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Restaurant in dem Gebäude am Thorner Altstädtischen Markt, in dem 1875 die polnische »Wissenschaftliche Gesellschaft in Thorn« (Towarzystwo Naukowe w Toruniu) gegründet worden ist. Im Schaufenster spiegeln sich die Hauptpost und der Turm der Universitätskirche wider. Foto: Ursula Enke

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In den Blick genommen

Susanne Beyer: Kornblumenblau

München: DVA, 2025

»Kornblu­menblau« – ein Buchtitel, der an Sommer, an Schönheit und Unbeschwertheit denken lässt, auch an die Kornblume als Symbol des Lebens, und wer sich in der populären Musik­ge­schichte auskennt, erinnert sich vielleicht an den Schlager gleichen Titels aus den 1930er Jahren. Für Susanne Beyer bedeutet die Titelwahl ungleich mehr: Ihr Großvater, so hieß es in der Familie, habe als Chemiker in seiner Doktor­arbeit die synthe­tische Herstellung des blauen Farbtons unter­sucht. Ein Natur­wis­sen­schaftler, der sich mit dieser hübschen Farbe beschäftigt, erschien der Enkelin sympa­thisch und poetisch, und erst Jahrzehnte später beginnt die Journa­listin eine intensive Recherche, um dem Famili­en­ge­heimnis um ihren Großvater auf die Spur zu kommen.

Mein Großvater wurde in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs erschossen. Er war kein Soldat, kein Offizier, er hat überhaupt nicht gekämpft in diesem Krieg. Umgekommen ist er trotzdem, und damit fängt das Geheimnis schon an.

Gleich zwei Versionen dieses Todes existieren in der Familie, welche kann stimmen? Und wer war dieser Mann, von dem erzählt wurde, er sei besonders ehrlich und verlässlich gewesen, ein Chemiker, der nicht in der NSDAP war, kein Nazi? Susanne Beyer, recher­che­geübt, tastet sich Schritt für Schritt vor, lässt ihre Leser an ihren Überle­gungen, ihren Fragen und Sorgen teilhaben. Der 1906 in Düsseldorf geborene Wilhelm studierte nach dem Ersten Weltkrieg Natur­wis­sen­schaften, spezia­li­sierte sich auf Chemie – wegen der guten Zukunfts­aus­sichten oder aus echter Neigung? – und promo­vierte 1933 bei Walter Dilthey, einem namhaften Fachmann für Pflan­zen­farben. Erste Irrita­tionen ergeben sich, als die Enkelin in einer Kopie der Disser­tation keinerlei Hinweis auf das Kornblu­menblau findet, von dem doch in der Familie immer erzählt worden war. Sollte das eine Decker­zählung gewesen sein, um zu vertu­schen, woran der Großvater wirklich gearbeitet hatte?

Ab 1937 war er im Amt für deutsche Roh- und Werkstoffe beschäftigt, das 1939 in Reichsamt für Wirtschafts­ausbau umbenannt wurde. Das Amt koordi­nierte sechs Jahre lang die Pläne des größten deutschen Chemie­kon­zerns der Zeit, der I. G. Farben, und sorgte dafür, dass die Rohstoffe, die im Krieg benötigt wurden, herge­stellt bzw. die Entwicklung und Forschung synthe­ti­scher Ersatz­stoffe voran­ge­trieben wurden. In diesem Bereich inves­tierte der NS-Staat, die Bedeutung fossiler Ressourcen für militä­ri­schen Erfolg im Blick, massiv. Der Aufbau staat­licher Stellen korre­spon­dierte mit einer geringer werdenden Zahl nicht-staatlicher Unter­nehmen, so dass praktisch alle Chemiker in irgend­einer Form für den Staat arbeiteten.

Die I. G. Farben, seinerzeit das viert­größte Unter­nehmen der Welt mit vielfäl­tigen Aufgaben und Verflech­tungen, war spätestens ab 1937 mit Kriegs­vor­be­rei­tungen befasst. Für die Reifen der Wehrmachts­fahr­zeuge, aber auch für Dichtungen und für die Umman­telung der Laufrollen von Panzern wurde Gummi benötigt. Natur­kau­tschuk, der erfor­derlich gewesen wäre zur Herstellung, war nicht in belie­biger Menge zu impor­tieren. Die Chemiker setzten auf synthe­ti­schen Kautschuk, der aus dem Gas Butadien und dem Element Natrium herge­stellt wurde, die I. G. Farben hielt das Patent auf diese Formel, der Begriff »Buna« wurde geboren.

Susanne Beyer, die bislang geglaubt hatte, ihr Großvater habe sich beruflich mit Pflan­zen­farben beschäftigt, muss darüber hinaus erkennen, dass es eine Verbindung zwischen dem Chemiker und dem KZ Auschwitz gab: Die I. G. Farben begann 1941 in Auschwitz ein Werk zu bauen, ab 1942 wurde wegen des erhöhten Bedarfs an Arbeits­kräften in der Nähe das firmen­eigene KZ Buna-Monowitz errichtet. Auch wenn der Großvater nicht persönlich dort gewesen sein sollte und 1941 niemand im Reichsamt das verhee­rende Ausmaß der Vernichtung ahnen konnte, das von diesem Ort ausgehen würde, musste jeder gewusst haben, wie es in einem Konzen­tra­ti­ons­lager zuging. »Und wer Zeuge eines Unrechts ist, wird auch Teil dieses Unrechts, selbst wenn er das Unrecht nicht selbst bewirkt hat«, konsta­tiert die Autorin und erinnert mit den Worten des Zeitzeugen – und späteren italie­ni­schen Schrift­stellers und Chemikers – Primo Levi, der elf Monate auf der Buna-Baustelle ausharren musste, daran, dass die Arbeit in Auschwitz III nicht nur grausam, sondern zudem sinnlos war: 

Buna ist hoffnungslos. […] Wie noch zu berichten sein wird, kam niemals auch nur ein einziges Kilogramm synthe­ti­schen Gummis aus der Fabrik von Buna, um die sich die Deutschen vier Jahre lang mühten, und in der wir, unzählbar, litten und starben.

Der Chemiker-Großvater war seinem Arbeit­geber als »unent­behr­licher Spezialist« so wichtig, dass er ihn wiederholt vom Wehrdienst freistellen ließ, und wurde in der Endphase des Krieges, als die Entwick­lungs­ab­teilung des Reichs­amtes im branden­bur­gi­schen Kloster Lehnin ein Ausweich­quartier fand, dorthin beordert. Ende April 1945 bezahlte Wilhelm bei der Ankunft russi­scher Truppen auf dem Kloster­ge­lände für die Tätigkeit im Amt mit seinem Leben.

Im Unter­schied zum vorlie­genden Text erzählt Susanne Beyer nicht entlang der Daten und Fakten der Biografie ihres Großvaters, sondern blättert dem Leser den detail­lierten Verlauf ihrer Spuren­suche auf, stellt sich wieder­keh­renden Fragen und Zweifeln, reflek­tiert die eigenen »blinden Flecken«, zeigt ihre Bereit­schaft, sich emotional nicht verein­nahmen zu lassen, ohne dies jedoch gänzlich verhindern zu können. Das Geheimnis um den Tod des Großvaters aufzu­lösen, ist nicht mehr ihre vorrangige Aufgabe; die Autorin erkennt, dass imagi­native Vergan­genheit wirkmäch­tiger ist als dokumen­ta­rische Fakti­zität – und wie sehr sie selbst mit ihren eigenen Scham- und Schuld­ge­fühlen den Opfern des Natio­nal­so­zia­lismus gegenüber durch Famili­en­ge­schichte und ‑geheim­nisse geprägt worden ist. Der Gedanke, eine Nachfahrin eines »Täters« zu sein, beschäftigt die Journa­listin derart, dass sie ihn mit besonders diffe­ren­zierter Recherche und Rückver­si­che­rungen zu bannen sucht. Und die Einsicht: »Geschichte setzt sich im Kleinen – in den Familien – und im Großen – in der Politik – immer fort, und sowohl die psycho­lo­gische als auch die histo­rische Forschung zeigt, dass es sich bewährt, zu verstehen, was sich da fortsetzt«, bezieht Susanne Beyer nicht nur auf sich, sie bietet in ihrem Buch den Leserinnen und Lesern, die die eigene Famili­en­ge­schichte (besser) verstehen wollen, zahlreiche praktische Hinweise, Quellen und Adressen, damit sie indivi­duelle Recherchen vornehmen können, angefangen vom Erstellen eines Famili­en­stamm­baums bis zu Ratschlägen für Zeitzeugengespräche.

Das Kornblu­menblau, von welchem jahrzehn­telang die Rede war, reprä­sen­tiert das Leben des Großvaters nicht, resümiert Beyer, doch die Kornblu­men­blüte, die sich aus kleinen, einzelnen Blüten und mehreren Farbnu­ancen zusam­men­setzt, kann als Symbol verstanden werden dafür, dass sowohl der Blick aus der Distanz als auch der aus unmit­tel­barer Nähe ihre Berech­tigung haben und das Beharren auf der einen, richtigen Sicht­weise nicht zielführend sein wird. st Annegret Schröderen, indem sie ihn eloquent und kurzschrittig mit einer Fülle von Geschichten, Fakten und Analysen konfron­tiert und dabei auch von der Flut bewegender, oftmals verstö­render Bilder berichtet: beispielhaft von der »totenschwarze[n] Hand mit den rotla­ckierten Finger­nägeln« aus Butscha, von dem »in einen Bomben­krater verwan­delten Theater von Mariupol« oder den 367 im Keller einge­sperrten Menschen, die für ihre Notdurft zwei Eimer und als Toilet­ten­papier Seiten aus Werken namhafter ukrai­ni­scher Intel­lek­tu­eller, etwa denen des verehrten Natio­nal­dichters Taras Schewtschenko aus dem 19. Jahrhundert, benutzen mussten – eine besonders infame Demons­tration fortwäh­render kultu­reller Verachtung. (Wer spricht je von Gogol als ukrai­ni­schem Dichter?) Darüber hinaus verweist sie auf die unüber­schaubar vielen grausamen Moment­auf­nahmen aus dem Internet, deren Unmit­tel­barkeit ihr unbegreiflich sind: Soldaten, die unter widrigsten Bedin­gungen filmen, wie sie sich mit vereisten Bärten, Eisperlen besetzten Wimpern durch das Tosen des Windes und pausen­losen Geschütz­donner kämpfen oder von einer Sekunde auf die andere unter gellenden Schreien zerfetzt werden: 

Mir ist noch nicht klar, was diese mörderisch-lebendige Inten­sität des Krieges mit mir zu tun hat. Ich sitze in meiner Wohnung, im Rücken Bücher­regale und die Fotos meiner Kinder, und konsu­miere auf Instagram, Twitter, Facebook, Threads, Telegram, YouTube, TikTok […] die Bilder und Video­auf­nahmen von Drohnen, GoPros, Dash Cams und Satel­liten, die zum ersten Mal in der Geschichte der Kriege direkt von denen kommen, die den Krieg selbst führen, erleben, erleiden, Reel für Reel, Selfie für Selfie, ohne die Vermittlung der Massenmedien.

Es ist Francesca Melandri vergönnt, dass sie ihren Blick auf das aktuelle Kriegs­ge­schehen in der Ukraine sowie das politische Agieren und Taktieren durch einen Schatz an persön­lichen Einsichten zu schärfen und somit auch die Erfah­rungen, die dieses Buch vermittelt, auf besondere Weise zu vertiefen vermag: Sie lässt den Leser an dem intimen inneren Dialog, den sie mit ihrem verstor­benen Vater führt, teilhaben; er sei, wie sie immer wieder anmerkt, bereits »weiter­ge­gangen« – eine zärtlich poetische Umschreibung nicht zuletzt auch ihres Empfindens, über den Tod hinaus mit diesem geliebten Menschen verbunden, buchstäblich »im Gespräch«, bleiben und Fragen an ihn richten zu können, vor allem jene, die sie nicht gewagt oder vergessen hat zu stellen. So vermag sie sich am Ende dieses Buches mit den Worten »in Liebe, Bestürzung und Hoffnung« von ihm zu verabschieden.

Die Lebens­ge­schichte des Franco Melandri (1919–2012) – eine brüchige Biographie, der sich die Tochter ebenso einfühlsam, schonungslos wie kritisch stellt – erzählt von einem jungen Soldaten, der bereits an die Fronten in Griechenland und Jugoslawien geschickt worden war, bevor Mussolini 1942 den Befehl erließ, die deutsche Wehrmacht im berüch­tigten »Russland­feldzug« zu unter­stützen, der, wie die Autorin mantra­artig betont, »in Wahrheit größten­teils ein Ukrai­ne­feldzug war«. Für die Verdienste, nach dem russi­schen Gegen­an­griff seine Männer aus dem Kessel bei Waluiki gerettet zu haben, durch die eisige Steppe, ohne Essen und Munition, mit eiskalten, wenn nicht gar erfro­renen Füßen – aus diesem trauma­ti­schen Erlebnis resul­tiert der Titel dieses Buches – wurde Melandri mit der »Silber­me­daille für militä­rische Tapferkeit« ausgezeichnet.

Allzu gern und ausmalend wird den drei Töchtern von dieser Heldentat erzählt.

Die in den Famili­en­ge­schichten überlie­ferten Erinne­rungen ragen aus der Vergan­genheit heraus wie schwarze Felszacken aus einer Schnee­land­schaft. Sie erheben sich aus dem gleich­för­migen Weiß des Vergessens und skizzieren die Geografie der Erinnerung.

Verborgen hingegen blieb – und wurde erst später durch die Tochter aufge­deckt –, dass der jugend­liche Heimkehrer noch Ende 1945 geglaubt hat, mit einem bekennend faschis­ti­schen, salba­dernden Pamphlet in der Gazzetta del Popolo (und zudem noch neben einem Artikel von Goebbels) reüssieren zu können – fassungslos fragt die Tochter: »Was hast du dir nur dabei gedacht, Papa?« Einer kuriosen Begeben­heiten allein war es zu verdanken, dass dieses Schrift­stück ohne persön­liche Konse­quenzen blieb und der Vater späterhin unbehelligt unter anderem als Schrift­steller und Journalist in Italien arbeiten konnte.

Drei litera­rische Werke, die Franco Melandri zwischen 1970 und 2000 zur Aufar­beitung seiner Kriegs­er­leb­nisse verfasst hat, werden für die Autorin zu wichtigen Wissens­quellen. Sie wählt daraus für die 32 thema­tisch geord­neten Kapitel ihrer Ausfüh­rungen je ein einlei­tendes Zitat und weiß darüber hinaus die gewon­nenen Erkennt­nisse aufs Engste mit ihren Betrach­tungen über das aktuelle Kriegs­ge­schehen zu verknüpfen und zuein­ander in Beziehung zu setzen. Ihr Fazit lautet: »Ja, es gibt Tausende beängs­ti­gende Ähnlich­keiten zwischen Deinem Krieg und dem Krieg in der Ukraine […] Die Geschichte scheint sich in ein ominöses Spiegel­ka­binett verwandelt zu haben.« In diesem Zusam­menhang ist es für sie schockierend, in einem im Netz kursie­renden Video beobachten zu müssen, wie heutzutage – in beklemmend symbol­hafter Verdichtung – zwei ukrai­nische Soldaten beim Ausheben eines Schüt­zen­grabens auf mensch­liche Knochen eines im Zweiten Weltkrieg verschol­lenen Soldaten stoßen – »Es hätte Dein Skelett sein können.«

Die Schluss­fol­ge­rungen, die Francesca Melandri aus ihren inten­siven Recherchen und kriti­schen Beobach­tungen zieht, erscheinen glasklar. Sie betreffen den privaten Bereich, indem die Autorin Famili­en­ge­schichten der Legen­den­bildung überführt und das Bild des Vaters korri­gieren muss: Ohne sich für den Faschismus von gestern schuldig zu fühlen, will sie durch Aufklärung und Erinne­rungs­arbeit Verant­wortung für die Demokratie von morgen tragen. Persönlich galt es – für eine linke Intel­lek­tuelle ein schmerz­licher Prozess – die vermeintlich unanfechtbare Haltung zum Pazifismus, zu dieser »glück­lichen Ignoranz«, angesichts eines aggres­siven Angriffs­krieges gewis­senhaft zu überprüfen, an die (wie es im Artikel 11 der italie­ni­schen Verfassung heißt) »Vertei­digung des Vater­landes als heilige Pflicht des Staats­bürgers« zu erinnern und mit Blick auf das kämpfende ukrai­nische Volk, insbe­sondere ihres Präsi­denten, den Begriff des Heldentums neu zu bedenken. 

Sie selbst wirft sich ihre eigene Unwis­senheit bezüglich der Ukraine vor; jetzt disku­tiert sie leiden­schaftlich, inwieweit dieses Land nicht längst und immer wieder Opfer von Koloni­al­kriegen war – wie etwa dem »Brotkrieg« zur Versorgung der italie­ni­schen Bevöl­kerung während des Zweiten Weltkrieges. Ausdrücklich prangert Francesca Melandri die Ignoranz und Herzlo­sigkeit vieler (italie­ni­scher) Intel­lek­tu­eller und Journa­listen in der Bericht­erstattung über die Ukraine an und kriti­siert darüber hinaus, dass die Westeu­ropäer im Allge­meinen auf ihrer »goldenen Insel des Wohlstands und Friedens« niemals »Kriegs­zeugen«, sondern allein »Zuschauer« seien, die sich auf den Ruf nach Frieden beschränken, also bezüglich der Solida­rität metapho­risch ebenfalls »kalte Füße« bekommen – im Gegensatz dazu seien die »Irynas« zu rühmen, die vor Ort für Freiheit und Gerech­tigkeit kämpfen und denen dieses Buch gewidmet ist.

»Mir wird ganz schwin­delig, Papa, angesichts dieses verwor­renen Gebildes aus Geschichte und Gegenwart«, bekundet Francesca Melandri, und auch der Leser wird sich eines solchen Gefühls mitunter kaum entziehen können – und zugleich erkennen müssen, dass sich die Brisanz dieses Buches aktuell von Tag zu Tag zuschärft.

Ursula Enke