Teil II: Das Sobieski-Denkmal in Lemberg (1898)
Von Katja Bernhardt
Ein Reiter mit Anspruch
Besucht man den Holzmarkt, den Targ Drzewny, in Danzig, so wird man ziemlich genau dort, wo einst das Kriegerdenkmal stand (das in der letzten WP-Ausgabe Gegenstand der Darstellung war), ein gänzlich anderes Denkmal finden. (Abb. 1) Es ist anspruchsvoll. Auf einem hohen Steinsockel steht ein in Bronze gegossenes Standbild eines Reiters. Er ist in ein geschlossenes Gewand mit langen Ärmeln gekleidet, über das ein an den Ärmeln aufgeschnittener Mantel geworfen ist. Der Kopf ist mit einer federgeschmückten Mütze bedeckt. Leicht zur Seite gedreht hält der Reiter mit seiner Linken die Zügel des Pferdes und streckt mit seiner Rechten einen Gefechtsstab in die Höhe. Von seinem Gürtel hängt ein mächtiges Schwert herab. Unter dem sich mit beiden Vorderhufen aufbäumenden, kurbettierenden Pferd sind ein zertrümmertes Rad, ein zerfetzter Munitionskorb und ein Kanonenrohr aufgehäuft. Inmitten dessen liegt eine Fahne, die sich mit dem Halbmond an der Spitze ihres Mastes als Standarte einer türkischen Truppe zu erkennen gibt.
Dem unbedarften Betrachter weist der Sockel eine Orientierung; denn die Inschrift »Królowi Janowi III. / Miasto Lwów /mdcccxcviii.« auf der Hauptansicht des Sockels informiert darüber, dass das Denkmal dem König Jan III. (1629–1696) – zu ergänzen ist: Sobieski – von der Stadt Lemberg im Jahre 1898 gewidmet worden sei. Und richtig, an der vorderen Schmalseite des hohen Sockels prangt, hinterfangen von einem Waffenfeld, das Wappen des Königreiches Polen-Litauen, bekrönt vom polnischen Adler. An der hinteren Schmalseite wiederholt sich das Motiv, nur wird hier die sogenannte Janina, eine Wappenform des polnischen Adels – hier als Wappen der herzoglichen Familie Sobieski –, gezeigt. In die Rückseite des Sockels aber sind, jeweils mit einer Jahreszahl versehen, Namen von zwanzig Orten gemeißelt, deren Bedeutung sich nicht unmittelbar vermittelt. (Abb. 2)
Auf den ersten Blick erscheint die Sache einfach: Sobieski wird uns – das königliche Wappen und die königlichen Insignien im Fries über dem Sockelschaft lassen daran keinen Zweifel – als polnischer König und als siegreicher, über seine Feinde triumphierender Feldherr präsentiert. Nicht aber in königlichem Gewand oder in Rüstung wird er hier gezeigt, sondern mit Kontusz (Untergewand), Żupan (Mantel) und Kołpak (Mütze) als Vertreter des polnischen Adels ausgewiesen, und auch die Janina legt hierauf Wert. Vor allem aber: Warum steht dieses Denkmal in Danzig (Gdańsk) ? Diese Geschichte ist nicht schnell erzählt. Sie führt noch weiter hinein in die vielschichtige Historie des östlichen Europas, die vor dem Hintergrund des andauernden Krieges Russlands gegen die Ukraine einmal mehr Aufmerksamkeit verlangt. Die Inschrift lenkt uns dabei in diesem Teil des Beitrages nach Lemberg (ukr. L’viv, poln. Lwów), bevor im dritten Teil der Bogen wieder nach Danzig geschlagen wird.
Nehmen wir also den Faden auf, der mit der Widmung gelegt ist ! 1898 löste der Lemberger Stadtrat ein Versprechen ein, das er sich 15 Jahre zuvor selbst gegeben hatte, nämlich jährlich 1.000 Gulden / Złoty für die Errichtung eines Denkmals zu Ehren des polnischen Königs zurückzulegen. Im Jahr 1893 war das Geld offenbar beieinander, und der Stadtrat beauftragte den Lemberger Bildhauer Tadeusz Barącz (1849–1905), der sich selbst dafür angeboten hatte, das Denkmal in Stein auszuführen, modifizierte jedoch schon ein Jahr später den Auftrag und bat um ein Werk, das in Bronze gegossen sei. Den Sockel stellte Julian Markowski (1846–1903) her.
Ausdauer und Aufwand dieses langjährigen Projektes hatten einen gewichtigen Anlass. 1883 – in jenem Jahr, in dem der Beschluss des Stadtrates gefallen war – war das 200-jährige Jubiläum des Entsatzes von Wien begangen worden; also jener Schlacht am 12. September 1683 am Kahlenberg, in der die Belagerung der Stadt Wien durch türkische Truppen, geführt von Großwesir Kara Mustafâ (1634/35–1683), erfolgreich beendet worden war. Die entscheidenden militärischen Züge, die zum Erfolg der kaiserlichen Truppen und ihrer Verbündeten beigetragen hatten, waren von Herzog Karl V. von Lothringen (1643–1690) und vom polnischen König Jan III. Sobieski geführt worden. Das 200-jährige Jubiläum dieser Schlacht wurde im September 1883 in Österreich feierlich begangen, zunächst in Wien, einige Tage später in Krakau und ebenso in der Hauptstadt des Königreichs Galizien und Lodomerien, in Lemberg.1 Das Projekt des hiesigen Stadtrates verstetigte jedoch das Gedenken über ein weiteres Jahrzehnt hinaus und gab ihm in der feierlichen Einweihung des Reiterstandbildes am 20. November 1898 schließlich einen neuen Höhepunkt.2 Was veranlasste also die Lemberger Stadtväter, die Mühen dieser Denkmalsetzung auf sich zu nehmen? Welche Funktionen hatte die physische Vergegenwärtigung Sobieskis und seiner Taten Ende des 19. Jahrhunderts in der und für die Stadt Lemberg bzw. Galizien zu erfüllen?
Ein »Bollwerk des Christentums«
Die Schlacht am Kahlenberg bei Wien galt als Ereignis, mit dem die Expansion des Osmanischen Reiches in Europa gestoppt und mit dem – so der Duktus der Zeit – das christliche Europa vor dem weiteren Vordringen der »Barbaren« bewahrt werden konnte. Ohne Zweifel war die Erinnerung hieran der unmittelbare Anlass des Lemberger Denkmalprojektes. Jahr und Ort der Schlacht finden sich in der Liste auf der Rückseite des Denkmals, wo sich die anderen neunzehn Orte und Jahre nunmehr weiteren siegreichen Schlachten Sobieskis zuordnen lassen – gegen Kosaken, Tataren und Osmanen. Der König wurde also für mehr als nur für seinen Erfolg am Kahlenberg gepriesen. (Abb. 2)
Eine erste Perspektive auf diesen breiteren Horizont eröffnet ein Blick nach Wien. Auf dem dortigen Heldenplatz steht ein Reiterstandbild Prinz Eugens von Savoyen (1663–1736), der wie Sobieski ein kurbettierendes Pferd führt, das sich ebenso über einem Waffenkorb und niedergeworfenen türkischen Standarten aufbäumt. Auch der Sockel, obgleich höher und tektonischer in seiner Auffassung, ist dem des Sobieski-Denkmals im Aufbau, in der Ornamentik und seiner neobarocken Anmutung verwandt. Die Parallelen zwischen beiden Denkmälern in Typus, Form, Ikonografie und Stilistik sind auffallend. (Abb. 3)
Das monumentale Denkmal Prinz Eugens, der hier als Feldherr präsentiert wird, ist ein Werk der Wiener Bildhauer Anton Dominik Fernkorn (1813–1878) und Franz Pönninger (1832–1906) und war 1865 in der Hauptachse der Wiener Hofburg platziert worden. Es ist also das ältere. Auch Prinz Eugen hatte – sehr jung noch – an der Schlacht am Kahlenberg teilgenommen. Der Ruhm, der ihn in Wien zu Bronze werden ließ und ihm die Aufstellung an einem derart repräsentativen Ort eröffnete, ging jedoch eher auf seine späteren siegreichen Feldzüge zurück. In ihm, dem »Türkenkrieger«, verkörperte sich im Habsburger Reich die Erinnerung an die Kriege gegen das türkische Heer, und er stand in diesem Sinne symbolisch für die Verteidigung und Einheit der österreichischen Territorien.3
Der Bezug, den Barącz und Markowski in der Gestaltung ihres Werkes auf das Prinz-Eugen-Denkmal nahmen, lässt sich zunächst als Anverwandlung verstehen. Suggestiv wird auf den gemeinsamen – österreichischen und polnischen – Kampf gegen die Feinde des christlichen »Abendlandes« angespielt und der Gedanke der Einigkeit in den formalen Ähnlichkeiten vorgeführt. Die Erinnerung an den Entsatz von Wien erscheint in diesem Sinne allgemein als Verteidigung der »westlichen Zivilisation« abstrahiert, und das damit artikulierte Selbstverständnis wurde auf die Gegenwart projizierbar. Der Feind, gegen den es sich aus Sicht Galiziens zum Ende des 19. Jahrhunderts zu positionieren galt, war jedoch weniger das Osmanische Reich als vielmehr Russland. Dessen latenter Einfluss auf die ruthenische Bevölkerung im Land, etwa unter den sogenannten Russophilen, wurde insbesondere aus polnischer Sicht und nicht zuletzt mit Blick auf die hart durchgreifende Russifizierung im russischen Teilungsgebiet, dem Königreich Polen, als Gefahr wahrgenommen und war Gegenstand nationalpolitischen Kalküls in Österreich, das um seine Integrität besorgt war.⁴
So kann das Lemberger Sobieski-Denkmal samt seinen suggestiven Bezügen zum Wiener Denkmal, und zwar als eine historisch argumentierende Aktualisierung des Gedenkens an die »Türkenkriege«, als Loyalitätsbekundung gegenüber der österreichischen Idee und österreichischen Sendung verstanden werden. Eine Loyalitätsbekundung allerdings, die in der Anverwandlung zugleich die Ebenbürtigkeit Sobieskis demonstrativ vorführte. Dessen herausragende Rolle in der Abwehr der türkischen Truppen bzw. eben allgemeiner: der Feinde des »abendländischen« Christentums war den polnischen Eliten ein zentraler identifikatorischer Bezugspunkt geworden, und er wurde, da sich die Elite als Repräsentanten derselben begriff, für die Nation an sich in Anspruch genommen. Polen sei das »Bollwerk des Christentums«, das »Antemurale Christianitatis«. Der Entsatz von Wien wurde dabei als »die größte Tat, welche Polen für das Wohlergehen der Menschheit erbracht hat«, gefeiert.⁵
Ein König für die Gegenwart
Es ging mit diesem Denkmal also ebenso um die Verortung des seit 1795 vollständig unter Preußen, Russland und Österreich aufgeteilten Polens in der Geschichte und in der Gegenwart, und zwar – wie es zeitgenössisch hieß: der »westlichen Zivilisation«. Eine Selbstverortung, die anerkannt werden wollte und von der Ansprüche abgeleitet wurden. Die Konturen dieser Bestrebungen treten in einer zweiten Perspektive hervor.
Der zeitgenössische wissende Betrachter wird unzweifelhaft in dem Reiter Jan III. Sobieski erkannt haben. In zahlreichen gemalten und gedruckten Bildwerken und plastischen Arbeiten hatte sich über die Jahrhunderte hinweg eine Vorstellung des Königs herausgebildet, die ihn in seiner Physiognomie und in der Art, wie und womit er wiedergegeben wurde, leicht identifizieren ließ. Das Lemberger Denkmal schloss darüber hinaus unmittelbar an ältere Reiterdarstellungen Sobieskis an – an das von einem nicht bekannten Künstler 1693 in Gips angefertigte Reiterstandbild im Schloss Wilanów ebenso wie an das 1788 von André le Brun (1737–1811) und Francois Pinck (1733–1798) geschaffene und im Warschauer königlichen Park Łazienki aufgestellte steinerne Reiterbild.⁶ (Abb. 4) In Krakau war zudem im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten 1883 an der Außenseite der Marienkirche ein Bronzerelief mit dem Bild des reitenden Sobieski enthüllt worden.
Barącz nahm im Lemberger Denkmal die Konventionen, die sich in diesen Darstellungen etabliert hatten, auf. Er überführte sie aber in der Wahl des Materials – der Bronze – und der Art der plastischen Ausführung – der Vollplastik – in einen repräsentativeren Typus, den des ehernen, vollplastischen Reiterstandbildes. Und so war es zwar rhetorische Zuspitzung, aber auch nicht ganz falsch, wenn der Dziennik Polski, das Lemberger polnische Tageblatt, am Tag der Enthüllung feststellte, dass man erst jetzt, zweihundert Jahre später, der Pflicht einer angemessenen Erinnerung an den König und Erretter des Christentums nachgekommen sei.⁷ Die Änderung des Auftrages, mit der der Lemberger Stadtrat 1894 von Barącz statt eines steinernen ein bronzenes Bildwerk bestellte, war also programmatisch !
Als Medien anschaulicher Machtausübung und ‑legitimation repräsentierten Reiterstandbilder dieser Art seit Jahrhunderten den Herrscher in seiner Abwesenheit. Im 19. Jahrhundert erlebte dieser Typus eine neue Hochzeit, wobei er für die Bedürfnisse der modernen Gesellschaft aktualisiert und dabei mal einer imperialen – man denke an das Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Danzig –, mal – wie zu zeigen sein wird – einer nationalen Sinngebung unterzogen wurde. Sobieski wurde also nicht nur als Verteidiger des christlichen »Abendlandes« präsentiert, sondern mit dem ehrenvollen Typus des überlebensgroßen, bronzenen Reiterstandbildes demonstrativ im Reigen der großen europäischen Herrscher positioniert.
Knapp zweihundert Jahre nach dem Tode Sobieskis ging es freilich nicht um die Repräsentation des tatsächlich herrschenden Königs, ebenso wenig ging es um eine historisch argumentierende Legitimierung einer dynastischen Nachfolge. Um einen Herrschaftsanspruch ging es gleichwohl. Die konkrete Gestaltung des Standbildes mit seinen neobarocken Anmutungen und formalen Rückgriffen auf ältere plastische Darstellungen lassen sich dabei als rhetorische Mittel verstehen. Mit ihnen wurde die Anciennität und die einstige Größe der polnischen Nation in der Person des Königs im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen geführt. Das wurde zeitgenössisch von Kommentaren begleitet, in denen Sobieski als der letzte große polnische König stilisiert wurde; alles Nachfolgende sei nur noch Niedergang gewesen, der in die Polnischen Teilungen gemündet sei.⁸ Beides, die Demonstration der königlichen Würde Sobieskis und damit Polens und die Klage über den Verlust derselben, bildete ein dialektisches Paar, das Sinn und Ziel in der Gegenwart hatte. (Abb. 5)
Die Niederlagen Österreichs in den kriegerischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts – insbesondere der sogenannte Deutsch-deutsche Krieg von 1866, der im Danziger Kriegerdenkmal als Sieg gefeiert wurde – hatten grundlegende Reformen im Habsburger Reich nach sich gezogen. Mit der sogenannten Dezemberverfassung von 1867 war u. a. der rechtliche Status der Länder Österreichs neu geregelt und dabei auch das Königreich Galizien und Lodomerien mit Rechten der Selbstverwaltung ausgestattet worden. Diese wurde von den polnischen Eliten wahrgenommen. Die Hoffnung und der Anspruch auf umfassende Unabhängigkeit, wenigstens für diesen Teil des einstigen Polens, war damit dennoch nicht erfüllt. Das Denkmal war so einerseits in seiner Präsenz Ausdruck der erlangten Quasiautonomie. Mit dem dezidierten Verweis auf die königliche Ebenbürtigkeit Sobieskis und auf die Rolle Polens für das christliche »Abendland« wurde allerdings ebenso dem noch nicht erfüllten Anspruch auf tatsächliche Unabhängigkeit Nachdruck verliehen; es wurde Loyalität gegenüber der Loyalität eingefordert, die Polen als »Bollwerk des Christentums« noch immer unter Beweis stelle.⁹
Eine Nation für alle
Sobieski wird im Lemberger Denkmal aber nicht nur als Feldherr und königlicher Herrscher vorgeführt, sondern mit Kontusz, Żupan und Kołpak ebenso markant als Vertreter des polnischen Adels, der Szlachta. Die Tracht war für die Zeit Sobieskis historisch genau. Sie fungierte im Denkmal aber ebenso als Medium der Identifikation, denn im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sie als »polski strój« (Polnische Tracht) die Bedeutung eines nationalen Bekenntnisses angenommen. Und so erschienen die offiziellen Vertreter der Stadt zu den Feierlichkeiten der Denkmalsenthüllung in Kontusz und Żupan. Damit gewann ein Habitus sichtbare und symbolische Form, mit dem performativ eine Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart geschlagen wurde. Sie verweist darauf, wie eng die Idee einer polnischen Nation auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch mit der Vorstellung des polnischen Adels verbunden war.
Die Feierlichkeiten und die verschiedenen Initiativen zum Jubiläum des Entsatzes von Wien 1883 hatten jedoch bereits angezeigt, dass hier etwas in Bewegung geraten war. Mit gezielten Aktionen war die Erinnerung an Sobieski in die breitere Masse getragen worden, und trotz eines scharf geführten Streites und der Sorge, dass das Niveau leiden würde, waren auch Bauern zu den dreitägigen Feierlichkeiten des Jubiläums 1883 nach Krakau eingeladen worden.1⁰ Auch die Denkmalsenthüllung in Lemberg fünfzehn Jahre später war mit einer Veranstaltung des »Künstlerisch-literarischen Zirkels« am Vorabend, mit einem großen Zug von Korporationen, Schulen und Handwerksinnungen, einem feierlichen Gottesdienst, der öffentlichen Enthüllung, mit einem Empfang im Rathaus und am Abend bei der Familie des Stadtpräsidenten, mit nachmittäglichen Theateraufführungen und Lesungen und schließlich mit der abendlichen Illumination des enthüllten Werkes so choreografiert worden, dass einerseits für die Eliten exklusive Gelegenheiten geschaffen wurden und andererseits die städtische Bevölkerung in der Breite an dem Ereignis teilhatte und angehalten wurde, sich mit dem vom Stadtrat initiierten Erinnerungsprojekt zu identifizieren.
In Galizien, zumal in dessen Osten, wo der Anteil einer Bevölkerung, die sich nicht nur sozial, sondern auch in Sprache, Kultur und Konfession von der polnischen Oberschicht unterschied, war damit mehr als nur die sukzessive Verankerung der nationalen Idee in der breiten Masse verbunden. Den polnischen Initiatoren war es vielmehr daran gelegen, die Erinnerung an die Kämpfe gegen die Türken zugleich als Vehikel der Integration von Polen und vor allem Ukrainern zu nutzen. Argumentatives Mittel war einerseits ein Panslawismus, bei dem das westliche, »zivilisierte« Slawentum vom einem östlichen »tyrannischen« – gemeint war Russland – abgegrenzt wurde. Andererseits wurde mit der Redewendung »Gente Rutheni, Natione Poloni« (Dem Stamme nach Ruthenen, der Nation nach Polen), die gelegentlich auch die Litauer einschloss, auf die einstige Polnische Adelsrepublik, die Rzeczpospolita, angespielt, in der die verschiedenen Völker sich zugleich der übergeordneten polnischen Nation zugehörig gefühlt hätten.11
Eine polnische Hauptstadt
Das Denkmal an sich ließ durchaus Spielraum für eine solche Deutung, und dennoch nahm es einen exklusiv polnischen Charakter an. Für die Beschreibung dessen bedarf es einer weiteren Perspektive: Wie auch in Danzig für das Kriegerdenkmal so war auch für das Sobieski-Denkmal in Lemberg mit seiner Aufstellung auf den Wały Hetmańskie, den Hetmanswällen (heute ukr.: Prospekt Swobody), ein prägnanter Ort in der Stadt gefunden worden. (Abb. 6) Mit diesem breiten Boulevard westlich der Altstadt hatte sich das urbane Leben des 19. Jahrhunderts an Stelle der alten Festungswälle einen repräsentativen Raum geschaffen. Eine breite, baumbestandene Promenade trennte zwei Straßenzüge, die von Banken, Büro- und Geschäftshäusern gesäumt waren. (Abb. 7)
Das Sobieski-Denkmal wurde in der Mitte dieser Achse aufgestellt, und zwar da, wo sich die östlich gelegene Altstadt mit dem Heiligen-Geist-Platz (historisch poln.: pl. Św. Ducha, heute ukr.: pl. Iwanu Pidkowi) zu den Hetmanswällen nach Westen hin öffnete. In seiner Hauptansicht wurde es vom Städtischen Theater im Norden hinterfangen (Abb. 5), das sich zum Zeitpunkt der Denkmalsenthüllung im Bau befand. Am südlichen Ende der Promenade schloss sich nach einem leichten Knick in östliche Richtung ein Platz an, auf dem 1904 ein Denkmal für den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz (1798–1855) eingeweiht wurde. Damit war das Sobieski-Denkmal auf dieser Achse zwischen zwei Orten eingespannt, mit denen sich das moderne polnische Nationalverständnis im Lemberger Stadtraum präsentierte. Kam man hingegen von Westen, etwa vom Bahnhof oder dem Stadtpark, auf das Stadtzentrum zu, so sprengte einem der König vor der Altstadtkulisse entgegen. (Abb. 8) Im Lichte der abendlichen Illumination – so der Bericht vom Tag der Denkmalsenthüllung – sei Sobieski vor diesem Hintergrund wie ein Geist aus der Vergangenheit auferstanden.12
Um diesen Moment der Vergegenwärtigung ging es und darum, dass dieser Moment seinen Ort in Lemberg hatte. Mit Stolz verwies der Oberbürgermeister Godzimir Małachowski (1852–1908) in seiner Rede zur Denkmalsenthüllung darauf, dass die Familie Sobieskis aus der Region stamme, in der Jan III. in Olesko geboren worden sei. Sobieski sei nicht erst als König Lemberg wie keiner anderen polnischen Stadt verbunden gewesen, habe sie privilegiert und für ihren Schutz gesorgt. Die oben skizzierte Bedeutung Sobieskis erscheint hier absichtsvoll mit dem Schicksal Lembergs verwoben.13 Die Selbstverwaltung der Stadt lag seit den 1860er Jahren weitestgehend in der Hand der polnischen Eliten. In deren Politik verklammerte sich eine praktische Modernisierung der Stadt mit einer ebenso programmatischen wie sinnlich anschaulichen symbolischen Deutung und Besetzung des Stadtraums. Darin artikulierte sich die Idee, dass Lemberg als Hauptstadt eines quasiautonomen Landes »über das Wohlergehen der gesamten Nation zu wachen« und »als polnische (Ersatz-)Hauptstadt zu fungieren« habe.14 Dem Sobieski-Denkmal kam dabei die Funktion zu, diese Polonisierung des Stadtraumes sinnfällig in der historischen Tiefe zu verankern, dabei die Geschichte mit all den beschriebenen Mitteln zu evozieren und sie mit der Gegenwart symbolisch und räumlich zu verklammern. In seinem engeren und weiteren stadträumlichen und im konkreten historischen Kontext seiner Enthüllung war das Denkmal somit Teil der Manifestation eines modernen polnischen Nationalverständnisses. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildende ukrainische nationale Bewegung fehlte der diskursiven Beschwörung der Idee der alten, überwölbenden polnischen Republik, der Rzeczpospolita, nun allerdings die Überzeugungskraft. Die ukrainischen Eliten distanzierten sich weitgehend vom Denkmalprojekt.
Mit diesen gewichtigen Bedeutungsschichten versehen, ist es durchaus erstaunlich, dass das Denkmal die politischen und staatlichen Umbrüche der folgenden Jahrzehnte am Ort überdauerte. Die sowjetische und die nationalsozialistische Macht präsentierten sich am Ort mit eigenen Denkmälern bzw. Umbenennungen von Platz und Straße, rührten aber das Sobieski-Denkmal offenbar nicht an. Auf Bemühen polnischer Akteure vor Ort wurde das Denkmal zusammen mit anderen Kulturgütern 1950 nach Polen gebracht. Es fand zunächst eine Aufstellung in Wilanów bei Warschau, bevor es im Juni 1965 feierlich in Danzig auf dem Holzmarkt erneut enthüllt wurde. Aber das ist schon wieder eine neue Geschichte.
Beide Denkmäler, das Kriegerdenkmal in Danzig und das Sobieski-Denkmal in Lemberg, sind Orte, an denen, mit denen und um die herum die Imagination der modernen Nation artikuliert, für die breite Masse organisiert und raumgreifend demonstriert wurde. Als dialektischer Gegenpart zur – und damit integraler Bestandteil der – Dynamik der Moderne, in deren Mitte die Denkmäler jeweils platziert wurden, wurde in ihnen die Anciennität der Nation beschworen. Während die polnische Nation mit Sobieski in Lemberg konkrete Geschichte zum Argument hatte, wurde die deutsche im Kriegerdenkmal in Danzig in eine diffuse, ahistorische Ewigkeit transzendiert. Das Danziger Kriegerdenkmal war Ausdruck und offensives Zeichen der Konsolidierung des Deutschen Reiches und der raumgreifenden Etablierung des preußischen Staates in Danzig und Westpreußen. Es war Markierung seines hiesigen Territoriums. Das Sobieski-Denkmal erscheint vielschichtiger, es war Loyalitätsbeweis gegenüber Österreich, Abgrenzung gegenüber Russland; insbesondere aber war es demonstrative Selbstbehauptung. Insofern manifestierte sich in ihm die beschränkte Macht der in der Hand der polnischen Eliten liegenden Verwaltung Galiziens. Es war im Unterschied zu Danzig weniger Markierung eines gesicherten Territoriums. Vielmehr artikulierte sich hier der Anspruch auf die Wiedererrichtung eines zukünftigen unabhängigen Polens. Mit beiden Denkmälern wurde dabei die eigene Nation, wenn auch auf unterschiedliche Weise und ausgehend von einem unterschiedlich ausgeprägten Machtpotential, überhöht. In ihrem jeweiligen historisch-räumlichen Kontext, mit einer Bevölkerung, die in Sprache, Kultur, Glauben, Ethnie und Nation weit differenzierter war, waren beide Denkmäler latent exklusiv und provozierten den Widerspruch der Bevölkerung, die sich nicht darin repräsentiert sah.
Der dritte – und letzte – Teil dieses Beitrags erscheint in der nachfolgenden Ausgabe 3/2024.
- Zu den Jubiläumsfeierlichkeiten: Wiesław Bieńkowski: »Wien und Krakau 1883. Die Feierlichkeiten zum 200-jährigen Jubiläum«, in: Studia Austro-Polonica, 3 (1983), S. 401–439; Adam Galos: »Obchody rocznicy wiedeńskiej w Galicji w 1883 r. [Die Feierlichkeiten zum Wiener Jubiläum in Galizien 1883]«, in: Z dziejów i tradycji srebrnego wieku. Studia i materiały [Aus der Geschichte und Tradition des silbernen Zeitalters. Studien und Materialien], hg. v. Jerzy Pietrzak, Wrocław, 1990, S. 123–143; Paweł Sierżęga: »Obchody 200. rocznicy odsieczy wiedeńskiej w Galicji (1883 r.) [Die Feierlichkeiten des 200-jährigen Jubiläums des Entsatzes von Wien in Galizien (1883)]«, Rzeszów 2002 (Seria wydawnicza Galicja i jej dziedzictwo, 17).
- Zum Prozess der Denkmalstiftung und ‑realisierung: Aleksander Czołowski: Jan III. i jego pomnik we Lwowie [Jan III. und sein Denkmal in Lemberg], verfasst im Auftrag des Stadtrates, Lwów 1898, S. 29–32; Heidi Hein-Kircher: Lembergs »polnischen Charakter« sichern. Kommunalpolitik in einer multiethnischen Stadt der Habsburgermornachie zwischen 1861/62 und 1914, Stuttgart 2020, S. 280ff.
- Martina Thomsen: »Prinz Eugen und Jan III. Sobieski. Der Ruhm des Siegers. Um den Vorgang im nationalen und europäischen Heldenpantheon«, in: Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Bd. 3: Parallelen, hg. v. Hans Henning Hahn und Robert Traba unter Mitarbeit von Maciej Górny und Kornelia Kończal, Paderborn u. a. 2012 S. 182–202.
- Zum Verhältnis von innen- und außenpolitischen Problemen in Bezug auf Galizien: Hans-Christian Maner: Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, München 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, 111).
- Zitat aus: Chwała i sława Jana III w sztuce i literaturze XVII–XX w. / Lob und Ruhm Johannes III in Kunst und Literatur. Katalog wystawy jubileuszowej z okazji trzechsetlecia odsieczy wiedeńskiej / Katalog der Jubiläumsausstellung anlässlich der 300. Jahrfeier des Entsatzes von Wien, Warszawa 1983, S. 245.
- Vgl. die virtuelle Sammlung von Objekten, die mit Jan III. Sobieski in Verbindung stehen: www.wilanow-palac.pl/sobiesciana.
- Ohne Autor: Dziennik Polski, vom 20. November 1898, Nr. 322.
- Ebd.; so auch: Lucyan Tatomir: Wspomnienie o Janie III Sobieskim, w dwóchsetną rocznicę śmierci króla-bohatera [Erinnerungen an Jan III. Sobieski, im 200. Jahr des Todes des königlichen Helden], Lwów, 1896, S. 64 (Wydawnictwo Ludowe, Książeczka, 167).
- In diesem Sinne: Galos, »Obchody« (wie Anm. 1), S. 129; Thomsen, »Prinz Eugen« (wie Anm. 3), S. 191; Hein-Kircher 2020 (wie Anm. 2), S. 282.
- Galos, »Obchody« (wie Anm. 1), S. 135–139.
- Ebenda, S. 140–143; Adam Świątek: »Przypadek Gente Rutheni, Natione Poloni w Galicji [Der Fall Gente Rutheni, Natione Poloni in Galizien]«, in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellonskiego, Prace Historyczne, 144 (2017), H. 2, S. 303–322.
- Ohne Autor: »Pomnik króla Jana III [Das Denkmal des Königs Jan III.]«, in: Zugabe zum Dziennika Polskiego, Nr. 322 vom 20. November 1898.
- Ebenda.
- Grundlegend zur Kommunalpolitik in Lemberg: Hein-Kircher, Lembergs »polnischen Charakter« sichern (wie Anm. 2), Zitate: S. 322f. Siehe auch: Grzegorz Rossoliński-Liebe: Der Raum der Stadt Lemberg in den Schichten seiner politischen Denkmäler, online veröffentlicht auf »kakanien revisted« am 20.12.2009: www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/GRossolinski-Liebe1/, download am 23.01.2024.