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Restaurant in dem Gebäude am Thorner Altstädtischen Markt, in dem 1875 die polnische »Wissenschaftliche Gesellschaft in Thorn« (Towarzystwo Naukowe w Toruniu) gegründet worden ist. Im Schaufenster spiegeln sich die Hauptpost und der Turm der Universitätskirche wider. Foto: Ursula Enke

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In den Blick genommen

Merethe Lindstrøm: Nord

Berlin: Matthes & Seitz, 2023

Die Rezension einer Publi­kation über Flucht und Vertreibung vermag im Magazin Westpreußen schwerlich zu überra­schen, denn Vorstel­lungen von entspre­chenden Neuerschei­nungen werden dort mit einiger Regel­mä­ßigkeit berück­sichtigt. Das schmale, aus der skandi­na­vi­schen Gegen­warts­li­te­ratur stammende Büchlein, auf das hier die Aufmerk­samkeit gelenkt werden soll, erfasst diese Thematik aber in einer beson­deren Weise, denn jenseits aller indivi­du­ellen Schicksale und konkreten Ortsbe­stim­mungen richtet es einen ungewohnten, eigen­wil­ligen Blick auf das Leben von flüch­tenden Menschen – und verspricht dadurch eine gleicher­maßen heraus­for­dernde wie spannende Lektüre.

Seit über zwanzig Jahren werden in Deutschland gelegentlich Romane der Norwe­gerin Merethe Lindstrøm verlegt, einer in ihrem Heimatland mehrfach ausge­zeich­neten Schrift­stel­lerin, die 1963 geboren wurde und in jüngeren Jahren auch als Rocksän­gerin – nicht zuletzt in Berlin – künst­le­risch erfolg­reich war. Der jetzt vorlie­gende Roman, der mit seinem kargen Titel Nord kaum Spuren legt, wurde in der Origi­nal­sprache bereits 2017 veröf­fent­licht; dass er nun, sechs Jahre später, auch dem deutschen Buchmarkt erschlossen worden ist, könnte dafür sprechen, dass die politi­schen und auch militä­ri­schen Entwick­lungen der jüngsten Zeit inter­na­tional einen größeren Resonanzraum für solch ein ungewöhnlich gestal­tetes, höchst brisantes Werk eröffnet haben.

»Der Junge saß auf einem Baum.« Mit dieser lapidaren Feststellung führt der jugend­liche Ich-Erzähler den Leser unver­mittelt in das Roman­ge­schehen ein. Irgendwann muss der Junge dann herun­ter­ge­klettert sein und trottet hinter dem älteren Begleiter her, räudig wie ein Hund. Von nun an ziehen die beiden, Gespenstern gleich, gemeinsam des Weges, abgema­gerte Gerippe in Kleider­fetzen gehüllt, die »längst Haut geworden, kaum zu entfernen« sind; verzweifelt und hemmungslos suchen sie nach Essbarem, nach etwas zu trinken. Sie irren durch eine unbekannte, vom Krieg verwüstete und verwaiste Landschaft, durch Rauch und Trümmer­la­winen, vorbei an Häuschen, »zusam­men­ge­sackt wie ein Säufer in seinen Lumpen«; sie finden Schutz in den undurch­dringlich dunklen Wäldern, in einer Kirche, in einer verlas­senen Villa oder in Ruinen, »besich­tigen die Kulisse einer vergan­genen Stube«, in der die Tassen auf dem Tisch noch ebenso an die ehema­ligen Bewohner gemahnen wie die Kleider, die an einer Leine flattern, inzwi­schen staubig und von der Sonne ausgeblichen.

Allge­gen­wärtig sind die Zeugnisse von Zerstörung, Verfall und Gewalt, mitunter zu gräss­lichen Bildern erstarrt: Männer, auf Zäunen aufge­spießt, dann die alte Frau, vor der Scheune sitzend und ihre Stickerei friedlich in Händen haltend; der Mund ist aufge­rissen, ein Pfahl hat den Körper von oben durch­bohrt: »Geh einfach, schau nicht hin«, möchte der Erzähler heraus­schreien. Diese Schre­ckens­sze­narien werden untermalt vom furcht­ein­flö­ßenden Dröhnen der immer wieder­keh­renden Kampf­flieger, »diese scharf geschnit­tenen Silhou­etten vorm Himmel, mit dicken Bäuchen und vollen Gedärmen, die sich über den Berghängen entleeren«; die Hände um den Schädel gekrallt, werfen sich die Jungen auf den Boden, verharren zitternd im Matsch, bis der »abscheu­liche Gesang« vorüber ist.

Während die Leser dem Ich-Erzähler über verworrene Wege und durch ein Labyrinth von Gefühlen folgen, erschließt sich ihnen allmählich, wenngleich nur äußerst bruch­stückhaft, aus wenigen schil­lernden Mosaik­steinen ein schemen­haftes Bild des siebzehn­jäh­rigen Jungen: Nachdem man ihn eines Vormittags aus seinem Klassen­zimmer entfernen ließ – wohl aufgrund der auffäl­ligen Defor­mierung seiner Schul­ter­blätter, durch die er als Krüppel diskre­di­tiert wird und die als sein einziges signi­fi­kantes Merkmal ein Leitmotiv des Romans bildet –, wird er in ein Sammel­lager »im Osten« verschleppt. Gebrand­markt durch eine Tätowierung und von der Faust eines Wachmanns halb taub geschlagen, verlässt er zum Kriegsende mit einer Marsch­ko­lonne das Lager. Nach Wochen gelingt es ihm, zu fliehen, und er versucht, sich auf eigene Faust in seine Heimat nach »Nord« durchschlagen.

Jenseits dieser spärlichen Infor­ma­tionen bleibt vieles im Nebulösen verborgen, Zeiten und Orte lassen sich nicht konkre­ti­sieren – ein Dorf, das dem Flüchtling kurzfristig Unter­schlupf gewährt, trägt bezeich­nen­der­weise den Namen »Welcherweg« –, das Kriegs­ge­schehen selbst wird weder thema­ti­siert oder geschichtlich einge­ordnet noch werden seine Akteure benannt – wie auch die Protago­nisten ihrer­seits namenlos, ihrer Identität beraubt bleiben. Eindeu­tigkeit und Sicherheit schenkt ihnen allein ein Kompass, denn nur ihm können die Flüch­tenden trauen, und sein Verlust trifft sie sehr hart. 

Demge­genüber steht als Sinnbild für das Irisie­rende, Ambiva­lente beispielhaft jene zart beleuchtete Szene, während derer sich der »Junge vom Baum« an einem verbor­genen See gleichsam wie in einem Traum vor den Augen des Ich-Erzählers in ein Mädchen verwandelt: Die Eltern hatten ihrem Kind die Haare abgeschoren und es in Männer­kleider gesteckt, um das Mädchen vor gewalt­tä­tigen Soldaten zu behüten; später entzieht sich dieser »Junge« im Schutz eines hohen Baumes der drohenden Rekru­tierung. Der Ich-Erzähler ist irritiert und zärtlich berührt, zugleich aber tief betroffen von der immer wieder­keh­renden Erkenntnis, dass nichts als verlässlich gelten kann, vieles scheinbar in einem Schwe­be­zu­stand verharrt. Dasselbe vermag er auch bei dem Mädchen synäs­the­tisch zu spüren: »Ich höre ihre Gedanken, dass sie nirgends zu Hause ist, nicht im Wald oder am Meer. Nicht in Nord. Dass sie wie Staub ist. Ununter­brochen in Bewegung.«

Eine Folge von Absätzen und gestal­tenden Weißräumen geben dem Roman von Merethe Lindstrøm seine prägende Form und gewähren ihrer Haupt­figur Zeit und Raum, sich gedanklich frei und assoziativ zwischen Vergan­genem, der Gegenwart und dem Sehnsuchtsort »Nord« zu bewegen. Von Respekt und tiefer Empathie erfüllt, verleiht die Autorin dem jungen Mann exempla­risch für alle Getrie­benen, der Heimat Beraubten, von Krieg und einem erbit­terten Überle­bens­kampf Gezeich­neten – wann und wo dieses Unrecht auch immer geschehen sein könnte – ihre Stimme, um nicht zuletzt in feinge­spon­nenen Sprach­bilder auch von einer bewun­derns­werten, die eigene Würde bewah­renden Resilienz zu zeugen: Allen widrigen Umständen zum Trotz vermag der Ich-Erzähler die Einzig­ar­tigkeit und Schönheit eines Augen­blicks wahrzu­nehmen, »sobald das Licht den Himmel flutet, so lautlos wie man Rahm in eine Schüssel gießt«; oder wenn er beobachtet, wie in dem schüt­zenden Gemäuer von einem Sockel »eine Art winziger Klöppel­spitze aus Bläschen von Spinnen­eiern« hängt und in »feuchten Ritzen versunken ein Teppich aus Pilzfäden« sein darf, ebenso wie auch das Efeu, denn »das Außen wächst nach Innen, nichts steht still, das Haus ist ein Wesen, so wie der Weg und der Wald mit seinen unbeirr­baren Bäumen«.

Wenn der Protagonist glaubt, endlich die Grenze hinüber nach »Nord« erreicht zu haben, doch wegen fehlender Papiere zurück­ge­wiesen wird; wenn er mehrmals vergeblich versucht, wie ein Tier durch ein Loch unter dem Zaun in sein Heimwehland zu gelangen, sein Schicksal sich aber wieder ins Ungewissen zu wenden droht, – spätestens dann berührt die Lektüre dieses außer­ge­wöhn­lichen Romans von Merethe Lindstrøm diesseits der angestrebten Allge­mein­gül­tigkeit durch seine beklem­mende Aktualität.

Ursula Enke