Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt. Stuttgart: Klett-Cotta, 2020
„Samuel ging mit Worten um, als würden sie sich durch übermäßiges Aussprechen abnützen.“ Solch sorgsamen Umgang, wie die Autorin Iris Wolff einem der Protagonisten ihres Romans Die Unschärfe der Welt zuschreibt, pflegt auch sie selber – sensibel, federleicht, zugleich anschaulich und präzise zeichnet sie mit wenigen Strichen die Lebenswege von vier Generationen Banater Schwaben in Siebenbürgen. Dabei verschränken sich Zeitgeschichte, Liebesgeschichte und Familienerzählung zu einer Liebeserklärung an das Leben mit allen seinen Facetten. Als sorgfältige Beobachterin und Geschichtensammlerin komponiert Iris Wolff eine Mischung aus Alltäglichem und Außergewöhnlichem, Banales steht neben Skurrilem oder Geheimnisvollem. Philosophische Weisheiten und Nischen individuellen Glücks finden sich eingestreut, während die harte, zuweilen brutale Realität sozialistischer Herrschaft alle Bereiche des Lebens bestimmt. Dem Leser erschließen sich erst nach und nach die vielschichtigen Verbindungen und Verknüpfungen.
Den Ausgangspunkt des Geschehens markiert eine in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Erfindungsgeist zu Wohlstand gekommene Unternehmerfamilie, welche seinerzeit die erfolgreichste Wollwäscherei Siebenbürgens betrieb. Urgroßmutter Karline (eine Tochter des Firmengründers, sie hätte ein Junge namens Karl werden sollen) war noch überzeugte Monarchistin, der ebenso eigenwillige wie argwöhnische Urgroßvater Johann verlangte unbedingten Gehorsam, duldete keine Widerworte und scheute sich nicht, Gewalt einzusetzen. In einer Gesellschaft patriarchalisch geprägter Strukturen hatten Frauen und Töchter zu gehorchen und still zu sein – eine „Tradition“, die sich über Generationen erhielt. Das schwierige Verhältnis der Geschlechter zueinander, Glaube und Aberglaube, die Liebe zur Heimat, aber auch Verlust und Abschied und nicht zuletzt der Einfluss des Staates prägen die Lebensrealität der weiteren Familienmitglieder, ihrer Freunde und Nachbarn.
Die Erwartungen, die Karline in ihre Kinder setzt, erfüllen sich nicht, Sohn Hannes geht als Pfarrer in ein abgelegenes Dorf und heiratet eine Frau, zu der Karline keinen Zugang findet. Diese Florentine scheint sich für etwas Besseres zu halten, so wie sie mit routinierter Selbstverständlichkeit auftritt und den Anschein erweckt, als sei sie sich auf unbeirrbare Weise selbst genug, und bestimmt ist es – nach Karlines Überzeugung – Schuld der Schwiegertochter, dass das Enkelkind Samuel nicht spricht, schließlich ist die Mutter eine Träumerin, die Wörtern gegenüber „ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen“ empfindet. Das Kind fühlt sich am wohlsten in der Natur, besonders Schafe faszinieren es (eine subtile Assoziation zu den Altvorderen, denen moderne Verfahren zum Reinigen der Wolle dieser Tiere ein komfortables Leben ermöglichten), und über Jahre kommuniziert der Kleine mit seinem Lachen und mit seinen Augen, mit seinem Körper. Auch als Erwachsener bleibt Samuel ein Außenseiter, der sich nur schwer in übliche Verhaltensmuster einfügen kann. Aber er findet einen Freund für’s Leben – Oswald, den Samuel „Oz“ nennt, nach dem Zauberer, der die Fähigkeit besitzt, immer in einer anderen Gestalt zu erscheinen, und zu der Nachbarstochter Stana entwickelt sich eine zarte, zugleich belastbare Beziehung.
Im Rumänien Ceauşescus steht der Kirchenmann Hannes unter besonderer Beobachtung der Securitate mit ihrem System aus Bespitzelung, Verunsicherung und Kontrolle: „Dieses System lebte davon, dass jeder schuldig war.“ So lernen bereits die Kinder, vorsichtig zu sein mit ihren Äußerungen, und die Erwachsenen entwickeln Gedanken an das Verlassen des Landes. Doch Vorbereitungen werden beobachtet, vermeintliche Verräter überwacht, vorgeladen und bedroht. Dabei nutzt der Staat das finanzielle Potenzial derjenigen, die ihn verlassen wollen, gern, denn die Abwanderung der Deutschen bedeutet nicht nur sichere Einnahmen aus der Bundesrepublik, sondern liefert zudem seinen Angestellten Gelegenheiten, nebenbei die Hand aufzuhalten.
Mit glänzend formulierter Ironie schildert Iris Wolff die gesellschaftlichen Verhältnisse der Ceauşescu-Jahre und charakterisiert den verhassten Diktator:
Der Auserwählte lebte bescheiden. Zeigte sich seine Genügsamkeit nicht allein dadurch, dass er sein Leben lang, schon als Schusterlehrling, darauf verzichtet hatte, Geld zu verdienen? Immer jammerten die Leute, es gebe nichts zu kaufen. Er selbst hatte nie in seinem Leben in einem Laden gekauft. Die Partei sorgte schließlich für ihn. Ein wenig dazuverdienen konnten er und seine Parteigenossen wunderbar mit dem Ausverkauf der Deutschen. […] Dabei widersprach dies seiner Überzeugung: Rumänien war kein Auswanderungsland, wer hier geboren war, hatte hierzubleiben. Gegen das Fernweh ließ er im Bukarester Nationalmuseum eine Weltkarte aufhängen, wo bunte Markierungen seine Reisen zeigten.
Erst mit dem Zerbrechen des Eisernen Vorhangs können langsam Veränderungen wachsen. Nicht alle wollen gehen, doch Karline und Johann gehören zu denen, die nach Deutschland gehen, nachdem sie Enteignung, den erzwungenen Auszug aus der Fabrikantenvilla und Jahrzehnte demütigender Arbeit in einer Knopffabrik hinter sich gebracht haben. Fremd sind sie zunächst, fallen auf nicht nur wegen ihrer „Steifheit“ und ihrer eigenwilligen Sprache mit den altmodischen Vokabeln. „Sie sagten Banat. Und sie hätten Atlantis sagen können, Wunderland, Mittelerde. Sie sagten Rumänien. Und wurden für Rumänen gehalten, als gäbe es eine Übereinstimmung zwischen einem Land und den Nationalitäten, die darin lebten.“ Während der schon hochbetagte Johann sich der schillernden Konsumwelt des Westens verweigert und in Gedanken noch immer über den Korso in Hermannstadt zu spazieren scheint, versucht Karline mit ihrem ausgeprägten Sinn für Stil und angeborener Gelassenheit Familientraditionen wie das sonntägliche Mittagessen weiterzuführen. Später im Altenheim ist es ihr nicht möglich, im Speisesaal darauf zu warten, ein Plastiktablett vorgesetzt zu bekommen und in Gegenwart von Fremden zu essen, und bis zu ihrem Tod ist sie überzeugt, den Charakter eines Menschen an seinen Tischmanieren erkennen zu können. Für die Enkelin Liv kommt dies einem vernichtenden Urteil gleich, doch ist es gerade dieses Mädchen, welches ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass mit der alten Dame wertvolle Erinnerungen sterben, und das sich vornimmt, das fortgesetzte Verschwinden all dessen, was die Vergangenheit mit ihren Besonderheiten und Widersprüchlichkeiten ausmacht, nicht zuzulassen. Auch wenn tradierte Rituale nicht mehr lange Bestand haben und neue Maßstäbe ihren Platz einnehmen werden, – bei aller „Unschärfe der Welt“ gibt es doch Dinge zwischen Himmel und Erde, die nicht vergehen, ist Livs Überzeugung. Und es sind die Wörter, die sicherstellen, dass Verbindungen über die Generationen hinweg erhalten bleiben, Sehnsüchte formuliert und Enttäuschungen überwunden werden können.
Iris Wolff ist mit Die Unschärfe der Welt ein feines Werk gelungen, das die großen Fragen des Lebens mit individuellem Erfahren verbindet, eingebettet in zeitgeschichtliche Entwicklungen, akzentuiert durch sensible, aussagekräftige Sprache. Der mit dem Evangelischen Buchpreis prämierte Roman verdient es, dass man sich Zeit für ihn nimmt, um die gesamte erzählerische Fülle und Vielfalt zu genießen.
Annegret Schröder
Andreas Izquierdo: Schatten der Welt. Köln: DuMont, 2020
Es ist das Jahr 1910. Die Bewohner der Stadt Thorn im tiefsten Osten des Deutschen Reichs sind ergriffen von der Faszination und den Schrecken, die durch die Ankündigung des Halleyschen Kometen global geschürt werden; und wie mancherorts eskaliert auch hier die Panik vor vermeintlich drohenden Gasvergiftungen, gar dem verheißenen Weltuntergang am 19. Mai. Von diesem Szenario aus spannt der Roman einen zeitlichen Bogen über den ersten Weltkrieg bis zu jenem „kalten, aber sehr schönen Dezembermorgen“ des Jahres 1918, an dem der Ich-Erzähler Carl, ein junger Kriegsreporter, heimkehrt in sein „fast menschenleeres Thorn. Die Festung war unversehrt, doch ohne Menschen, ohne Soldaten wirkte sie wie verflucht“.
Als versierter Verfasser historischer Romane entwirft Andreas Izquierdo ein Personentableau kontrastierender – bisweilen klischeebehafteter – Charaktere, dominiert von seinen drei jugendlichen Helden. Fest an der Seite des feinsinnigen und zurückhaltenden 13-jährigen Juden Carl, der in inniger Verbindung mit seinem früh verwitweten Vater eine winzige Schneiderwerkstatt in einem Hinterhof nahe dem Viktoriapark bewohnt, agiert sein Schulfreund Artur, ein hemdsärmelig vorlauter Bursche, Schrecken der Lehrer und Liebling aller Mädchen. Auf seinen dreisten Plan hin bestreiten die beiden Jungen den spektakulären Einstieg in das Romangeschehen. Während der traditionellen Feierlichkeiten zum Geburtstag des Kaisers am 29. Januar gelingt es ihnen, im dichten Schneegestöber drei Haubitzen so zu verstellen, dass die Kanonen nicht zu Ehren des Monarchen donnern, sondern stattdessen eine heftige Explosion – und späterhin größere politische Verwicklungen – auslösen: „Wochenlang beherrschte ein einziges Thema die Debatten und Artikel unserer Stadt: der Thorner Baracken-Bumms. Eine Wortschöpfung der Gazeta Toruńska, der Zeitung der polnischen Einwohner Thorns.“
Seiner Lust am Fabulieren folgend, führt der Autor nach kuriosen Begebenheiten und auf verschlungenen Pfaden – die immer wieder in breiten Passagen dieses Romans entfaltet werden – alsbald die gleichaltrige Isi, eine ebenso selbstbewusste wie furchtlose und blitzgescheite Tochter aus sittenstrengem Elternhause, mit Carl und Artur zusammen. Damit beginnt eine unverbrüchliche vertrauensvolle Freundschaft, die sich, wenngleich sie den bedächtigen Ich-Erzähler mächtig herausfordert, bei verwegenen Aktionen und mancherlei Possenspielen stets bewährt. Zum Meisterstück gereicht dem Trio in Zeiten der Halley-Hysterie der lukrative Verkauf von „Kometenpillen“ zum Schutz vor dem Erstickungstod; ebenso unverhohlen preisen sie auf „Empfehlung der berühmten Charité“ die von Isi mit verzauberndem Augenaufschlag den Militärs abgeluchsten Gasmasken an und machen damit ein großes Geschäft. Beflügelt von diesen Erfolgen suchen sie nach weiteren Geschäftsmodellen, und letztlich erschleicht sich Artur gemeinsam mit seinen jugendlichen Partnern das Recht, als erster LKW-Fahrunternehmer in die Geschichte der Stadt einzugehen:
Das Haus in der Hohen Straße 6, oberhalb des Neustädtischen Markts und in unmittelbarer Nähe zu den großen Kasernen und Proviantämtern der Thorner Innenstadt, war jetzt der Stammsitz einer neuen Firma: ARCASI Transporte.
Unangreifbar scheinen die drei Freunde in ihrem Übermut. Respektlos treiben sie ihren Schabernack mit den Honoratioren der Stadt und scheuen nicht einmal davor zurück, sich den verhassten Gendarmerie-Kommandanten, nachdem sie ihn in flagranti mit der Bürgermeistersgattin erwischt haben, gefügig zu machen. Zu scheitern jedoch drohen sie allein an der Allmacht und Arroganz der Familie des wohlhabenden, über allen Gesetzen stehenden Gutsherrn Wilhelm Boysen, mit dessen Sohn Falk sich die Wege bis weit in die Kriegsjahre hinein überraschend oft und auf verhängnisvolle Weise kreuzen werden. An seiner Person das Thema „Homosexualität“ zu bedienen, mag auf den Leser ebenso aufgesetzt wirken wie andere, heute zeitgemäße Topoi – „Demenz“ bei Carls Vater oder „Krebs“ bei Isis Mutter.
Mit Ausbruch des Krieges enden nicht nur abrupt die gemeinsamen Geschäfte der Freunde; auch eine sich zart anbahnende Liebesbeziehung zwischen Isi und Artur scheint zu erlöschen. Die jungen Männer werden eingezogen. Auf dem Militärgelände in der Bromberger Vorstadt werden sie gedrillt. Der allwissende Ich-Erzähler resümiert nicht ohne Pathos: „Befehl war der Hammer und Gehorsam der Meißel, mit denen Menschen behauen wurden, um aus ihnen das Produkt eines übergeordneten Willens zu formen.“
Dank seiner Ausbildung zum Fotografen gelangt Carl zunächst in das österreichische Schloss Radaun, in dem das K.-u.-k.-Kriegspressequartier stationiert ist. Er begreift, von nun an seine Kunst einer indoktrinierenden Bildersprache unterwerfen zu müssen. Als er zu Dreharbeiten für einen Propaganda-Film nach Brest-Litowsk reist, gerät er durch eine leidenschaftliche Liebesaffäre zwischen die Fronten von Deutschen und Partisanen und wird nur durch glückliche Umstände vor dem Tode bewahrt.
Artur hingegen hat mit seinen Kameraden bei Alexandrow die Grenze nach Russland überquert und muss dramatisch geschilderte Kämpfe auf dem Schlachtfeld bestehen, bis er nach verwegenen Abenteuern als Deserteur nach Riga gelangt. Dorthin, an den Sehnsuchtsort seines Vaters, wo dieser gearbeitet und sein großes Glück gefunden hatte, führt das Kriegsgeschehen nun auch Carl, und er gewahrt in den heiß umkämpften Straßen der Stadt nicht nur wehmütig das Panoramaschaufenster der ehemaligen Schneiderei, sondern entdeckt darüber hinaus beim anschließenden Pressetermin im Lazarett den schwerstverletzten Freund Artur: Er hatte versucht, sich brutal an seinem verhassten Peiniger, dem zwielichtigen Mayor Boysen, zu rächen, der auch seinerseits als Befehlshaber nach Riga versetzt worden war. Nach diesem wundersamen finalen Coup bleibt das Schicksal der beiden Widersacher im Ungewissen, ebenso wie jenes der Freundin Isi in Thorn. Deren Wut und Verzweiflung über die demütigende Arbeit als Erntehelferin auf dem Gut Boysen in Kriegszeiten, über Ausbeutung und politische Intrigen sowie das unermessliche Leid während des qualvollen „Steckrübenwinters“ 1916/17 hatte sich Bahn gebrochen in bitterbösen Satiren, die sie wirkungsvoll vermittels eines selbstentworfenen Puppentheaters vortrug – vielleicht eine Anspielung des Autors auf Thorn als Stadt des Puppenspiels. Dass sie jedoch mit ihren Enthüllungen wohl letztlich den eigenen, aus tiefstem Herzen verachteten Vater in den Selbstmord getrieben hat, konnte man ihr nicht verzeihen. Isi verlässt Thorn fluchtartig. Ein geheimes Zeichen von ihr lässt Carl erahnen, dass sie nun in Berlin ist.
Jeder Kenner Westpreußens, der auch die Lektüre umfangreicher Unterhaltungsromane nicht scheut, mag sich selber einen Eindruck davon verschaffen, inwieweit die geschichtsbeflissenen Einschübe stimmig und die Stadtbeschreibungen etwa von dem „barockroten Backsteinbau des Rathauses mit den vier spitzen, zierlichen Ecktürmchen“, dem „schneeweißen Jugendstilbau“ des Theaters oder von der Reichsbank von Thorn mehr sind als eine eingelesene Staffage. Dies gilt auch für die wiederholten Hinweise auf die konfliktgeladenen Debatten von Deutschen und Polen, welcher der beiden Nationen der berühmte Astronom Kopernikus „gehört“, oder für vordergründige, plakativ hervorgehobene Beteuerungen des Ich-Erzählers wie:
Denn das war unsere Welt.
Das war Preußen.
Das war Thorn.
Dieser Roman, der ausdrücklich in einer Stadt „in Westpreußen“ angesiedelt ist – und so auch vom Verlag beworben wurde –, hat anscheinend eine begeisterte Leserschaft ansprechen können. Sie vermag das Schicksal der Figuren nun auch gleich in dem soeben erschienenen Fortsetzungsband der mehrteiligen Roman-Reihe Wege der Zeit weiterzuverfolgen – der jetzt aber in einem erst recht erfolgversprechenden Ambiente, im Berlin der Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, spielt.
Ursula Enke