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»… wo der polnische Wind schon scharf über die ostdeutsche Heidelandschaft weht« – Zum 150. Geburtstag der Schriftstellerin Marianne Mewis

Eine Schriftstellerin verschwindet – wer sich mit der westpreußischen Schriftstellerin und Dichterin Marianne Mewis, die in Arnsfelde bei Deutsch Krone geboren wurde, eingehender beschäftigt, könnte sich recht bald an den Titel der 1938 von Alfred Hitchcock gedrehte Kriminalkomödie erinnert fühlen (The Lady Vanishes), in der eine Dame »verschwindet«. Schon seit den frühen 1920er Jahren findet sich kein lexikalischer Eintrag mehr zu dieser bis dahin sehr erfolgreichen Autorin. Ihre letzten Lebensjahrzehnte – sie stirbt 1938 – sind äußerst spärlich dokumentiert. Bildnisse von ihr sind nur mit großen Schwierigkeiten zu entdecken ;  und nach weiteren Recherchen wird sogar ihr Geburtsjahr zweifelhaft :  Es ist letztlich (noch) nicht auszumachen, ob Marianne Mewis am 6. Dezember 1866 – oder vielleicht schon am gleichen Tage des Jahres 1856 – geboren wurde. Wenn also nicht einmal gesagt werden kann, an welchem Punkt unser Zeitschnitt genau zu setzen ist, bietet dies schon für sich einen hinlänglichen Grund, diese Persönlichkeit aus Westpreußen etwas genauer in den Blick zu nehmen.

Spuren von Leben und Werk

Mari­an­ne Mewis, deren lite­ra­ri­sche Arbei­ten ab 1901 ver­legt wur­den, trat seit­dem mit Novel­len (Der Sonn­tags­mann, 1903), mit »Klei­nen Geschich­ten in Vers und Pro­sa« (Die Ein­fäl­ti­gen, 1904) oder Roma­nen her­vor (Peter Bröms, 1910). Die brei­te Reso­nanz, die ihre Publi­ka­tio­nen damals fan­den, spie­gelt sich auch in Bru­no Pompe­ckis Lite­ra­tur­ge­schich­te der Pro­vinz West­preu­ßen (Dan­zig, 1915) wider, in der er der Autorin, die »lite­ra­risch eine ech­te West­preuß­in geblie­ben« sei und »unse­re Tuche­ler Hei­de in die Lite­ra­tur ein­ge­führt« habe, »ein Talent voll Gesund­heit, Kraft und ech­tem Humor« attes­tiert (S. 226). Auch Franz Brüm­mer berück­sich­tigt Mari­an­ne Mewis im 4. Band sei­nes Lexi­kons der deut­schen Dich­ter und Pro­sa­is­ten vom Beginn des 19. Jahr­hun­derts bis zur Gegen­wart (dort nennt er auch »M. Wit­tich« als ihr Pseud­onym) und gibt in den Nach­trä­gen für die Jah­re ab 1910 (8. Band, 6. Aufl. Leip­zig, 1913, S. 249) eini­ge detail­lier­te bio­gra­phi­sche Hinweise :

Ihr Vater, ein Land­wirt, galt als »latei­ni­scher Bau­er«, weil er stets mehr mit phi­lo­so­phi­schen Pro­ble­men als mit land­wirt­schaft­li­chen beschäf­tigt war ;  ihre Mut­ter, eine stil­le, schö­ne und sehr güti­ge Frau, die immer tätig u. jeder prak­ti­schen Anfor­de­rung des Lebens gewach­sen war, ver­lor Mari­an­ne, als sie noch sehr jung war. Sie erhielt eine gute Schul­bil­dung, leg­te ihre Leh­re­rin­nen­prü­fung ab, absol­vier­te eine Frauen­gewerbe- und Han­dels­schu­le, betrieb in Ber­lin Male­rei und Kunst­ge­schich­te und stell­te sich zei­tig auf eige­ne Füße. So lei­te­te sie u. a. zwölf Jah­re lang eine Fort­bil­dungs­schu­le für jun­ge Mäd­chen in Dres­den und ging dann, einem star­ken inne­ren Trie­be fol­gend und von Sach­ver­stän­di­gen ermu­tigt, zur Schrift­stel­le­rei über.

Die­se For­mu­lie­run­gen sind offen­sicht­lich von einer hand­schrift­li­chen auto­bio­gra­phi­schen Skiz­ze abge­lei­tet, die der klei­nen Samm­lung Der Sie­ben­fres­ser und ande­re Geschich­ten (1912) – erschie­nen in Kürsch­ners  Bücher­schatz – als Fak­si­mi­le vor­an­ge­stellt ist. Die­ses Blatt ent­hält drei (von Brüm­mer natur­ge­mäß aus­ge­spar­te) per­sön­li­che Aus­sa­gen, die für unse­re Inter­es­sen auf­schluss­reich sind. Zu Beginn schreibt Mari­an­ne Mewis jenen Satz, aus dem das Mot­to die­ses Bei­trags ent­nom­men ist :  »Ich bin ein Kind vom Lan­de und in dem süd­west­li­chen Zip­fel von West­preu­ßen gebo­ren, wo der pol­ni­sche Wind schon scharf über Sand und Kie­fern­wald, die ost­deut­sche Hei­de­land­schaft, weht.« In der Mit­te des Tex­tes spricht sie von sich selbst als einem »sehr leb­haf­ten, phan­ta­sie­rei­chen Mäd­chen« und ver­rät am Ende ihr künst­le­ri­sches Cre­do :  »Sinn für Kunst, Poe­sie, beson­ders aber für die Natur hat mir die Rich­tung gege­ben, der ich treu geblie­ben bin«.

Wei­te­re, gar tie­fer­ge­hen­de Infor­ma­tio­nen sind über die­se Schrift­stel­le­rin, von deren Büchern eini­ge bis in die 1930er Jah­re hin­ein in meh­re­re Auf­la­gen erschie­nen, kaum noch zu erlan­gen. Zum Ende ihres Lebens ist sie anschei­nend nach Schwe­rin gegan­gen – nach Aus­kunft des Adress­buchs aus dem Jah­re 1935 wohn­te sie dort in der Königstr. 6/8 c –, die Deut­sche Schil­ler­stif­tung (DSS), zu deren Auf­ga­ben die finan­zi­el­le Unter­stüt­zung bedürf­ti­ger oder in Not gera­te­ner Schrift­stel­ler oder ihrer Ange­hö­ri­gen gehört, för­der­te sie nach Lage der Akten seit 1928, und in einer chrono­logischen Auf­lis­tung für die Stadt Dres­den, in der die Autorin lan­ge Jah­re gelebt hat­te, fin­det sich die Anga­be, dass die Schrift­stel­le­rin Mari­an­ne Mewis am 29. Dezem­ber 1938 in Schwe­rin ver­stor­ben sei.

In noch grö­ße­rem Dun­kel blei­ben die frü­hen Pha­sen die­ses Lebens­we­ges. Auch wenn Brüm­mer den 6. Dezem­ber 1866 lexi­ko­gra­phisch fest­ge­schrie­ben hat, – in den Akten der DSS wird das Geburts­jahr mit 1856 ange­ge­ben ;  des­glei­chen ver­merkt die Daten­bank des »Kalliope-Verbunds«, die in ver­schie­de­nen Biblio­the­ken ins­ge­samt fünf Auto­gra­phen der Dich­te­rin erfasst, zwar beim Haupt­ein­trag 1866, bei den Ein­zel­quel­len aber das frü­he­re Datum als Geburts­jahr. Gestützt wird die­se alter­na­ti­ve Zuord­nung nicht zuletzt durch einen Ein­trag im Kir­chen­re­gis­ter der Men­no­ni­ten­ge­mein­de zu Elbing-­Ellerwald, der für eine am 6. Dezem­ber 1856 gebo­re­ne Mari­an­ne Mewis nicht nur fest­hält, dass sie den 29. März 1874 kon­fir­miert (»conf.«) wor­den sei, son­dern für die Eltern die Namen Albert und Anna Mewis, geb. Wit­tich, nennt. Dass der Mäd­chen­na­me der Mut­ter spä­ter­hin als Pseud­onym ver­wen­det wur­de, dürf­te jeden Zwei­fel an der Iden­ti­tät die­ser Kon­fir­man­din aus­räu­men, – wobei die über­ra­schen­de Bezie­hung zu Elb­ing aller­dings auch zeigt, auf welch schwan­kem Boden wir uns bei die­sen Recher­chen über­haupt bewe­gen. – Es wäre somit im Grun­de ange­ra­ten (wenn­gleich auch unge­wöhn­lich) gewe­sen, im Unter­ti­tel die­ses Arti­kels von vorn­her­ein vom »150./160. Geburts­tag« zu sprechen.

»Der große Pan«

Die künst­le­ri­sche Pro­duk­ti­on von Mari­an­ne Mewis gehört frag­los zur Trivial­-Literatur, denn sie bie­tet fass­li­che, gut nach­voll­zieh­ba­re Inhal­te und zielt schon durch die Publi­ka­ti­ons­or­te – Kürsch­ners Bücher­schatz oder (beim Roman Peter Bröms, der in Fort­set­zungs­hef­ten erschien) die Deut­sche Roman-Bibliothek – auf ein brei­tes Publi­kum. Unge­ach­tet die­ser Grund­orientierung ver­die­nen eini­ge der Tex­te durch­aus eine neu­er­li­che, unbe­fan­ge­ne Lek­tü­re. Sie könn­te den Blick auf eine Autorin frei­ge­ben, die sich in den ver­schie­de­nen lite­ra­ri­schen Gat­tun­gen und For­men sicher bewegt, unge­ach­tet aller Typi­sie­rung und Stan­dar­di­sie­rung ori­gi­nel­le Geschich­ten und dif­fe­ren­zier­te Hand­lungs­ver­läu­fe ent­wirft und sti­lis­tisch und rhe­to­risch im bes­ten Sin­ne des Wor­tes ihr »Hand­werk« ver­steht. Wäh­rend ande­re Autorin­nen wie die um eine Gene­ra­ti­on älte­re E. Mar­litt (Euge­nie John) oder die (mehr oder weni­ge) gleich alte Hed­wig Courths-Mahler (1867­–1950) wei­ter­hin ihre Leser und (vor allem) Lese­rin­nen fin­den, ist unse­re west­preu­ßi­sche Autorin aber nicht mehr in den Fokus der Auf­merk­sam­keit gerückt wor­den :  sie konn­te von der – mit den spä­ten 1960er Jah­ren ein­set­zen­den – Neu­be­wer­tung der »Trivial-Literatur« offen­bar nicht profitieren.

Ein wich­ti­ger Grund dafür, dass bei ihr die »Furie des Ver­schwin­dens« sehr erfolg­reich zu wir­ken ver­moch­te, dürf­te dar­in lie­gen, dass Mari­an­ne Mewis bes­ten­falls noch als Urhe­be­rin des Romans Der gro­ße Pan erin­nert wird ;  denn die­ses 1908 in Dres­den erschie­ne­ne Buch gilt als Inbe­griff eines »Ost­mar­ken­ro­mans«, eines Typus, der im unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hang mit Bis­marcks »Ger­ma­ni­sie­rungs­po­li­tik« zu sehen ist, weil er es sich zur Auf­ga­be stell­te, deren ideo­lo­gi­sche Grund­ideen literarisch-propagandistisch zu ver­brei­ten, die exem­pla­risch in der 1886 ein­ge­setz­ten König­lich Preu­ßi­schen Ansied­lungs­kom­mis­si­on für West­preu­ßen und Posen sowie im 1894 gegrün­de­ten Ver­ein zur För­de­rung des Deutsch­tums in den Ost­mar­ken (der ab 1899 Deut­scher Ost­mar­ken­ver­ein hieß) mani­fest gewor­den waren. In die­sem Sin­ne sah schon Bru­no Pompe­cki im Gro­ßen Pan qua­si ein »Haupt­werk« ;  denn hier »schuf«, so führt er aus,

die Dich­te­rin ein Bild gewal­ti­gen männ­li­chen Rin­gens und damit das wert­volls­te Kul­tur­ge­mäl­de aus den Ost­mar­ken, das die deut­sche Lite­ra­tur um die Wen­de des ers­ten Jahr­zehnts besaß. Ein groß­zü­gi­ges Werk mit siche­rer Milieu­schil­de­rung, fes­selnd durch eine Rei­he vor­treff­lich gezeich­ne­ter Gestal­ten und eine Fül­le von tie­fen Gedan­ken. Ein mar­ki­ges und wur­zel­ech­tes Hei­mat­buch im bes­ten Sin­ne (S. 226).

Dass hier ein Buch vor­liegt, das eupho­risch als »mar­ki­ges und wur­zel­ech­tes Hei­mat­buch« geprie­sen wur­de, hat die Chan­cen einer »Wie­der­ent­de­ckung« seit den 1960er Jah­ren sicher­lich nicht erhöht. Statt­des­sen wird die Autorin (wenn über­haupt) nun regel­mä­ßig unter der Per­spek­ti­ve einer ideo­lo­gie­kri­ti­schen Lite­ra­tur­be­trach­tung inter­pre­tiert. »Ost­mar­ken­ro­ma­ne« hat­ten die Auf­ga­be, den heroi­schen Kampf gegen das (mit einem Wort der Zeit) »anbran­den­de Polen­tum« zu unter­stüt­zen, Model­le eines pro­duk­ti­ven Zusam­men­le­bens der ver­schie­de­nen Völ­ker zu ent­wi­ckeln, bei dem gleich­wohl die hie­rarchische Vor­herr­schaft des einen über das ande­re nicht in Fra­ge gestellt wird, und nicht zuletzt das in Besitz genom­me­ne Land (die Pro­vin­zen Posen und West­preu­ßen) kul­tu­rell zur »Hei­mat« der Deut­schen wer­den zu las­sen. Und par­tien­wei­se hat Mari­an­ne Mewis sol­chen Erwar­tun­gen ohne Fra­ge ent­spro­chen. Aus einer lan­gen Rei­he von Bei­spie­len sei zumin­dest die fol­gen­de Pas­sa­ge zitiert, in der eini­ge erfolg­lo­se pol­ni­sche Klein­bau­ern cha­rak­te­ri­siert werden :

Und sie, die nicht wuß­ten, wie sie sich, das Weib, den reich­li­chen Nach­wuchs, Knecht­lein und Magd durchs lan­ge Jahr brin­gen soll­ten, sie waren fröh­lich und sorg­los wie die Zaun­kö­ni­ge. Der die­ses kar­ge Land schuf, hat­te dem Volk dar­auf zum Aus­gleich sei­nes har­ten Geschicks das köst­lichs­te Gut ver­lie­hen :  ein fröh­li­ches Herz. (S. 76)

Ein regel­rech­tes Grund­mo­tiv, das immer wie­der ange­schla­gen wird, bie­tet auch die bis zum Las­zi­ven rei­chen­de ero­ti­sche Dis­po­si­ti­on der pol­ni­schen Frau­en, die glei­cher­ma­ßen begeh­rens­wert sind, wie selbst begeh­ren. – Wenn sol­che Merk­ma­le tat­säch­lich die Sub­stanz die­ses Romans aus­mach­ten, könn­ten jeg­li­che wei­te­ren Debat­ten unter­blei­ben. Mit Recht wäre dann das Werk der Mari­an­ne Mewis mit der Gesell­schaft, für die sie geschrie­ben hat und die ihre Schil­de­run­gen zu gou­tie­ren ver­moch­te, untergegangen.

Eine genaue­re Betrach­tung zeigt aller­dings, dass sie dem poli­ti­schen Sys­tem nicht nur will­fäh­rig dient, son­dern es selbst durch­aus kri­tisch dar­stellt, wenn nicht sei­ne Brü­chig­keit zu erken­nen gibt. Berndt Swan­te­witt, der »gro­ße Herr«, wird zu einem mäch­ti­gen Großgrund­besitzer, der auf sei­nem Wege Stra­te­gien ent­wi­ckelt, sich inner­lich gegen sei­ne zuneh­men­de Gewis­sen­lo­sig­keit zu »pan­zern« oder, noch gra­vie­ren­der, sei­ne Hand­lungs­wei­sen auf Umwe­gen als »mora­lisch gebo­ten« zu recht­fer­ti­gen. Dabei macht er sich auch die für ihn güns­ti­gen Ent­wick­lun­gen der Ger­ma­ni­sie­rungs­po­li­tik zunut­ze und kommt am Ende sei­nes Lebens in einem Gespräch mit dem wei­sen und posi­tiv por­trä­tier­ten pol­ni­schen Gra­fen Soł­tyk zu der beklem­men­den Feststellung :

In der Into­le­ranz liegt die Stär­ke der Über­zeu­gung. Wenn ich vor­an will, wenn ein Volk auf­wärts strebt, muß es für eine Idee kämp­fen. Und es kommt mei­nes Ermes­sens gar nicht sehr dar­auf an, ob die­se Idee sich mit Begrif­fen höchs­ter Wahr­heit und Gerech­tig­keit deckt. Der Kampf allein stählt schon. (S. 367)

Neben die­ser Dif­fe­renz zwi­schen den Posi­tio­nen der Figu­ren und der eige­nen Hal­tung der Autorin gibt es noch einen wei­te­ren Bereich, inner­halb des­sen Der gro­ße Pan eine Neu­be­wer­tung nahe­legt :  Die Frau­en, deren Wege der Wit­wer Swan­te­witt kreuzt und derer er sich jeweils nach hef­ti­gen Lie­bes­be­zie­hun­gen zur gege­be­nen Zeit ent­le­digt, fin­den gleich­sam zu sich selbst und bewäl­ti­gen ihr Schick­sal – jede für sich und nach den eige­nen Mög­lich­kei­ten – bra­vou­rös. Nicht zuletzt sind es die dif­fe­ren­zier­ten Ein­sich­ten in die psy­chi­schen Befind­lich­kei­ten die­ser Frau­en­fi­gu­ren, die (ähn­lich wie bei der Mar­litt) den dama­li­gen Erfolg der Autorin begrün­det haben mögen – und die auch heu­te Anlass dazu geben könn­ten, den »Ost­mar­ken­ro­man« und die Wer­ke von Mari­an­ne Mewis unter­halb der offen­kun­di­gen ideo­lo­gi­schen Ober­flä­che noch­mals einer genau­en Lek­tü­re zu unterziehen.

Erik Fischer