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In den Blick genommen

Agnes Miegel – Abschied von Königsberg. Agnes-Miegel-Gesellschaft, Bad Nenndorf 2018

Die Flucht aus ihrer ost­preu­ßi­schen Hei­mat im Febru­ar 1945 bedeu­te­te für die Dich­te­rin Agnes Mie­gel wie für Mil­lio­nen Deut­sche einen zen­tra­len bio­gra­phi­schen Ein­schnitt. Mit der Mono­gra­phie Abschied von Königs­berg legt die Her­aus­ge­be­rin Mari­an­ne Kopp eine außer­ge­wöhn­li­che Doku­men­ta­ti­on des Lebens­wegs Agnes Mie­gels in den Jah­ren 1944 bis 1953 vor – von der Zer­stö­rung ihrer Hei­mat­stadt Königs­berg im August 1944 bis zum Neu­be­ginn in der Alters­hei­mat Niedersachsen.

Außer­ge­wöhn­lich ist der Band inso­fern, als Kopp per­sön­li­che Brie­fe Mie­gels spre­chen lässt. Dabei han­delt es sich aus­schließ­lich um pri­va­te Kor­re­spon­denz, wel­che nicht für eine Ver­öf­fent­li­chung bestimmt war. So zeich­nen die Brie­fe unmit­tel­ba­res Erle­ben nach und wei­sen als authen­ti­sche Zeit­zeug­nis­se eine hohe Ein­drück­lich­keit auf. Die exem­pla­ri­sche Aus­wahl von Schrift­stü­cken – eine voll­stän­di­ge Doku­men­ta­ti­on wird nicht ange­strebt – beleuch­tet nicht nur Kapi­tel der per­sön­li­chen Lebens­sta­tio­nen Agnes Mie­gels, son­dern zeigt zugleich stell­ver­tre­tend für vie­le ihrer Schick­sals­ge­fähr­ten die trau­ma­ti­schen Erleb­nis­se des letz­ten Kriegs­jahrs und der Nachkriegszeit.

Die per­sön­li­chen Brie­fe wer­den durch die Her­aus­ge­be­rin ergänzt mit ein­lei­ten­den Tex­ten zu den ein­zel­nen Abschnit­ten des Buches und mit einer fas­zi­nie­ren­den Fül­le von Anmer­kun­gen – Hin­wei­se zum bes­se­ren Ver­ständ­nis ein­zel­ner Brie­fe fin­den sich im umfang­rei­chen Anmer­kungs­ap­pa­rat eben­so wie bio­gra­phi­sche Daten der Brief­part­ner Agnes Mie­gels, die Erläu­te­rung mund­art­li­chen Beson­der­hei­ten und eine Ein­ord­nung his­to­ri­scher oder poli­ti­scher Ereig­nis­se. Auch viel­fäl­ti­ge lite­ra­ri­sche Bezü­ge wer­den berück­sich­tigt. Mate­ria­li­en zur Zer­stö­rung Königs­bergs und zum The­men­be­reich deut­sche Flücht­lin­ge in Däne­mark und bie­ten dem Leser im Anhang der Publi­ka­ti­on wei­te­re Infor­ma­tio­nen. Bemer­kens­wert ist auch, dass die Agnes-Miegel-Gesellschaft die umfang­rei­che Doku­men­ta­ti­on, die direkt bei der Gesell­schaft in Bad Nenn­dorf und im Buch­han­del erwor­ben wer­den kann, mit 9,90 Euro zu einem sehr güns­ti­gen Preis anbietet.

Die zuneh­men­de Kriegs­be­dro­hung im Som­mer 1944 auch in Königs­berg erzeug­te Beklem­mun­gen und Ängs­te, von denen Agnes Mie­gel nicht unbe­rührt blieb, doch ist in den Brief­zeug­nis­sen aus die­ser Zeit vor allem die Hoff­nung, ver­schont zu blei­ben, erkenn­bar – und eine auf­fäl­li­ge Pro­pa­gan­da­gläu­big­keit. Die Gefasst­heit, die Agnes Mie­gel mit vie­len ihrer Lands­leu­te teil­te und wel­che aus heu­ti­ger Sicht befrem­det, erklärt sich als authen­ti­sches Zeit­zeug­nis, schließ­lich war die Per­spek­ti­ve der Erkennt­nis und Ein­sich­ten spä­te­rer Jahr­zehn­te den Zeit­zeu­gen, zumal ange­sichts gleich­ge­schal­te­ter Medi­en, nicht verfügbar.

Nach der fast voll­stän­di­gen Zer­stö­rung Königs­bergs durch bri­ti­sche Flä­chen­bom­bar­de­ments Ende August 1944 beginnt für die fünf­und­sech­zig­jäh­ri­ge Agnes Mie­gel ein lang­sa­mes Abschied­neh­men :  »Ob noch ein­mal alles wie sonst wird ?  Ich selbst bin wie ein Baum dem alle Wur­zeln durch­schnit­ten sind, mit mei­ner Vater­stadt sank ja alles dahin was mich an die Mei­nen, an Ahnen, Ver­wand­te und Freund band – und für den alten Men­schen ist dann doch kein Neu­an­fang mehr.« Noch im Infer­no des Unter­gangs fin­det sich in den persönlich-privaten Äuße­run­gen Agnes Mie­gels aber immer wie­der das Bemü­hen um All­tags­nor­ma­li­tät doku­men­tiert. So schreibt sie davon, dass im Luft­schutz­kel­ler »mit Mohn­strit­zel und Wein« Fast­nacht gefei­ert wur­de. Auch die eige­ne lite­ra­ri­sche Arbeit ist unge­ach­tet von äuße­rer Zer­stö­rung und zuneh­men­der Angrif­fe ein wich­ti­ges, zugleich sta­bi­li­sie­ren­des Ele­ment ihres Lebens.

Mit der Eva­ku­ie­rung Königs­bergs Ende Febru­ar 1945 muss sich Agnes Mie­gel dann auf den Weg ins Unge­wis­se machen. Über die minen­ver­seuch­te Ost­see gelingt mit dem völ­lig über­füll­ten Schiff Jupi­ter die dra­ma­ti­sche Flucht nach Däne­mark, wo sie schließ­lich in das Flücht­lings­la­ger Oks­bøl, in dem zeit­wei­se bis zu 35.000 Men­schen leb­ten, kommt. Nach der Kapi­tu­la­ti­on im Mai 1945 wur­den die Flücht­lings­la­ger zu Inter­nie­rungs­la­gern, Post­sper­re und Fra­ter­ni­sie­rungs­ver­bo­te inklu­si­ve. So lie­gen aus der Lager­zeit (zunächst) kei­ne Brief­zeug­nis­se von Agnes Mie­gel vor. Mari­an­ne Kopp bezeich­net die brief­lo­se Zeit als »wei­ßen Fleck« und nach Wie­der­ein­set­zen des Brief­ver­kehrs bestimmt die Post­zen­sur alle Kor­re­spon­denz. Die Trau­ma­ti­sie­rung durch den Ver­lust der Hei­mat und die Zer­stö­rung der ver­trau­ten Welt sowie die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Lager­le­ben ver­ar­bei­tet Agnes Mie­gel in ver­schie­de­nen Gedich­ten – u. a. O Erde Däne­marks – und Mär­chen­tex­ten. In dem ers­ten erhal­te­nen Brief vom Juli 1945 – heim­lich beför­dert von Lager zu Lager – wer­den mit der For­mu­lie­rung »Über unse­re Zukunft weiß kei­ner was, wie es kommt müs­sen wir ja alle unser Schick­sal hin­neh­men« sowohl die Unsi­cher­heit über ihr wei­te­res Schick­sal als auch eine für Agnes Mie­gel typi­sche Gelas­sen­heit und Bereit­schaft, die Din­ge zu akzep­tie­ren, die nicht zu ändern sind, deutlich.

Als ab Dezem­ber 1945 der Post­ver­kehr wie­der ein­setzt, beschreibt Agnes Mie­gel das Gefühl, ohne Kriegs­angst Weih­nach­ten erle­ben zu dür­fen, als »über­wäl­ti­gend«, in spä­te­ren Brie­fen heißt es über das Lager Oks­bøl :  »Ich bin jeden Tag dank­bar für die­se Zuflucht, das letz­te ruhi­ge Asyl, das ich auf die­ser Welt wohl haben wer­de.« Und wei­ter :  »Ich habe kei­ne Sehn­sucht fort­zu­kom­men, auch Deutsch­land ist Frem­de für mich, das heißt kei­ne Hei­mat mehr. […] Mache mir aber weder Gedan­ken noch Sor­gen, über­las­se mich dem Schick­sal – wie es mich führt, ist es recht.« In der rela­ti­ven Gebor­gen­heit des Lagers ver­fasst Agnes Mie­gel mit bemer­kens­wer­ter Schaf­fens­kraft eine Rei­he lite­ra­ri­scher Tex­te, die aller­dings die The­men Ost­preu­ßen und Flucht aussparen.

Es wird ban­ge Mona­te dau­ern, bis nach zahl­rei­chen Fehl­in­for­ma­tio­nen und Über­win­dung büro­kra­ti­scher Hin­der­nis­se klar ist, dass Agnes Mie­gel bei der Fami­lie von Münch­hau­sen im nie­der­säch­si­schen Ape­l­ern unter­kom­men kann. Die ambi­va­len­ten Gefüh­le, die Agnes Mie­gel beglei­ten, benennt sie in einem Brief vom August 1946 :  »Gewiß, ich kom­me nach deut­schem Land – aber nicht mehr in die Hei­mat. Und ich kom­me […] als voll­komm­ner Bett­ler u. ohne Ver­dienst­mög­lich­keit.« Doch nicht nur die Zukunft liegt »recht dun­kel« vor ihr, das Ein­le­ben im ent­beh­rungs­rei­chen Nach­kriegs­deutsch­land wird ihr in vie­ler­lei Hin­sicht schwer. »Unse­re Ent­wur­zelt­heit, unse­re Hei­mat­lo­sig­keit […] kommt uns erst hier […] täg­lich mehr zum Bewusst­sein.«, heißt es im Novem­ber 1946 in einem Brief an ihre Freun­din Ina Sei­del. Halt bie­ten Agnes Mie­gel ihr Gott­ver­trau­en und der »preu­ßi­sche Begriff der Pflicht« – Auf­ge­ben ist kei­ne Option.

Das Zurecht­fin­den in einem neu­en Deutsch­land bedeu­tet auch die Aus­ein­an­der­set­zung mit den Jah­ren des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Da Agnes Mie­gel sich in nur weni­gen Brief­zeug­nis­sen der Nach­kriegs­zeit zu ihrer per­sön­li­chen Hal­tung äußert, wer­den von der Her­aus­ge­be­rin im letz­ten Kapi­tel der Doku­men­ta­ti­on indi­rek­te Zeug­nis­se wie Zei­tungs­in­ter­views und ‑arti­kel ein­be­zo­gen, aus denen deut­lich wird, dass die ost­preu­ßi­sche Dich­te­rin eine »posi­ti­ve Stel­lung zum neu­en Deutsch­land ein­neh­me« und »die Zeit in Däne­mark zu gründ­li­chem Nach­den­ken und zum Umden­ken in man­cher Hin­sicht« nutz­te. Ihr Idea­lis­mus und ihre poli­ti­sche Nai­vi­tät hin­sicht­lich des Natio­nal­so­zia­lis­mus brin­gen Agnes Mie­gel Ableh­nung und hef­ti­ge Kri­tik ein, doch gera­de sie, die das Schick­sal von Hei­mat­ver­lust und schwie­ri­gem Neu­an­fang mit Mil­lio­nen ande­rer Deut­schen teilt, ist in der Lage, die­sen trau­ma­ti­sier­ten und ver­un­si­cher­ten Men­schen in der Dich­tung eine Stim­me zu geben. Auch fin­det Agnes Mie­gel uner­war­te­te Unter­stüt­zung, voll­stän­di­ge Ent­las­tung im Ent­na­zi­fi­zie­rungs­ver­fah­ren und schließ­lich 1953 mit dem Ein­zug in eine klei­ne Neu­bau­woh­nung in Bad Nenn­dorf nicht nur ein neu­es Zuhau­se, das gleich­wohl die alte Hei­mat nicht erset­zen kann, son­dern auch einen Ort, von dem sie spä­ter vol­ler Dank­bar­keit schreibt, sie lie­be ihn.

Mit den Brief­zeug­nis­sen und Doku­men­ten in Abschied aus Königs­berg wird Zeit­ge­schich­te für den Leser »haut­nah« ver­füg­bar. Sowohl Zeit­zeu­gen, die eige­nes Erle­ben in vie­len Aspek­ten wie­der­fin­den wer­den, als auch beson­ders nach­fol­gen­de Gene­ra­tio­nen kön­nen von der Lek­tü­re pro­fi­tie­ren, die geeig­net ist, das Schick­sal von Flücht­lin­gen und Ver­trie­be­nen zu ver­deut­li­chen und einen sach­li­chen Blick auf Fra­gen von Schuld und Ver­ant­wor­tung des Ein­zel­nen gegen­über einem tyran­ni­schen Regime zu entwickeln.

 Anne­gret Schröder