Jochen Buchsteiner: Wir Ostpreußen – Eine ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte
München: DVA, 2025
Fluchtgeschichte, Porträt einer vergessenen Provinz, Panorama der Geschichte des deutschen Ostens – mit Wir Ostpreußen legt der Journalist und Historiker Jochen Buchsteiner ein sorgsam recherchiertes Werk vor, das – ergänzt um einen kompakten Überblick der Geschichte Ostpreußens – eine prägnante Zusammenfassung der historischen Ereignisse von 1944/45 bietet, in die die von der Großmutter des Autors aufgezeichnete Fluchtgeschichte eingewoben ist.
Ausgangspunkt des Textes ist eine Kladde mit handschriftlichen Aufzeichnungen der Großmutter, fast fünfzig Jahre nach den Ereignissen vom Winter 1945 angefertigt. Buchsteiner, journalistisch geschult und in dem Bewusstsein, inzwischen selbst zum Zeitzeugen geworden zu sein, überprüft und ergänzt die Angaben, bettet sie ein in den historischen Raum und geht zudem der Frage nach, »was geblieben ist von unserer jahrhundertelangen Verankerung in Ostmitteleuropa, inwieweit sie uns bis heute als Nation prägt«.
35 Jahre alt ist Else Buchsteiner, aufgewachsen auf Gut Götzlack, fünfzig Kilometer südöstlich von Königsberg, für das sie seit dem Tod ihres Mannes Hans-Joachim, der 1942 schwerstverletzt aus Russland zurückgekommen war, allein die Verantwortung trägt, als sie Mitte Januar 1945 ihre beiden Kinder Marianne und Klaus zu Bekannten ins brandenburgische Prenzlau schickt. Die Evakuierung des Gutsdorfes erfolgt Tage später, in letzter Minute, Einheiten der Roten Armee sind nur noch wenige Kilometer entfernt. Wie brisant die Lage tatsächlich ist, erfährt Else erst Monate danach: Ihr Schwiegervater und ihre Schwägerin, die ursprünglich gemeinsam mit den Götzlackern trecken wollten, werden am 27. Januar bei einem Überfall von russischen Soldaten erschossen, das Gutshaus der Buchsteiners brennt nieder, die Arbeiter werden deportiert.
Angesichts der unsicheren Situation macht Else sich, ohne Informationen über den Schwiegervater zu haben, auf den Weg, reiht sich ein in die Menge der Trecks, die bereits unterwegs sind. Eisige Kälte, zermürbende Angst vor russischen Luftangriffen, die nicht selten vergebliche Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten, zunehmende Erschöpfung und die Sorge um das Vorankommen sind ständige Begleiter, auf dem Weg über das Haff erleben die Flüchtlinge apokalyptische Szenen. Nach der Überquerung der Weichsel, als sich der ursprüngliche Plan, auf dem Landweg Richtung Westen zu kommen, zerschlägt, geht es für die Menschen, die zwischen die Fronten des Krieges geraten sind, nur noch über die Ostsee weiter. Alle Nutzgüter und Wertgegenstände, die bislang unter größten Mühen gerettet werden konnten, müssen zurückgelassen werden, nur Handgepäck ist bei der Weiterreise per Schiff erlaubt. Unfassbar für Else und die übrigen Götzlacker, dass sie – nach dem Abschied von der Heimat – nun noch die treuen Pferde verabschieden müssen – und dass die Tiere, weil verhindert werden soll, dass sie der Roten Armee in den Händen fallen, sogar erschossen werden. Buchsteiner erinnert hier daran, dass Pferde in Ostpreußen immer mehr als reine Arbeitstiere oder Fortbewegungsmittel gewesen waren, dass sie zur Familie gehörten, Geschichten verkörperten.
Vor Kopenhagen, zu diesem Zeitpunkt noch unter deutscher Verwaltung, wird der Frachter, auf dem Else untergekommen ist, angewiesen, umzukehren, Richtung Stettiner Haff. So landet sie nicht in einem der völlig überfüllten Lager in Dänemark, sondern in Mecklenburg; sie schlägt sich nach Prenzlau durch, um zu ihren Kindern zu kommen, die sie dort jedoch zu ihrer größten Enttäuschung nicht vorfindet. Schließlich kommt sie Anfang April 1945, nach zehnwöchiger Odyssee, in Halberstadt an, wo sie ihre Kinder, ihre Schwiegermutter und weitere Verwandte dann endlich antrifft. Noch einmal erlebt Else dort eine traumatische Kriegsrealität, als die Stadt bei einem furchtbaren Bombenangriff fast vollständig zerstört wird. Drei Tage später marschieren amerikanische Truppen in Halberstadt ein, für Else Buchsteiner und ihre Kinder ist der Krieg zu Ende. Als sich Wochen später Gerüchte verdichten, die Russen übernähmen die Stadt, macht Else sich erneut auf den Weg. Mehr als tausend Kilometer südwestlich der ostpreußischen Heimat kommt diese letzte Flucht Ende Juni 1945 in einem Bauerndorf im Waldecker Land zum Abschluss. Im benachbarten Arolsen gelingt der Familie der Neuanfang, Else erhält eine Anstellung bei der IRO, der International Refugee Organization. In den 1950er Jahren wird in der neuerbauten Ostlandsiedlung das eigene Haus zur zweiten Heimat für die Familie.
»Ohne Klage, fast buchhalterisch« habe Else Buchsteiner den Weg von Ostpreußen nach Westdeutschland, von einer privilegierten, wohlhabenden Gutsbesitzerfamilie zu einem versprengten Häuflein mittelloser Flüchtlinge festgehalten, konstatiert der Enkel, der ebenso sachlich und unsentimental die individuelle Familiengeschichte mit Überlegungen und Einschätzungen zu sieben Jahrhunderten ostpreußischer Geschichte verschränkt. Auf nur 30 Seiten – mehrdeutig mit »Eine viel zu kurze Geschichte« betitelt – gelingt Buchsteiner eine kompakte Dokumentation zentraler Aspekte der wechselvollen Geschichte Ostpreußens, das er als »mitteleuropäische Einwanderungsgesellschaft mit preußisch-deutscher Leitkultur« interpretiert, als deren typische Elemente er aufklärerische Werte wie innere Unabhängigkeit, Vernunftbetontheit und Verantwortungsbewusstsein, aber auch Bodenständigkeit ausmacht, repräsentiert durch Persönlichkeiten wie Kant, Gottsched und Herder. Ein kritischer Blick auf die nationalsozialistische Infiltration Ostpreußens rundet die Übersicht ab: dabei benennt Buchsteiner beispielhaft die bereits lange vor Hitler etablierte und erfolgreiche Königsberger Dichterin Agnes Miegel, die »das magische Zusammenspiel von Land und Meer, Mensch und Tier«, das die Region prägte, so eindringlich beschrieben habe, sich jedoch vereinnahmen ließ und – wie viele andere – nach 1945 eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle gescheut hätte.
Buchsteiner beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der Historie und dem Mythos Ostpreußen, auch der Diskussion um die Bedeutung des scheinbar abgeschlossenen Kapitels Flucht und Vertreibung stellt er sich mit deutlichen Worten: Die Fokussierung auf den Holocaust und das Wissen um die deutschen Verbrechen habe zur Marginalisierung der Erinnerung an das millionenfache Leid unschuldiger Menschen geführt. Er erinnert an die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum »Tag der Befreiung« (1985), in der dieser darauf hingewiesen hatte, dass »das Schwerste den Heimatvertriebenen abverlangt« worden war, denen »noch lange nach dem 8. Mai bitteres Leid und Unrecht widerfahren« war, weil die erzwungene Aufnahme im Westen als Belastung empfunden und der Neuanfang von Missgunst und Engherzigkeit vieler Mitmenschen begleitet worden war. Die dennoch erfolgreiche Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen beschreibt Jochen Buchsteiner am Beispiel der eigenen Familie, mit einem ostpreußischen Vater und der Mutter aus Breslau, während er die Frage transgenerationaler Traumata nur andeutet. Überlegungen zum Ende der Nachkriegsordnung und dem herausfordernden Beginn einer neuen Epoche, den wir gegenwärtig erleben, runden Buchsteiners Werk ab.
Klug komponierte Wechsel von Schilderungen der schicksalhaften Fluchtgeschichte und grundsätzlichen Passagen, mit denen die persönliche Ebene des Textes nachvollziehbar vermittelt und in den größeren historischen Zusammenhang gestellt wird, überzeugen in Wir Ostpreußen ebenso wie der Spagat des Autors zwischen individueller Betroffenheit und klaren Stellungnahmen. Der Autor knüpft an Karl Schlögel, den in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichneten Historiker, an und stimmt dessen Aussage zu, dass es »eine Geschichte des Deutschen Ostens« gebe, »die mehr und die älter ist als die Nazi-Geschichte«: »beruhend auf der Arbeit von Generationen, verkörpert in einem unerhörten kulturellen Reichtum, Weltoffenheit und Weltläufigkeit, die durch die Katastrophe des 20. Jahrhunderts zugrunde gerichtet worden ist, die aber deswegen nicht ungeschehen gemacht werden kann.« Unter dieser Prämisse porträtiert Jochen Buchsteiner souverän in seinem sehr lesenswerten Kompendium, zugleich Familienchronik, Reportage und Essay, die historische und kulturelle Einzigartigkeit Ostpreußens. Seine Bilanz: »Wir sind anders, auch weil wir Ostpreußen waren«, weist somit weit über eine »ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte«, wie es im Untertitel des Buches heißt, hinaus.
Annegret Schröder