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»Es hatte dieses Thema von ihm Besitz ergriffen« – Zum 90. Geburtstag des Gustloff-Chronisten Heinz Schön

Von Tilman Fischer

Die MS Wilhelm Gustloff ist ein herausragender »Erinnerungsort« der jüngeren deutschen Geschichte, weil er kompakt das Gedenken an die Flucht der Ostdeutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs repräsentiert. Dieses Schiff ist zum Inbegriff für menschliches Leid, zerstörte Hoffnungen und ein unerbittliches Schicksal geworden, das in einer einzigen Nacht eine erschreckend große Zahl von Wehrlosen – vor allem von Frauen und Kindern – ereilte. Deshalb ist den Augenzeugenberichten der wenigen Überlebenden stets große Beachtung geschenkt worden, und viele andere, die entlang der Ostsee flüchteten, haben, so fern sie vielleicht auch der Gustloff tatsächlich geblieben sein mögen, ihre eigene Geschichte mit derjenigen des durch russische Torpedos versenkten früheren KdF-Kreuzfahrtschiffes verwoben. Das enge Ineinandergreifen von Rettung und Untergang, das sich im Narrativ der Flüchtlinge ausprägt, machte den Erinnerungsort der Gustloff-Katastrophe bis heute auch zu einem zentralen Element des bundesdeutschen Diskurses um den Zweiten Weltkrieg, um das Abwägen von Recht und Unrecht und um den Anspruch, Deutsche nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer zu verstehen. Die Gustloff, nur noch ein schwer zugängliches Wrack am Boden der Ostsee, hat als Symbol somit bis in die Gegenwart hinein nichts von ihrem Schrecken wie von ihrer Faszination eingebüßt. Dass sie so unangefochten auch weiterhin im Fokus der Aufmerksamkeit steht, ist nicht zuletzt das Verdienst Heinz Schöns: Er war der privilegierte Zeitzeuge des Untergangs und zugleich der Chronist dieses Schiffes schlechthin.

Es gibt Histo­riker, die sich besondere Verdienste um die Erfor­schung einzelner histo­ri­scher Phänomene zu erwerben vermochten. Es gibt Zeitzeugen, die durch ihre authen­ti­schen Berichte vergan­genen Ereig­nissen ein Gesicht zu geben vermochten. Und es gibt Publi­zisten, die es immer wieder vermochten, die Erinnerung an einzelne dieser Ereig­nisse in der Öffent­lichkeit lebendig zu erhalten. In manchen Fällen vereinen Persön­lichkeit zwei, in seltenen Fällen alle drei dieser Vermögen. Einer von ihnen war Heinz Schön, der am 3. Juni 1926 im nieder­schle­si­schen Jauer das Licht der Welt erblickte.

Die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges mit Flucht und Vertreibung der Ostdeut­schen erlebte der Schlesier im südlichen Ostseeraum, wo er Zeuge der größten Schiffs­ka­ta­strophe in der Seefahrts­ge­schichte überhaupt wurde: des Abschusses und Unter­gangs der Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945. Nur einen halben Monat nach der eigenen Rettung ging der junge Schön wieder an Bord: Das Kommando führte ihn auf die General San Martin, auf der er elf weitere Trans­porte von Flücht­lingen begleitete, die ihn 22 mal über das »Grab der Wilhelm Gustloff« führten. Es sollten noch 46 Jahre vergehen, bis er selbst an einem Tauchgang zum Schiffs­wrack teilnehmen konnte.

Auf das Unglücksschiff fixiert

Wie die Kriegs­er­leb­nisse sein weiteres Leben bestimmen sollten, hat der westpreu­ßische Litera­tur­no­bel­preis­träger Günter Grass beschrieben, der Schön in seiner Novelle Im Krebsgang (Göttingen 2002) ein litera­ri­sches Denkmal setzte: »Sein Werdegang ist wie meiner auf das Unglücks­schiff fixiert. Knapp ein Jahr vor Kriegsende kam er als Zahlmeis­ter­as­sistent auf die Gustloff. Eigentlich hatte Heinz Schön nach erfolg­reichem Aufstieg in der Marine-Hitlerjugend zur Kriegs­marine gewollt, doch musste er, seiner schwachen Augen wegen, bei der Handels­marine anmustern. Da er den Untergang des KdF-Passagier‑, dann Lazarett‑, darauf Kasernen- und schließlich Flüchtlings-transportschiffes überlebte, begann er nach dem Krieg alles zu sammeln und aufzu­schreiben, was die Gustloff in guten und schlechten Zeiten betraf. Er kannte nur dieses eine Thema; oder es hatte einzig dieses Thema von ihm Besitz ergriffen. […] Alles hatte er aufge­listet: die Anzahl der Kabinen, die Unmengen Reise­pro­viant, die Größe des Sonnen­decks in Quadrat­metern, die Zahl der kompletten und der am Ende fehlenden Rettungs­boote und schließlich – von Buchauflage zu Buchauflage steigend – die Zahl der Toten und Überlebenden.«

Bereits 1945 – neben seiner Arbeit bei der Reederei der Gustloff, der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft – führte Schön erste Gespräche mit Besat­zungs­an­ge­hö­rigen, etwa Kapitän Friedrich Petersen. Später – als Student in Göttingen und 1953 bis 1990 im Dienst der Stadt Herford – setzte er die Aufar­beitung fort. Seine Sammlungs- und Forschungs­tä­tig­keiten waren für Schön Grundlage eines fast 65 Jahre umspan­nenden publi­zis­ti­schen Wirkens: Dieses begann mit dem Erscheinen der Reportage »Die Wilhelm Gustloff-Katastrophe wie sie wirklich war« ab dem 20. Februar 1949 in der Hanno­ve­raner Wochen­zeitung Heim und Welt. Nur drei Jahre später folgte die erste Monografie: Der Untergang der Wilhelm Gustloff – Tatsa­chen­be­richt eines Überle­benden. Die zweite – Die letzte Fahrt der Wilhelm Gustloff – folgte 1960. Noch im Jahr seines Todes erschien posthum das gemeinsam mit Jürgen Klein­dienst heraus­ge­gebene Buch Pommern auf der Flucht 1945. Rettung über die Ostsee aus den Pommern­häfen Rügen­walde, Kolberg, Stettin, Swine­münde, Greifswald, Stralsund und Saßnitz. In den dazwi­schen­lie­genden Jahrzehnten erschienen Standard­werke zur Vertreibung im Ostseeraum – heraus sticht die 1983 in erster Auflage veröf­fent­lichte Dokumen­tation Ostsee 45 – Menschen, Schiffe, Schicksale.

»Forschungsstelle Ostsee«

Im Laufe der 1960er/70er Jahre war es Heinz Schön möglich, seine Arbeit in den Dienst der staatlich geför­derten Aufar­beitung von Flucht und Vertreibung zu stellen und mit seiner Expertise zu ihrem Fortschreiten beizu­tragen. An diese Zeit erinnert Schön im Vorwort zur 2008 publi­zierten Dokumen­tation Die letzte Fahrt der Wilhelm Gustloff: »Durch meine beiden Gustloff-Bücher und meine Berichte in der Presse war Konter­ad­miral a. D. Conrad Engel­hardt auf mich aufmerksam geworden. Der Admiral, Anfang 1945 von Großad­miral Dönitz als ›Seetrans­portchef Ostsee‹ einge­setzt, hatte von der Bundes­re­gierung Anfang 1962 den Auftrag erhalten, an der Ostaka­demie Lüneburg eine ›Forschungs­stelle Ostsee‹ einzu­richten. Diese sollte unter seiner Leitung eine ›Offizielle Dokumen­tation über die Rückführung von Flücht­lingen, Verwun­deten und Soldaten mit Schiffen der Handels- und Kriegs­marine 1944/45 über die Ostsee‹ erarbeiten. Ich stellte mich als ›Ehren­amt­licher Mitar­beiter‹ in den Dienst dieser Aufgabe und wurde sieben Jahre lang zum jüngsten und engsten Mitar­beiter des Admirals, bis 1972 die Auflösung der 6‑köpfigen Forschungs­stelle erfolgte. Die Bundes­re­gierung hatte sich entschlossen, auf die Herausgabe der Dokumen­tation zu verzichten. 1981 begann ich mit der publi­zis­ti­schen Auswertung meiner umfang­reichen Archiv­sammlung über die Gustloff und die Flucht über die Ostsee 1944/45.«

Einfluss auf die Erinnerungskultur

Die Früchte dieser »publi­zis­ti­schen Auswertung« bescherten Schön eine über Jahrzehnte anhal­tende Prominenz in den einschlä­gigen Kreisen – bisweilen auch über diese hinaus. Dies liegt womöglich vor allem daran, dass Heinz Schön nicht dabei stehen­blieb, unter­schied­liche Veröf­fent­li­chungen zu reali­sieren. Vielmehr nahm er in vielfacher Weise Einfluss auf die bundes­deutsche Erinne­rungs­kultur. Als Zeitzeuge trat er in den deutschen Medien – etwa im Magazin Stern oder in einer WDR-Dokumentation, die 1991 während eines Aufent­haltes in Gdingen entstand – und der inter­na­tio­nalen Presse in Erscheinung. Zudem betei­ligte er sich als wissen­schaft­licher Berater an den beiden Filmpro­duk­tionen Nacht fiel über Goten­hafen (1959) und Die Gustloff (2008). Der zweite der beiden Filme führte 63 Jahre nach Flucht und Vertreibung zu einem erneuten Anwachsen des histo­ri­schen Inter­esses an den Ereig­nissen am Ende des Zweiten Weltkrieges.

Jährliche Reisen nach Russland

1985 und 1995 führte Schön die Überle­benden der Gustloff-Katastrophe anlässlich des 40. und 50. Jahres­tages zu »Erinne­rungs­treffen« zusammen, die er gemeinsam mit dem Kuratorium Erinne­rungs­stätte Albatros – Rettung über See e.V. in Damp an der Ostsee organi­sierte. Zu Begeg­nungen mit anderen Zeitzeugen kam es jedoch nicht nur in Deutschland: Fast jährlich reiste Schön in den 1990er Jahren nach Russland, wo er etwa Wladimir Kowalenko traf, der als Offizier auf der S13 gedient hatte – dem U‑Boot, das die Gustloff versenkte. 1992 folgten zwei Begeg­nungen mit Wladimir Kourotschkin, der die Torpedos auf das Flücht­lings­schiff abgefeuert hatte – und bei der ersten Aussprache die hohe Zahl ziviler Opfer nicht glauben konnte. An die nächste Begegnung erinnert sich Schön folgen­der­maßen: »Was ich ihm vor zehn Wochen über den Untergang der ›Gustloff‹ erzählt hatte, hatte ihn Tage und Nächte bis in die Träume verfolgt. Als wir uns verab­schie­deten, sagte er zu mir: ›Der Krieg ist eine schlimme Sache. Sich gegen­seitig umbringen und Frauen und Kinder töten  – wozu? Es muss andere Wege geben, ohne Blutver­gießen mitein­ander zu leben.‹ Späte Einsicht eines alten Mannes, der sein Leben lang Kommunist und leiden­schaft­licher Soldat gewesen war.«

Mit seinen Verdiensten um die Aufar­beitung der Gustloff-Katastrophe erwarb sich Schön ebenso Ansehen in der Fachwelt wie unter den Betrof­fenen von Flucht und Vertreibung. Nicht nur, dass er bis ins hohe Alter ein begehrter Referent bei unter­schied­lichen Veran­stal­tungen war: 2008 erhielt Schön mit der Ehren­pla­kette die höchste Auszeichnung des Bundes der Vertrie­benen. Bereits 1984 hatte ihm die Lands­mann­schaft Westpreußen den Marienburg-Preis verliehen. Auch die Bundes­re­publik Deutschland würdigte das Wirken Schöns, indem der Bundes­prä­sident ihm 1986 das Bundes­ver­dienst­kreuz am Bande verlieh.

Am 7. April 2013 starb Heinz Schön im nordrhein-westfälischen Bad Salzuflen.