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Koordinaten und Konstruktionen

Clara Maddalena Frysztacka erforscht das polnische Selbstbild und seine Zeitdimensionen

Die­ses Buch hat es in sich: Cla­ra Mad­da­le­na Fry­sz­t­a­cka wur­de damit vor drei Jah­ren an der Uni­ver­si­tät Sie­gen pro­mo­viert – und ihre Arbeit wur­de mit gleich vier wis­sen­schaft­li­chen Prei­sen aus­ge­zeich­net. Die His­to­ri­ke­rin, 1986 in Mai­land gebo­ren, forscht an der Europa-Universität Via­dri­na in Frank­furt (Oder). Wor­um es in Fry­sz­t­ack­as Zeit-Schriften der Moder­ne geht, ist nicht ganz leicht zu durch­schau­en. Was sind „Zeit­kon­struk­tio­nen“, was ist unter einer „tem­po­ra­len Selbst­ver­or­tung“ zu verstehen?

Cla­ra Mad­da­le­na Fry­sz­t­a­cka hat in ihrer mate­ri­al­rei­chen Arbeit unter­sucht, wie die­je­ni­gen Pol­nisch spre­chen­den Men­schen sich selbst ver­stan­den bezie­hungs­wei­se „ver­or­te­ten“, die in der Zeit um 1900 in den „Tei­lungs­ge­bie­ten“ leb­ten, also in den ehe­mals pol­ni­schen Ter­ri­to­ri­en, die nun – wie West­preu­ßen – Teil Preu­ßens oder Österreich-Ungarns und Russ­lands waren. Wenn es um sol­che Fra­gen geht, dann schau­en die Geistes- und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten schon seit eini­ger Zeit auf die soge­nann­ten „men­tal maps“, also ima­gi­nä­re Land­kar­ten, die Ein­zel­ne und Gesell­schaf­ten brau­chen, um sich zum Bei­spiel ein Bild davon zu machen, wo sie sich befin­den und wel­che Land­schaf­ten, Städ­te und Ver­bin­dungs­li­ni­en ihnen etwas bedeu­ten. Der Osteuropa-Historiker Karl Schlö­gel hat dazu geforscht und sogar ein brei­tes Publi­kum erreicht.

Cla­ra Mad­da­le­na Fry­sz­t­a­cka ist Mit­ar­bei­te­rin an Schlö­gels ehe­ma­li­gem Lehr­stuhl. Ihr The­ma ist nun nicht mehr der Raum, son­dern vor allem auch die Zeit. Nicht um „Ver­or­tung“ geht es also, son­dern um „Ver­zei­tung“ : Wie wur­de der Ver­lauf der pol­ni­schen Geschich­te gese­hen und geglie­dert? Wie wur­de das Ver­hält­nis Polens zu Euro­pa ein­ge­schätzt? Galt Polen in der his­to­ri­schen Ent­wick­lung als ein Nach­züg­ler, oder wur­de es gele­gent­lich auch als Spit­ze des Fort­schrit­tes auf­ge­fasst? Es sind sol­che Fra­gen, für die Fry­sz­t­a­cka sich inter­es­siert und mit denen sie an ihre Quel­len – pol­nisch­spra­chi­ge Zeit­schrif­ten der Jahr­hun­dert­wen­de­zeit für ein brei­tes Publi­kum – herangeht.

In die­sen Pres­se­er­zeug­nis­sen bil­det sich nicht etwa nur eine schon vor­han­de­ne öffent­li­che Mei­nung ab. Die Pres­se war der Ort, an dem mit „Zeit­kon­struk­tio­nen“ expe­ri­men­tiert wur­de, also ver­schie­de­ne Deu­tungs­mus­ter der pol­ni­schen Geschich­te und Zukunft kur­sie­ren konn­ten. Für Fry­sz­t­a­cka sind die­se Publi­ka­tio­nen des­halb ganz im Wort­sin­ne „Zeit-Schriften“ – daher der Titel ihres Buches.

Soweit der Ansatz – doch zu wel­chen Erkennt­nis­sen kommt die Stu­die damit? Die Befun­de sind zahl­reich, kom­plex und kaum über­sicht­lich zusam­men­zu­fas­sen. Daher sei­en hier nur eini­ge von ihnen ange­deu­tet. Ein ers­ter Schwer­punkt in Fry­sz­t­ack­as Unter­su­chun­gen sind die Ver­su­che der Zeit­schrif­ten, Polens „his­to­ri­sche Tie­fe“ und „Alt­ehr­wür­dig­keit“ zu beto­nen. Dafür wer­den von den ver­schie­de­nen Autoren „Grund­ko­or­di­na­ten“ ein­ge­führt, etwa die Tau­fe des Fürs­ten Miesz­ko I. um das Jahr 965 oder die Schlacht von Tan­nen­berg 1410 mit dem Sieg des ­polnisch-litauischen Hee­res über den Deut­schen Orden. Zudem erscheint in allen mög­li­chen Quel­len das 16. Jahr­hun­dert, die „Zeit der Sigis­mun­de“, als eine Blü­te­zeit, an der die pol­nisch­spra­chi­ge Öffent­lich­keit sich ori­en­tie­ren konnte.

Von beson­de­rer Bedeu­tung sind die „Zeit-Schriften“ mit Blick auf die deutsch-polnische Bezie­hungs­ge­schich­te. Oft wur­den die­se Bezie­hun­gen dort als „ewi­ge Kon­kur­renz“ geschil­dert. Von pol­ni­schen Hoch-Zeiten wie den eben genann­ten „Grund­ko­or­di­na­ten“ abge­se­hen, wur­de durch die Geschich­te hin­durch meis­tens ein Ent­wick­lungs­rück­stand gegen­über Ger­ma­nen, Preu­ßen und Deut­schen gese­hen. Mehr noch: Die deut­sche Geschich­te, so drück­te ein Autor es aus, glei­che einem Marsch nach vor­ne im Gleich­schritt, die pol­ni­sche dage­gen ver­lau­fe chao­tisch in alle Rich­tun­gen. Gera­de Preu­ßen jedoch, so wur­de argu­men­tiert, gin­ge die „his­to­ri­sche Tie­fe“ ab, woge­gen die Sla­wen als die ursprüng­li­chen Besied­ler Ost­eu­ro­pas zu gel­ten hät­ten. Den angeb­li­chen Frei­heits­drang der Sla­wen sah man wie­der­um als Teil einer lan­gen Geschich­te, als deren Ziel­punkt ein zukünf­ti­ges Wie­der­erste­hen Polens gedacht wur­de. Fry­sz­t­a­cka inter­pre­tiert dies als Ver­such, die wahr­ge­nom­me­ne eige­ne Rück­stän­dig­keit umzu­deu­ten zu einer beson­de­ren Ver­an­la­gung für die Demo­kra­tie, mit der Polen der Frei­heit als sol­cher Vor­schub habe leis­ten sollen.

In auf­schluss­rei­cher Wei­se stellt Fry­sz­t­a­cka schließ­lich Bezie­hun­gen her zwi­schen den his­to­ri­schen Zeit­ver­läu­fen und dem Zeit­rah­men der Pres­se­er­zeug­nis­se – also der schlich­ten Tat­sa­che, dass Zeit­schrif­ten einen Erschei­nungs­rhyth­mus haben. Durch die Gestal­tung von Arti­kel­se­ri­en, jah­res­zeit­lich gebun­de­ne The­men und nicht zuletzt das Her­aus­stel­len von Jah­res­ta­gen sei es zu einer Über­lap­pung bei­der Zeit­ebe­nen gekom­men, die sicher star­ken Ein­druck auf die Vor­stel­lun­gen der Lese­rin­nen und Leser gemacht habe.

Am Ende des Buches wird schließ­lich noch klar, dass es einen wei­te­ren Grund gibt, die­se höchst anspruchs­vol­le wis­sen­schaft­li­che Arbeit auf die­sen Sei­ten vor­zu­stel­len: Auch Der West­preu­ße muss als eine „Zeit-Schrift“ gel­ten, auch die­ses Maga­zin kommt in sei­nen Bei­trä­gen nicht ohne eine „tem­po­ra­le Selbst­ver­or­tung“ aus. Wenn man sich vor­stellt, künf­ti­ge His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­ker könn­ten es ein­mal so genau lesen, wie Cla­ra Mad­da­le­na Fry­sz­t­a­cka es mit ihren Quel­len getan hat, dann spornt das nach­drück­lich dazu an, die eige­nen Geschichts­bil­der kri­tisch zu hinterfragen.

Alexander Kleinschrodt