Eine Gegenprobe zur Vierteilung ? — Die Volksabstimmung vom 11. Juli 1920
Von Frank Golczewski
Die Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg ermöglichte den Siegermächten der Entente den Oktroy territorialer Veränderungen. Zwei der verbündeten Imperien (Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich) wurden von der Landkarte gestrichen, aus den abgetrennten Gebieten kreierte man neue Nationalstaaten oder schloss Teile an bestehende an. Deutschland kam dabei noch vergleichsweise glimpflich weg – es verlor etwa 13 % seines Territoriums. Zum Vergleich : Ungarn verlor ca. 72 %, Österreich ca. 60 % seines Gebiets. Nach dem dann revidierten Vertrag von Sèvres blieb der Türkei ein Drittel des Osmanischen Reiches.
Die Entente ließ sich bei der Neuordnung der europäischen Landkarte von unterschiedlichen Maximen leiten. Zum einen erinnerte sie sich noch schwach an die vom US-Präsidenten Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 vor dem Kongress verkündeten 14 Punkte, in denen in unterschiedlichen Formulierungen „genau erkennbare Abgrenzungen der Volkszugehörigkeit“ (so der Passus zu Italien) umgesetzt werden sollten. Aber auch die „historische Zugehörigkeit“ (bei Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy), die Anerkennung „vollendeter Tatsachen“ (in Großpolen nach dem dortigen Aufstand), geopolitische Wünsche (Polens Zugang zur Ostsee) und pragmatische Ausstattungsziele (Teilung Oberschlesiens entgegen den lokalen Abstimmungsergebnissen) spielten eine Rolle.
Befragungen des Volkes
In einigen Landschaften mit national-kulturell gemischter Bevölkerung kam es zu Volksabstimmungen über die staatliche Zugehörigkeit. Dazu gehörte Schleswig, wo die Abstimmung in zwei Zonen am 10. Februar und am 14. März 1920 erfolgte und das Land nach den Ergebnissen zwischen Dänemark und Deutschland aufgeteilt wurde, sowie Kärnten, wo sich in der Zone A, in der die Bewohner befragt wurden, deren Mehrheit sich am 10. Oktober 1920 für Österreich aussprach.
Der Hintergrund dieser Abstimmungen war einerseits die Akzeptanz des „Selbstbestimmungsrechts“ der Völker, zum anderen aber auch die Überzeugung, dass die nationale Zugehörigkeit kein ganz einfaches Gebiet war. Wäre es nur darum gegangen, dann hätte man auch die Daten der letzten Volkszählungen nehmen und danach die Grenzen ziehen können. Die Politiker waren sich aber dort, wo sie tatsächlich die Meinung der Einwohner ermitteln wollten, darüber im Klaren, dass die Entscheidung zwischen zwei Staaten auch noch von anderen Erwägungen als der simplen kulturellen Zugehörigkeit bestimmt wurde.
Die beiden in der – späterhin um westpreußische Randgebiete erweiterten – Provinz Ostpreußen abgehaltenen Abstimmungen waren dafür ein gutes Beispiel. Im Regierungsbezirk Allenstein gaben 1910 im Zensus von den etwa 543.000 Einwohnern nur 50,58 % Deutsch als Muttersprache an. Masurisch kreuzten 32,2 %, Polnisch 13,46 % an, und 3,59 % identifizierten sich als zweisprachig. Interessant ist hier Masurisch – dabei handelte es sich um einen im Wesentlichen mit dem Polnischen verwandten Dialekt mit Anteilen aus anderen Sprachen und lokalen Wörtern. 1910 hatten die preußischen Behörden ein Interesse daran, Masurisch getrennt auszuweisen, um so die Anzahl der Polnischsprachigen zu reduzieren. Dann kam auch noch hinzu, dass die Mehrheit der Masuren evangelisch war und sich so von den zumeist katholischen Polen im polnischen Kernland unterschied. National motivierte Polen sahen hingegen die Masuren als Teil der polnischen Nation an.
Komplizierter war es in Westpreußen. Hier hatten sich in der Volkszählung von 1910 in der Gesamtprovinz 65 % der Einwohner als Deutsche, 28 % als Polen und 6 % als Kaschuben ausgewiesen, wobei die Kaschuben von den Polen vereinnahmt wurden, sich aber durchaus auch als eigenes westslawisches Volk wahrnahmen. Die Provinz wurde nach dem Krieg dreigeteilt. Der westlichste Zipfel blieb ohne Abstimmung beim Deutschen Reich in dem neuen Regierungsbezirk Grenzmark Posen-Westpreußen, aus dem mittleren, größten Teil, wo auch die Kaschuben lebten, bildete man – ebenfalls ohne Abstimmung – den „Polnischen Korridor“, der Polen den Zugang zum Meer verschaffte, und die Freie Stadt Danzig. Nur im östlichsten Teil wurde eine Volksabstimmung angesetzt.
Wie in der Mitte gab es auch hier ausweislich der Zensusdaten eine ansehnliche Minderheit, die sich als polnisch definiert hatte. Die Polen konnten daher zunächst einen Ausgang der Volksabstimmung erwarten, der ihre territoriale Expansion gerechtfertigt hätte. Angesichts dessen, dass die nationalistischen Kreise Polens einen Anspruch auf ganz Ostpreußen erhoben und die Schaffung der Freien Stadt Danzig ihnen nur Sonderrechte im Hafen und einige Zollprivilegien bescherte, war die Anordnung eines Plebiszits überhaupt schon eine Enttäuschung. Die Deutschen wiederum hielten die Volksbefragung vor allem deswegen für unzumutbar, weil sie im „Korridor“ und in Großpolen, also der Provinz Posen, nicht auch stattfand. In Westpreußen war natürlich die Abtretung des „Korridors“ der Stein des Anstoßes – auch nach 1945 wurde noch darüber geklagt, dass der polnische Zugang zum Meer nicht ohne Gebietsabtretungen nur durch eine Internationalisierung der Weichsel und durch Freihafenrechte zwischen Memel und Hamburg – ermöglicht worden war.
Motive der polnischen Abstimmungsteilnehmer
Die Bestimmung der Abstimmungsberechtigten erfolgte in einer Weise, die von der polnischen Seite heftig kritisiert wurde. Stimmberechtigt waren nämlich alle Männer und Frauen, die am 10. Januar 1920 (dem Tag der Rechtskrafterlangung des Versailler Vertrags) das 20. Lebensjahr vollendet hatten und im Abstimmungsgebiet wohnten oder dort geboren waren. Letztere Gruppe umfasste also Menschen, die längst nicht mehr hier lebten, weil sie auf der Grundlage des Gesetzes des Norddeutschen Bundes vom 1. November 1867 über die Freizügigkeit vorwiegend in die industrialisierten Gebiete Preußens (wie das Ruhrgebiet) oder in die Hauptstadt Berlin abgewandert waren. Was auf den ersten Blick neutral aussieht, war es nicht. Zwar wanderten auch Deutsche ins Ruhrgebiet, aber eben vor allem die ärmeren Masuren und Polen aus den preußischen Ostprovinzen.
Die „Ruhrpolen“ erfuhren erhöhte polizeiliche Aufmerksamkeit und Diskriminierung. Sie lebten nun in einer deutschen Umwelt, und die meisten assimilierten sich rasch an sie – man erkennt dies bis heute an polnisch klingenden Namen der deutschen Einwohner. Wenn sie nun zur Volksabstimmung in ihre ehemalige Heimat fuhren, dann hatten sie zum einen kein Interesse daran, dass ihre dortigen Verwandten fortan in einem anderen Land leben sollten. Zudem fühlten sie sich meistens auch in der ersten Generation schon deutsch. Für die katholischen Ermländer gab es im Ruhrgebiet keine konfessionellen Barrieren, die protestantischen Masuren identifizierten sich umso schneller mit dem evangelischen Preußen. Die organisierten Transporte von ehemaligen Bewohnern der Abstimmungsgebiete brachten also ungeachtet ihrer Herkunft vorwiegend Menschen, die für die deutsche Seite abstimmten.
Margot Erika von Holtum, die Schwester des Leiters der deutschen Organisation im Abstimmungsgebiet, hat geschildert, wie man deutscherseits vorgehen wollte : „Es mußten also Polen dazu gebracht werden, für Deutschland zu stimmen, wenn man die Abstimmung sicher gewinnen wollte.“ Zielobjekt waren nun katholische Polen, die im Zentrum organisiert waren und daher wussten, dass es in Deutschland (entgegen den Behauptungen der polnischen Agitatoren) auch Katholiken nicht schlecht ging. Das zweite Ziel waren polnische Sozialdemokraten, die dem polnischen Nationalismus fernstanden und zumeist Landarbeiter waren. Nicht erwähnt wird, dass die Landarbeiter ebenfalls an dem Verbleiben ihrer Arbeitgeber, der zumeist deutschen Bauern und Gutsbesitzer, interessiert gewesen sein dürften.
Aber auch sonst war den Polen bewusst, dass im ehemals russischen Gebiet, das mit Polen identifiziert wurde, die Landwirtschaft, aber auch andere wirtschaftliche Bereiche geringer entwickelt waren als in Deutschland – und das, obwohl die hier behandelten Gebiete auch ihrerseits nicht zu den höchstentwickelten in Deutschland gehörten. Die polnische Propaganda betonte den Nationalkampf, aber auch die Modernisierung. Damit schoss sie aber quasi ein Eigentor ; denn auch die polnische Forschung schreibt heute : „Unter Wiluś [so die polnische Koseform für Kaiser Wilhelm] genoss jeder deutsche Bürger, auch als Pole, die gute, durch die staatlichen Behörden ausgearbeitete Konjunktur und die von ihr stimulierten wirtschaftlichen Mechanismen. Dazu kamen eine gute Organisation, die Transparenz der Vorschriften, ein fähiger und gut ausgebildeter Beamtenapparat, Achtung des Rechts, Achtung der Fachkompetenz, gute Kreditmöglichkeiten.“ Auch wenn 1920 die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen problematischer waren, gestaltete das Image der beiden Nationen die Entscheidung in der Abstimmungskabine mit.
Die äußere Bedrohung
In der Literatur ist bisher die Terminierung der Volksabstimmung nicht berücksichtigt worden. Im Sommer 1920 war der zweite polnisch-sowjetische Krieg in vollem Gange. Nachdem polnische und nationalukrainische Truppen zeitweise Kiew erobert hatten, war die Rote Armee in die Offensive gegangen und zielte darauf ab, die industrialisierten Gebiete Deutschlands zu erreichen, um dort die noch angestrebte „Weltrevolution“ auszulösen. Vom 12. Juni an, an welchem Kiew wieder sowjetisch wurde, rückte die Rote Armee gegen die sich zurückziehenden Polen kontinuierlich vor. Der Kavallerie-gestützte Vormarsch im Norden erfolgte mit großer Geschwindigkeit und drohte, Polen kommunistisch werden zu lassen. Auch wenn wir darüber keine validen Daten haben, kann vorausgesetzt werden, dass der polnischen Bevölkerung der Abstimmungsgebiete weder eine russische noch gar eine kommunistische Herrschaft gegenüber der bisherigen deutschen attraktiv erschien.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war die Nähe der Russen als gefährlich empfunden worden und hatte zu den deutschen Plänen geführt, einen breiten sog. Grenzstreifen des damaligen Russisch-Polen zu annektieren, um das Gebiet zu sichern. Den polnischsprachigen Bewohnern war eine russische Variante keineswegs lieber, sie waren jedenfalls materiell in Deutschland besser gestellt und bescherten den polnischen Agitatoren daher keinen Erfolg.
Am 11. Juli, dem Abstimmungstag, waren die sowjetischen Truppen im Vormarsch und man erwartete die Besetzung Polens, da die polnische Armee keinen zureichenden Widerstand organisieren konnte. Zwar hatten die sowjetischen Truppen noch nicht das Gebiet südlich von Ostpreußen erreicht, das geschah kurze Zeit später, aber die dann doch erfolgte polnische Unterbrechung der Offensive wurde als eher unerwartetes „Wunder an der Weichsel“ wahrgenommen.
Dementsprechend war das Ergebnis der Volksabstimmung für die Polen enttäuschend. Im Abstimmungsgebiet Marienwerder stimmten 92,28 % für Deutschland und 7,57 % für Polen ; im Abstimmungsgebiet Allenstein gar 97,8 % für Deutschland und nur 2,1 % für Polen. Vergleicht man diese Werte mit den Volkszählungsergebnissen, dann bleibt nur die Interpretation, dass auch ein großer Teil der Nicht-Deutschsprachigen für Deutschland abgestimmt hatte.
Einschätzung der Ergebnisse
Was für einen Schluss kann man daraus ziehen ? Man könnte nun von einem „klare(n), überwältigende(n) Bekenntnis zum Deutschtum“ sprechen, wie es lange zum Diskurs der Landsmannschaft gehörte. Dies wäre jedoch eine Fehlinterpretation : Es handelte sich nämlich nicht um ein „Bekenntnis zum Deutschtum“, sondern um den Vorzug Deutschlands gegenüber der Alternative Polen. Die Abstimmung galt der staatlichen Zugehörigkeit, nicht der nationalen kulturellen Identität. Die Kriterien für die staatliche Zugehörigkeit favorisierten dabei eindeutig Deutschland : Polen, das in Deutschland als „Saisonstaat“ diffamiert wurde, stand in seit zwei Jahren andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen mit fast allen seinen Nachbarn und schien nun auch noch durch die Sowjets in seiner schieren Existenz bedroht. Aber selbst ohne diese Gefahr drohte jüngeren Männern die Einberufung. Der deutsche Außenminister Walter Simons berichtete im Reichstag am 2. Juli 1920, dass in dem bereits abgetretenen Westpreußen und in Soldau / Działdowo eine von polnischen Stellen „befohlene Einziehung von Wehrpflichtigen ohne Rücksicht auf die Nationalität“ erfolge und dies, „wo sich die polnische Regierung militärisch in außerordentlich bedrängter Lage befindet“. Wer riss sich in Westpreußen 1920 danach, für Polen in den Krieg zu ziehen ? Dazu kamen wirtschaftliche Erwägungen, die Verbindung mit den Verwandten im west- und mitteldeutschen Gebiet, Berichte über Korruption und Desorganisation in Polen, denen gegenüber die preußische Ordnung vorgezogen wurde.
Wie Frau von Holtum es formulierte : Man hatte Erfolg damit, die Polen dazu zu bringen, für Deutschland zu stimmen. Nicht aus nationalen, sondern aus verständlichen materiellen, persönlichen, eben unpolitischen Gründen.
Kehren wir zum Allgemeinbild der Abstimmungen zurück. Immerhin wurden sie ja abgehalten, weil man den Bewohnern die Freiheit ließ, ihre Kriterien selber zu bestimmen. Wo die materiellen Bedingungen auf beiden Seiten mehr oder weniger gleich waren, wie in Schleswig zwischen Dänemark und Deutschland, da geschah die Aufteilung in etwa nach den kulturellen Grenzen. Wo aber eine der Optionen materiell weniger attraktiv war, da ließen sich die Abstimmenden mehr von diesen materiellen Präferenzen als von nationalen Parolen leiten : Das war zum Beispiel auch in Kärnten der Fall, wo sich in der Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 in der „Zone A“, in der nach dem Zensus 70 % der Einwohner slovenischsprachig waren, 59 % für den Verbleib bei Österreich entschieden haben. Österreich schien den Abstimmenden attraktiver als der „Staat der Serben, Kroaten und Slovenen“ (Država SHS), das spätere Jugoslawien. Ebenso votierten in Ost- und Westpreußen die meisten für einen Staat, den sie kannten, und zogen ihn einem vor, dessen innere Struktur problematisch war und der in kriegerische Auseinandersetzungen mit ungewissem Ausgang verwickelt war, an denen sie sich hätten beteiligen müssen.
- Landsmannschaft Westpreußen (Hg.), Westpreußen – Das Land bleibt deutsch, Düsseldorf 1960, S. 8.
- Bundesgesetzblatt 1867, S. 55.
- Margot Erika von Holtum, Beiträge zur Geschichte der Abstimmung in Westpreußen am 11. Juli 1920. Görlitz 1940,
S. 66. - Szczepan Wierzchosławski, Orzeł czarny i orzeł biały. Problemy modernizacji społeczeństwa polskiego prowincji Prusy Zachodnia w XIX i na początku XX stulecia, Olsztyn 2011, S. 213.
- Westpreußen – Das Land bleibt deutsch, S. 1
- Reichstagsprotokolle, 1920 / 24, 1,
- 6. Sitzung, 2. 7. 1920, S. 129f.