In den Blick genommen

Mikołaj Łoziński: Stramer – Ein Familienroman

Berlin: Suhrkamp, 2024

Vor vier Jahren dokumen­tierte die Berliner Stiftung Topographie des Terrors ein Projekt zweier öster­rei­chi­scher Anthro­po­lo­ginnen aus dem Jahre 1942, die zur »Erfor­schung typischer Ostjuden« zahlreiche Familien aus einer polni­schen Klein­stadt »mit kaltem Blick« zu Dokumen­ta­ti­ons­zwecken ablich­teten. Darüber hinaus berichtete die Sonder­aus­stellung exempla­risch aus dem Leben der Juden vor und während der deutschen Besat­zungszeit. Der Ort des Geschehens war Tarnów, das, 80 Kilometer östlich von Krakau im Schatten der heutigen Touris­mus­me­tropole gelegen, wohl als ein bauge­schicht­liches Kleinod bezeichnet werden darf. Der mittel­al­ter­liche Stadtkern mit seinen Befes­ti­gungs­an­lagen, die Backstein­ka­the­drale und vor allem der imposante Markt­platz, in dessen Mitte das Rathaus spontan an dasjenige von Posen oder Kulm denken lässt, prägen auch jetzt noch das Bild der Stadt.

Der polnische Schrift­steller Mikołaj Łoziński, Jahrgang 1980, unter­nimmt in seinem Buch Stramer. Ein Famili­en­roman, das 2019 im polni­schen Original erschien und fünf Jahre später von Renate Schmidgall ins Deutsche übertragen wurde, eine Reise in ebendieses Tarnów zur Zeit zwischen den Weltkriegen, als noch fast die Hälfte der 50.000 Einwohner Juden waren und ein fried­liches Zusam­men­leben der Einwohner selbst­ver­ständlich schien. 

Die ungeteilte empathische Aufmerk­samkeit des Autors gehört den Stramers, einer jüdischen Familie aus der Goldhammer-Straße, in deren beengte Einzim­mer­wohnung mit Küche im Parterre er sich und seine Leser förmlich hinein­beamt, an den wacke­ligen Küchen­tisch auf unebenem Boden, um den sich sechs Kinder und die Eltern scharen. Es fehlt der Erstge­borene, ein Frühchen, – er sei, wie Nathan, der Vater, einmal lakonisch bemerkt, für Gott gewesen. Allabendlich verwandelt sich die Wohnung der Stramers in einen einzigen Schlafraum, und Rywka, die Mutter, sorgt dafür, »dass jedes der Kinder so viel Platz wie möglich« hat. 

Sie hatte entschieden, dass der größte und älteste Sohn, Rudek, in einem Bett mit dem jüngsten, Nusek, schlafen sollte, daneben Salek mit dem kaum kleineren Hesio, und ein Stück weiter, hinter dem Wandschirm aus Leinen, die Mädchen: Rena und die als letzte geborene Wela. Nur der Hund Suchard und die Katze Milka suchten sich jeden Abend aus, an wessen Füßen sie die Nacht verbringen würden.

Und jeden Morgen, nach einer Scheibe Schwarzbrot und einer Tasse Kaffee aus Zichorie, der Wegwarte, werden die Kinder nach einer festen Zeremonie zärtlich von der Mutter in den Tag verab­schiedet, fort vom Küchen­tisch und aus jenem Raum, der zum Sinnbild für Gebor­genheit und Verläss­lichkeit geworden ist und in einem politisch unbere­chen­baren und sich bedrohlich zuspit­zenden Umfeld zunehmend als Zufluchtsort dienen wird.

Mikołaj Łoziński schildert den Alltag der Familie Stramer und dabei chrono­lo­gisch gradlinig das Heran­wachsen der Kinder. Kurz getaktete Episoden, die jeweils einem Famili­en­mit­glied zugeordnet sind und durch die ständigen Perspek­tiv­ver­schie­bungen geschickt den Erzähl­fluss beleben, bestechen durch eine Fülle eindrück­licher Milieu­schil­de­rungen und Charak­ter­studien. Mit nur wenigen, präzisen Beobach­tungen weiß der Autor die signi­fi­kanten Wesenszüge seiner verschie­denen Protago­nisten trefflich – und durchaus mit leicht ironi­schem Unterton – zu skizzieren. In dieser Art tritt beispiels­weise die Chuzpe hervor, mit der Nathan als Famili­en­ober­haupt immerzu nach neuen raffi­nierten Geschäfts­ideen, dem großen Wurf, sucht, dabei jedoch stets jämmerlich und auf bisweilen tragi­ko­mische Weise scheitert. Jeder Misserfolg endet umgehend mit der Flucht in einen Mitleid heischenden Magen­ka­tarrh. Nicht minder auffällig ist die anrüh­rende Hilflo­sigkeit gegenüber seinen Kindern, die sich nicht nur im häufig angedrohten Einsatz des zunächst gefürch­teten, späterhin belächelten »ameri­ka­ni­schen Gürtels« zeigt – immerhin handelt es sich um ein Erinne­rungs­stück von Nathans unver­gess­licher Reise zu seinem Bruder nach New York, der die Familie durch großzügige Dollar­spenden regel­mäßig unter­stützt. Die Ungeduld des Vaters, den Kindern zuzuhören, gar seine Missbil­ligung ihrer Leiden­schaft für Bücher – »War es nicht schade um die Augen und die Zeit?« – oder das Unver­ständnis für ihre beruf­lichen wie politi­schen Entschei­dungen nehmen die Kinder klaglos, mit einer beinahe heiteren Gelas­senheit hin – wohl gestärkt durch die bedin­gungslose, unerschüt­ter­liche, allge­gen­wärtige Liebe ihrer Mutter, dem geradezu verklärten Gegen­entwurf zum Bilde ihres Mannes, bei dessen Anblick, wie sie resümiert, selbst die Katze Milka nicht selten aufge­schreckt durchs Fenster auf den Hof springen müsse.

Für Rywka, die Seele der Familie, ist es der liebste Anblick, wenn alle Kinder sich um den Küchen­tisch versammeln und gemeinsam essen. Unermüdlich, vorbe­haltlos und unkon­ven­tionell steht sie ihnen zu jeder Zeit bei. Sie sorgt sich um Hesio, der wegen kommu­nis­ti­scher Umtriebe vor ihren Augen in der Wohnung verhaftet und ins Gefängnis gebracht wird; in aller­größter Bedrängnis scheut sie nicht davor zurück, für ihre Enkel­tochter Róża einen katho­li­schen Taufschein zu organi­sieren; Wela erhält bei großem Kummer ein paar Groschen, damit sie sich ein Schin­ken­brötchen kaufen kann: »Nicht koscher, aber ein wirksamer Trost.« Dass ihre drei Ältesten heimlich aufbrechen, um Huren zu besuchen, erschüttert die Mutter nicht, denn seit der Bar Mizwa gelten sie gemäß der Thora als Erwachsene: »Und wie dachte Rywka? Sie ließ das Küchen­fenster für sie offen.« Auch die unerschro­ckene Rena, die sich auf ein Liebes­aben­teuer mit einem verhei­ra­teten Mann einge­lassen hat, sucht die Nähe ihrer Mutter und hofft zu Recht, »sich an den Küchen­tisch setzen, einen Malzkaffee trinken und von allem erzählen« zu können.

Die politi­schen Verhält­nisse, die sich spätestens seit dem Tode des Minis­ter­prä­si­denten Pilsudski radikal verändern, haben das Zusam­men­leben von Juden und Katho­liken in Tarnów vergiftet und Keile in das soziale Gefüge der Stadt getrieben – dies wird auch für der Familie Stramer zusehends spürbar. Es raubt Rywka den Schlaf, als sie miterlebt, wie ihre zwölf­jährige Tochter Wela in der Schule vermehrt juden­feind­liche Schmä­hungen ertragen muss, wie die Lehrerin sie vor den Mitschülern an der Tafel zu Unrecht bloßstellt oder das lachende Mädchen mit »bösar­tigem Ton« zurecht­weist: »Unter Hitler wärst du nicht so fröhlich, Wilhelmina [!].« In Tarnów ist schon allseits, selbst unter den Kindern, bekannt, welche Albträume die Juden in Deutschland durch­leben. Rudek hört, dass Dinge gesagt würden, die vor ein paar Jahren niemand gewagt habe, nur zu denken, und erzählt von einem Gespräch »zweier kulti­viert ausse­hender älterer Herren« in der Straßenbahn, die darüber schwa­dro­nierten, dass es doch ein kluger Mann und an seinem Programm etwas dran sein müsse, wenn »er« an die Macht gekommen sei. Dass sich der Antise­mi­tismus bereits auch der Univer­sität in Krakau bemächtigt hat, erfährt Rena tagtäglich: Trans­pa­rente werden hochge­halten, die ein Ghetto in den Hörsälen oder »Tod dem Juden-Kommunismus« fordern, ihr selbst wird eine Bahnfahr­karte vierter Klasse nach Palästina aufs Pult gelegt, und Kommi­li­tonen drohen ihr Gewalt an.

Unter der deutschen Besatzung eskaliert die Situation in Tarnów dann drama­tisch – die Synagogen, darunter auch die altehr­würdige aus dem 17. Jahrhundert, brennen; tägliche Drang­sa­lie­rungen und Abtrans­porte drohen; unvor­stellbar brutalen kollek­tiven Hinrich­tungen auf dem Markt­platz fallen Tausende zum Opfer, ein Ghetto wird einge­richtet, und in der Nähe entsteht ein Vernich­tungs­lager. Eher indirekt kommen die Bilder dieser Gräuel­taten und des unvor­stell­baren Leids – »von der stinkenden Gosse auf der Straße. Von dem Strom kranker, ausge­mer­gelter Menschen in Lumpen. Von den mit Zeitungen bedeckten Leichen auf dem Gehweg« – zur Sprache. Sie fließen nur mittelbar ein in den dumpfen, ahnungs­vollen Hinter­grund­klang, vor dem sich die Lebens­ge­schichten der Stramers umso klarer und eindring­licher abhebt.

Das Schicksal dieser Familie scheint unter den politi­schen Macht­ver­hält­nissen vorge­zeichnet, und es nimmt unauf­haltsam seinen tragi­schen Lauf. Die einstige unangreifbare Bastion wird brüchig, zerfällt durch das Abtauchen, die Flucht, den Wechsel der Identität oder die Ermordung einzelner Mitglieder. Den Untergang besiegeln die Selbst­tötung Nathans – in bitterer Ironie ausge­rechnet mit jenem beson­deren »ameri­ka­ni­schen Gürtel« – und die Hinrichtung Rywkas am Strand von Stutthof: Nathan hatte zeitlebens versprochen, ihr einmal das Meer zu zeigen …

Mikołaj Łoziński hatte in Tarnów Spuren des eigenen Großvaters entdeckt, der »Stramer« geheißen hatte. Daraus gewann er Impulse zu seinem fiktio­nalen Roman. Er schreibt auf brillante und leichte, mitunter beklemmend heitere Weise eine ergrei­fende Famili­en­ge­schichte gegen das Vergessen – und dass mit ihr dieser Name noch einmal auflebt, könnte auch für seinen Vater eine Genug­tuung sein. Ihm ist dieses Buch gewidmet.

Ursula Enke