12

Um diesen Moment der Verge­gen­wär­tigung ging es und darum, dass dieser Moment seinen Ort in Lemberg hatte. Mit Stolz verwies der Oberbür­ger­meister Godzimir Małachowski (1852–1908) in seiner Rede zur Denkmal­sent­hüllung darauf, dass die Familie Sobieskis aus der Region stamme, in der Jan III. in Olesko geboren worden sei. Sobieski sei nicht erst als König Lemberg wie keiner anderen polni­schen Stadt verbunden gewesen, habe sie privi­le­giert und für ihren Schutz gesorgt. Die oben skizzierte Bedeutung Sobieskis erscheint hier absichtsvoll mit dem Schicksal Lembergs verwoben.13 Die Selbst­ver­waltung der Stadt lag seit den 1860er Jahren weitest­gehend in der Hand der polni­schen Eliten. In deren Politik verklam­merte sich eine praktische Moder­ni­sierung der Stadt mit einer ebenso program­ma­ti­schen wie sinnlich anschau­lichen symbo­li­schen Deutung und Besetzung des Stadt­raums. Darin artiku­lierte sich die Idee, dass Lemberg als Haupt­stadt eines quasi­au­to­nomen Landes »über das Wohlergehen der gesamten Nation zu wachen« und »als polnische (Ersatz-)Hauptstadt zu fungieren« habe.14 Dem Sobieski-Denkmal kam dabei die Funktion zu, diese Poloni­sierung des Stadt­raumes sinnfällig in der histo­ri­schen Tiefe zu verankern, dabei die Geschichte mit all den beschrie­benen Mitteln zu evozieren und sie mit der Gegenwart symbo­lisch und räumlich zu verklammern. In seinem engeren und weiteren stadt­räum­lichen und im konkreten histo­ri­schen Kontext seiner Enthüllung war das Denkmal somit Teil der Manifes­tation eines modernen polni­schen Natio­nal­ver­ständ­nisses. Vor diesem Hinter­grund und mit Blick auf die sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhun­derts heraus­bil­dende ukrai­nische nationale Bewegung fehlte der diskur­siven Beschwörung der Idee der alten, überwöl­benden polni­schen Republik, der Rzecz­pos­polita, nun aller­dings die Überzeu­gungs­kraft. Die ukrai­ni­schen Eliten distan­zierten sich weitgehend vom Denkmalprojekt.

Mit diesen gewich­tigen Bedeu­tungs­schichten versehen, ist es durchaus erstaunlich, dass das Denkmal die politi­schen und staat­lichen Umbrüche der folgenden Jahrzehnte am Ort überdauerte. Die sowje­tische und die natio­nal­so­zia­lis­tische Macht präsen­tierten sich am Ort mit eigenen Denkmälern bzw. Umbenen­nungen von Platz und Straße, rührten aber das Sobieski-Denkmal offenbar nicht an. Auf Bemühen polni­scher Akteure vor Ort wurde das Denkmal zusammen mit anderen Kultur­gütern 1950 nach Polen gebracht. Es fand zunächst eine Aufstellung in Wilanów bei Warschau, bevor es im Juni 1965 feierlich in Danzig auf dem Holzmarkt erneut enthüllt wurde. Aber das ist schon wieder eine neue Geschichte.

Beide Denkmäler, das Krieger­denkmal in Danzig und das Sobieski-­Denkmal in Lemberg, sind Orte, an denen, mit denen und um die herum die Imagi­nation der modernen Nation artiku­liert, für die breite Masse organi­siert und raumgreifend demons­triert wurde. Als dialek­ti­scher Gegenpart zur – und damit integraler Bestandteil der – Dynamik der Moderne, in deren Mitte die Denkmäler jeweils platziert wurden, wurde in ihnen die Ancien­nität der Nation beschworen. Während die polnische Nation mit Sobieski in Lemberg konkrete Geschichte zum Argument hatte, wurde die deutsche im Krieger­denkmal in Danzig in eine diffuse, ahisto­rische Ewigkeit transzen­diert. Das Danziger Krieger­denkmal war Ausdruck und offen­sives Zeichen der Konso­li­dierung des Deutschen Reiches und der raumgrei­fenden Etablierung des preußi­schen Staates in Danzig und Westpreußen. Es war Markierung seines hiesigen Terri­to­riums. Das Sobieski-Denkmal erscheint vielschich­tiger, es war Loyali­täts­beweis gegenüber Öster­reich, Abgrenzung gegenüber Russland; insbe­sondere aber war es demons­trative Selbst­be­hauptung. Insofern manifes­tierte sich in ihm die beschränkte Macht der in der Hand der polni­schen Eliten liegenden Verwaltung Galiziens. Es war im Unter­schied zu Danzig weniger Markierung eines gesicherten Terri­to­riums. Vielmehr artiku­lierte sich hier der Anspruch auf die Wieder­errichtung eines zukünf­tigen unabhän­gigen Polens. Mit beiden Denkmälern wurde dabei die eigene Nation, wenn auch auf unter­schied­liche Weise und ausgehend von einem unter­schiedlich ausge­prägten Macht­po­tential, überhöht. In ihrem jewei­ligen historisch-räumlichen Kontext, mit einer Bevöl­kerung, die in Sprache, Kultur, Glauben, Ethnie und Nation weit diffe­ren­zierter war, waren beide Denkmäler latent exklusiv und provo­zierten den Wider­spruch der Bevöl­kerung, die sich nicht darin reprä­sen­tiert sah.


Der dritte – und letzte – Teil dieses Beitrags erscheint in der nachfol­genden Ausgabe 3/2024.


  1. Zu den Jubilä­ums­fei­er­lich­keiten: Wiesław Bieńkowski: »Wien und Krakau 1883. Die Feier­lich­keiten zum 200-jährigen Jubiläum«, in: Studia Austro-Polonica, 3 (1983), S. 401–439; Adam Galos: »Obchody rocznicy wiedeńskiej w Galicji w 1883 r. [Die Feier­lich­keiten zum Wiener Jubiläum in Galizien 1883]«, in: Z dziejów i tradycji srebrnego wieku. Studia i materiały [Aus der Geschichte und Tradition des silbernen Zeitalters. Studien und Materialien], hg. v. Jerzy Pietrzak, Wrocław, 1990, S. 123–143; Paweł Sierżęga: »Obchody 200. rocz­nicy odsieczy wiedeńskiej w Galicji (1883 r.) [Die Feier­lich­keiten des 200-jährigen Jubiläums des Entsatzes von Wien in Galizien (1883)]«, Rzeszów 2002 (Seria wydaw­nicza Galicja i jej dzied­zictwo, 17).
  2. Zum Prozess der Denkmal­stiftung und ‑reali­sierung: Aleksander Czołowski: Jan III. i jego pomnik we Lwowie [Jan III. und sein Denkmal in Lemberg], verfasst im Auftrag des Stadt­rates, Lwów 1898, S. 29–32; Heidi Hein-Kircher: Lembergs »polni­schen Charakter« sichern. Kommu­nal­po­litik in einer multi­eth­ni­schen Stadt der Habsbur­ger­mor­nachie zwischen 1861/62 und 1914, Stuttgart 2020, S. 280ff.
  3. Martina Thomsen: »Prinz Eugen und Jan III. Sobieski. Der Ruhm des Siegers. Um den Vorgang im natio­nalen und europäi­schen Helden­pan­theon«, in: Deutsch-polnische Erinne­rungsorte. Bd. 3: Paral­lelen, hg. v. Hans Henning Hahn und Robert Traba unter Mitarbeit von Maciej Górny und Kornelia Kończal, Paderborn u. a. 2012 S. 182–202.
  4. Zum Verhältnis von innen- und außen­po­li­ti­schen Problemen in Bezug auf Galizien: Hans-­Christian Maner: Galizien. Eine Grenz­region im Kalkül der Donau­mon­archie im 18. und 19. Jahrhundert, München 2007 (Veröf­fent­li­chungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südost­eu­ropas, 111).
  5. Zitat aus: Chwała i sława Jana III w sztuce i litera­turze XVII–XX w. / Lob und Ruhm Johannes III in Kunst und Literatur. Katalog wystawy jubileus­zowej z okazji trzech­setlecia odsieczy wiedeńskiej / Katalog der Jubilä­ums­aus­stellung anlässlich der 300. Jahrfeier des Entsatzes von Wien, Warszawa 1983, S. 245.
  6. Vgl. die virtuelle Sammlung von Objekten, die mit Jan III. Sobieski in Verbindung stehen: www.wilanow-palac.pl/sobiesciana.
  7. Ohne Autor: Dziennik Polski, vom 20. November 1898, Nr. 322.
  8. Ebd.; so auch: Lucyan Tatomir: Wspom­nienie o Janie III Sobieskim, w dwóch­setną rocznicę śmierci króla-bohatera [Erinne­rungen an Jan III. Sobieski, im 200. Jahr des Todes des könig­lichen Helden], Lwów, 1896, S. 64 (Wydaw­nictwo Ludowe, Książeczka, 167).
  9. In diesem Sinne: Galos, »Obchody« (wie Anm. 1), S. 129; Thomsen, »Prinz Eugen« (wie Anm. 3), S. 191; Hein-Kircher 2020 (wie Anm. 2), S. 282.
  10. Galos, »Obchody« (wie Anm. 1), S. 135–139.
  11. Ebenda, S. 140–143; Adam Świątek: »Przypadek Gente Rutheni, Natione Poloni w Galicji [Der Fall Gente Rutheni, Natione Poloni in Galizien]«, in: Zeszyty Naukowe Uniwer­sytetu Jagiel­lons­kiego, Prace Histo­ryczne, 144 (2017), H. 2, S. 303–322.
  12. Ohne Autor: »Pomnik króla Jana III [Das Denkmal des Königs Jan III.]«, in: Zugabe zum Dziennika Polskiego, Nr. 322 vom 20. November 1898.
  13. Ebenda.
  14. Grund­legend zur Kommu­nal­po­litik in Lemberg: Hein-Kircher, Lembergs »polni­schen Charakter« sichern (wie Anm. 2), Zitate: S. 322f. Siehe auch: Grzegorz Rossoliński-Liebe: Der Raum der Stadt Lemberg in den Schichten seiner politi­schen Denkmäler, online veröf­fent­licht auf »kakanien revisted« am 20.12.2009: www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/GRossolinski-Liebe1/, download am 23.01.2024.