Der »Kulturparagraph« zwischen Tradition und Zukunft
Das Jahr 2000 wird noch heute als Zäsur in der Geschichte der Kulturförderung nach § 96 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (BVFG) erinnert. Aus dem Abstand von 25 Jahren erscheint es lohnend, den damaligen Paradigmenwechsel zu rekapitulieren und zugleich nach seinen Implikationen für Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenkulturarbeit zu fragen.
Die Umbrüche des Jahres 2000 waren dabei Teil einer größeren Entwicklung. Diese hatte mit dem Amtsantritt des rot-grünen Kabinetts Schröder im Jahre 1998 eingesetzt und war geprägt durch einen in dieser Form neuen Gestaltungsanspruch der Bundesregierung auf dem Feld der Kulturpolitik, der sich insbesondere durch die Schaffung des Amtes eines »Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien« (BKM) Ausdruck verlieh. Es ging unter dem Vorzeichen einer »neuen Kulturpolitik« seinerzeit darum – so der erste Amtsinhaber, Michael Naumann, rückblickend – »Signale zu geben, dass der Bund auch eine kulturpolitische Verantwortung hat, die ihm ja nie abgestritten worden war, obwohl es die Kulturhoheit der Länder gab«.
§96 BVFG vor der »neuen Kulturpolitik«
Eines dieser »Signale« war sodann eben spürbar in der Umsetzung des sogenannten »Kulturparagraphen« – § 96 BVFG. Dieser besagt:
Bund und Länder haben entsprechend ihrer durch das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeit das Kulturgut der Vertreibungsgebiete in dem Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten, Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten sowie Einrichtungen des Kunstschaffens und der Ausbildung sicherzustellen und zu fördern. Sie haben Wissenschaft und Forschung bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus der Vertreibung und der Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge ergeben, sowie die Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge zu fördern. Die Bundesregierung berichtet jährlich dem Bundestag über das von ihr Veranlasste.
Der Kulturparagraph und die auf ihm beruhende Wissenschafts- und Kulturförderung waren seit der Verabschiedung des BVFG im Jahre 1953 immer wieder an aktuelle Herausforderungen angepasst worden. So war die ursprüngliche Fassung bereits vier Jahre später, 1957, deutlich erweitert worden: Damals trat z. B. das Ausland als Adressat hinzu – aber ebenso wurde das Aufgabengebiet um die »Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge« ergänzt. Letzteres kann als Ausdruck der sich über zehn Jahre nach Kriegsende verfestigenden Einsicht verstanden werden, dass die Bundesrepublik der nicht nur kurzfristige Lebensraum der Deutschen aus dem Osten sein würde. Ausdruck fanden die sich wandelnden Schwerpunkte seither auch in Konzeptionen, in welchen die Verantwortlichen in Bonn – und später in Berlin – die Grundlinien der Kulturförderung nach § 96 bestimmten. Das jüngste dieser Dokumente stammt aus dem Jahr 2016 und steht unter dem Motto: »Erinnerung bewahren – Brücken bauen – Zukunft gestalten«.
Mit den sich wandelnden Rahmenbedingungen wechselte auch die politische Zuständigkeit für die Kulturförderung. Lag diese ursprünglich beim Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, ging sie mit dessen Auflösung und Überführung 1969 auf das Bundesministerium des Innern (BMI) über. Dreißig Jahre später fiel die Zuständigkeit an den neu geschaffenen BKM – im BMI verblieb die Förderung der verständigungspolitischen Maßnahmen der Vertriebenenverbände.
Umbrüche
Der mit dem Zuständigkeitswechsel einhergehende Paradigmenwechsel fand seinen Niederschlag in der 2000 verabschiedeten »Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa«, die die künftigen Leitlinien der Kulturförderung nach § 96 BVFG nüchtern auf den Punkt brachte:
Neuorientierung der bestehenden Einrichtungen nach dem Regionalprinzip; Koordination und Stärkung der Museen unter Ausbau der kulturellen Kontakte zu ihren Bezugsregionen; An- oder Einbindung der wissenschaftlichen Arbeit in die Universitäten; engere Kooperation mit Trägern der allgemeinen Kulturarbeit in Deutschland und den Nachbarstaaten; Verzahnung der kulturellen Breitenarbeit mit musealen Aufgaben.
Diesen Zielen verdankte sich dann etwa die Gründung des Kulturforums östliches Europa in Potsdam, dem die Aufgabe eines zentralen und die einzelnen Regionen übergreifenden Akteurs der kulturellen Breitenarbeit zukommen sollte.
»Regionalprinzip« bedeutete, die »Vielfalt und Vielzahl vom Bund geförderter Einrichtungen […] in Regionen« zusammenzufassen: »Pommern, Nordosteuropa, Schlesien, Böhmen/Mähren, Südosteuropa«. Dass in diesem Zusammenhang etwa die Eingliederung des damals in Münster und heute in Warendorf ansässigen Westpreußischen Landesmuseums in das Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg vorgesehen war, macht deutlich: Es ging nicht nur um eine »stärkere Professionalisierung der Museums- und Forschungsarbeit« – wie die Konzeption verlautbarte; es ging auch um finanzielle Einsparungen in nicht geringem Umfang. Unter diesem Vorzeichen stand dann auch die zunehmende Verlagerung der überkommenen langfristigen institutionellen Förderung hin zu kurz- und mittelfristiger Projektförderung. Laut Manfred Weber, dem Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, »brachte die ›Konzeption 2000‹ schmerzliche Einschnitte für die Landsmannschaften mit sich und wurde deshalb vor allem vonseiten der Vertriebenenorganisationen kritisiert – auch weil unter dem Strich ein insgesamt deutlich reduziertes Finanzvolumen stand«. 2018 konnte Weber noch konstatieren, dass dieses »in den vergangenen Jahren […] wieder auf das frühere Niveau angehoben« wurde; die vergangenen Jahre bedeuteten hier freilich wieder einen Rückschritt.
Kontinuitäten
Freilich sollte die Wahrnehmung der Umbrüche des Jahres 2000 in der Kulturförderung nicht den Blick auf dennoch bestehende Kontinuitäten verstellen.
Deren eine liegt in der grenzüberschreitenden Funktion der Kulturarbeit. War diese bereits in der Erweiterung des Adressatenkreises um das Ausland im Jahr 1957 angeklungen, gewann sie in den Jahren der sogenannten neuen Ostpolitik an Bedeutung und konnte sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs Bahn brechen. Dies schlug sich dann auch in einem – in den Jahren 1994 bis 1999 realisierten – »Aktionsprogramm« des damals federführenden BMI nieder, das darauf abzielte, die nun eröffneten Kooperationsmöglichkeiten mit den ost(mittel)europäischen Nachbarländern auszuschöpfen. Eine völlig neue Qualität erreichte die grenzüberschreitende Vernetzung von Akteuren des Kultur- und Wissenschaftsbetriebs dann letztlich durch die EU-Osterweiterung – insbesondere in den Jahren 2004 und 2007.
Dabei sollten die auf Grundlage von § 96 BVFG geförderten Institutionen und Projekte freilich nicht nur als Nutznießer dieser Entwicklung verstanden werden, sondern sie sollten sie auch intensiv durch eigenständige Beiträge fördern. So konstatierte Ministerpräsident a. D. Dr. Christoph Bergner, von 2006 bis 2013 Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, 2015 in einer Bundestagsdebatte:
Die Kenntnis der in Jahrhunderten historisch gewachsenen kulturellen Verflechtungen in Europa, gerade in den deutschen Siedlungsgebieten im Osten, und die daraus resultierenden Gemeinsamkeiten sind ein kaum zu überschätzender Faktor der europäischen Integration.
In den nachfolgenden Jahren zeigte sich dies in doppelter Weise: Führte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nicht zuletzt auch zu einer verstärkten gesamtgesellschaftlichen Besinnung auf die gemeinsame ostmitteleuropäische Geschichte, hatten während der schon zuvor einsetzenden Corona-Pandemie innereuropäische Grenzschließungen ex negativo den hohen Wert der als selbstverständlich empfundenen »Grenzenlosigkeit« Europas deutlich werden lassen.
Eine zweite Kontinuitätslinie mag darin gesehen werden, dass § 96 immer auch ein Kristallisationspunkt der geschichtspolitischen Verständigung über deutsche Identität war und ist. Ab den 1950er Jahren stand die Beheimatung des kulturhistorischen Erbes der Vertreibungsgebiete in der westdeutschen Aufnahmegesellschaft im Zentrum. Spätestens ab den 1990er Jahren trat – wie eben gesehen – die Erschließung der europäischen Verflechtung ebendieses Kulturerbes als eigenständiges Anliegen hinzu. Spätestens seit 2015 wiederum werden – namentlich mit Blick auf die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung – Stimmen lauter, die die Geschichte der Deutschen aus dem Osten in eine allgemeine Migrationsgeschichte einlesen wollen.
Zukunftsaussichten
Zwar hat die gegenwärtige Kulturstaatsministerin Claudia Roth keine eigenständige neue Konzeption für die Kulturförderung nach § 96 BVFG veröffentlicht. Für Diskussionen sorgte jedoch – neben finanziellen Kürzungen im Bereich der Projektförderung nach § 96 BVFG, die insbesondere eine Belastung für die Arbeit der Kulturreferate darstellen – der Entwurf für ein allgemeines »Rahmenkonzept Erinnerungskultur«. Diese ordnet den Zusammenhang von Flucht und Vertreibung – und damit des spezifischen Kriegsfolgenschicksals der Heimatvertriebenen – dem Themenfeld »Erinnerungskultur und Einwanderungsgesellschaft« zu, ohne dass die Grenzen zwischen Zwangsmigration und anderen Formen der Einwanderung trennscharf geklärt oder gar der Tatsache Rechnung getragen würde, dass ein großer Teil der Deutschen innerhalb des eigenen Staates vertrieben wurde.
Liegt in einem solchen Narrativ die Zukunft des Kulturparagraphen? Angesichts der Tatsache, dass § 96 BVFG immer auch Gegenstand von Koalitionsverhandlungen war, dürfte in dieser Hinsicht mit Interesse abzuwarten sein, wie sich die entsprechenden Aushandlungen nach der zurückliegenden Bundestagswahl gestalten werden.
Tilman Asmus Fischer