Zur Biographie des ältesten Dampf-Eisenbahnfährschiffs der Welt
Von Hans-Jürgen Schuch
Als 1890 in Elbing auf der F. Schichau Werft ein aus Eisen gebautes Schiff zu Wasser gelassen und später an den Auftraggeber, das Eisenbahnbetriebsamt Stralsund der Preußisch-Hessischen Staatsbahnen abgeliefert wurde, war das für die Elbinger wahrscheinlich kein besonderes Ereignis. Ferdinand Schichau hatte bis dahin bereits einige hundert – kleine und große – Schiffe gebaut. Dieser Neubau hatte die Baunummer 440 erhalten. Ein Jahr vorher hatte er an die russische Marine mit dem Torpedoboot Adler das damals schnellste Schiff der Welt geliefert. Schichau beschäftigte 1890 etwa 2.400 Menschen; im gleichen Jahr wurde in Danzig mit dem Bau einer Werft für sehr große Schiffe begonnen. In einer besonderen Fabrik am Elbinger Bahnhof wurde 1891 die 500. Lokomotive fertiggestellt. Mit der Firma des ollen Ferdinand ging es offenbar nur bergauf.
1890 – Zum Einsatz in Stralsund
Bei dem am 20. Oktober 1890 nach Stralsund verkauften Schiff handelte es sich um ein Spezialschiff: ein Eisenbahn-Fährschiff, das den Namen Stralsund erhielt. Die Fährschiffe von F. Schichau waren in Stralsund bekannt. Zwei Schwesternschiffe hatte die Werft bereits früher geliefert, 1882 die Prinz Heinrich und 1883 die Ruegen (1). Alle drei Schichau-Schiffe hatten die Aufgabe, Eisenbahnwaggons und Passagiere über den Strelasund zum Fährhafen Altefähr auf der Insel Rügen zu trajektieren. Einige Jahre später lieferte die F. Schichau Werft in Elbing für diese älteste deutsche Trajektroute auf der Ostsee auch noch die jeweils immer größeren Eisenbahnfähren: Sassnitz (1897), Putbus (1899), eine zweite Ruegen (1902) und bald nach dem Ersten Weltkrieg die Altefaehr (1920). Vom Fährhafen Altefähr gab es ab 1883 einen Gleisanschluss zum Inselhauptort Bergen und ab 1889 bis nach Putbus. Das war der Grund für den Ankauf und Einsatz eines dritten Fährschiffes, der Stralsund aus Elbing. Nach weiteren zwei Jahren wurde die Gleisanlage von Bergen aus bis Saßnitz an der Ostküste gebaut. Durch diese Querung der Insel Rügen war es möglich geworden, ab 1. Mai 1897 von privaten Reedereien die Postdampferlinie von Saßnitz nach Trelleborg in Schweden einzurichten. Sie wurde zunächst einmal täglich in beiden Richtungen befahren. Damit war zugleich eine günstige Eisenbahnstrecke von Berlin nach Schweden geschaffen. Diese Linienführung blieb so, bis ab dem 5. Oktober 1936 der für 25 Millionen Reichsmark gebaute Rügendamm von Stralsund über die Insel Dänholm nach Rügen dem Eisenbahn- und Straßenverkehr zur Verfügung stand.
Die ersten drei Eisenbahnfähren waren sich sehr ähnlich. Sie waren mit 37,15 m, 36,20 m und 36,46 m, immer jeweils über alles, ziemlich gleich lang und mit 9,40 m, 9,46 m und 9,80 m auch fast gleich breit. Auch die anderen technischen Daten der drei Schiffe waren einander ähnlich. Sie waren allesamt eher kleine Schiffe, die nach den überlieferten Angaben aber in der Lage sein sollten, bis zu 300 Personen aufzunehmen. Die von F. Schichau gebauten Nachfolgetrajekte waren fast doppelt so lang oder noch länger.
Buganleger – Einendfähre – Eisbrecher
Soweit noch feststellbar, war in Elbing auf der Werft für den Bau der Eisenbahnfähre der Ingenieur Dr. Carl Eduard Friedrich Gurnick (Gurnigk) zuständig. Er war bei F. Schichau von 1878 bis 1895 als Marineingenieur beschäftigt. Seine Wohnung hatte er am Äußeren Georgendamm 25a.
Die Eisenbahndampffähre Stralsund war ein Binnenschiff, eine als Eisbrecher geeignete Einendfähre – auch Buganleger genannt, weil sie im Fährhafen mit dem Bug anlegte. Sie konnte nur über den Bug be- und entladen werden. Während die beiden älteren Schichau-Bauten zwei einfach wirkende Expansionskolben-Dampfmaschinen als Antrieb hatten, gab es hier jetzt zwei zweistufige Expansionsdampfmaschinen mit zusammen 225 PSi (indizierte Pferdestärke). Das Zweischrauben-Schiff wurde am 20. Oktober 1890 in Dienst gestellt und nahm bereits am 26. Oktober den Linienverkehr auf. Die Querung des Strelasunds vom Fährhafen Stralsund zur Insel Rügen, zum Fährhafen Altefähr, beträgt 1,5 Seemeilen (= 2.778 Meter). Die Überfahrt dauerte etwa 35 Minuten. Die Geschwindigkeit lag bei acht Knoten. Unbeladen betrug der Tiefgang 1,23 m und beladen 1,88 m.
Das Schiff besaß auf dem durchlaufenden Waggondeck ein 32 m langes Gleis mit einer Kruppstahlschiene. F. Schichau verfügte erst ab 1897 in Elbing über eine eigene Stahlgießerei. Nach dem Anlegen der Einendfähre wurden durch Absenken der höhenverstellbaren Laderampen (Ladebrücken) auf dem Schiff und an Land die Ladebrücken auf eine Höhe gebracht. Eine Rangierlok bugsierte die Waggons an Bord oder zog sie von dort an Land.
Die Eisenbahnfähre war von weitem zu erkennen. Etwa auf halber Schifflänge gab es auf beiden Seiten je ein Deckshaus und mittschiffs das hölzerne Ruderhaus, die hochgelegene Kommandobrücke, zwischen zwei hohen Schornsteinen. Die Stralsund konnte mit drei bis vier Güterwaggons oder mit drei großen Personenwaggons beladen werden. (Personenwagen wurden auf den Fähren erst seit 1897 befördert.) Während der Überfahrt mussten die Reisenden die Waggons verlassen. Auf den beiden älteren Fährschiffen hieß das, auch bei schlechtem Wetter draußen auszuharren. Die Stralsund hingegen bot den Passagieren während der Überfahrt Platz in zwei getrennten Kabinen: Die »Cajüte I. und II. Classe« befand sich im Vorschiff und war mit rotem Plüschmobiliar ausgestattet. Die »Cajüte III. und IV. Classe« lag im Achterschiff. Sie war im Stil der damaligen, in den Zügen üblichen Holzklasse eingerichtet. In diesem Zusammenhang wird allerdings klar, dass das angebliche Fassungsvermögen von 300 Personen beim Verkehr mit drei Personenwaggons und bei der Nutzung der Schiffskajüten in keinem Falle erreicht wurde.
Die Stralsund querte gut zehn Jahre lang den Strelasund, war allerdings bald für diese Route zu klein. Bereits 1885 waren auf der Strecke von und nach Rügen über 90.000 Tonnen Güter und ca. 250.000 Personen befördert worden. Das Trajektschiff wurde daher von der Strelasund-Querung abgezogen und auf der Route von Swinemünde nach Wollin eingesetzt. Im Jahre 1926 wurde es in Stettin auf der Schiffswerft AG Vulcan um einen Meter auf 37,46 m verlängert. Seitdem konnte sie die größeren Packwagen laden.
Der nächste neue Einsatz begann im Spätherbst 1936 und endete 1945. Das Eisenbahnfährschiff aus Elbing wurde zum Transport von Baumaterialien zur geplanten Heeresversuchsanstalt Peenemünde und ab Frühjahr 1937 auf der Greifswalder Oie eingesetzt. Außerdem trajektierte das Fährschiff von Saßnitz auf Rügen Güterwagen zur Insel Usedom, die mit Technik und Anlagen für die Versuchsanstalt beladen waren. Das geschah natürlich streng geheim.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Die beiden älteren, im 19. Jahrhundert auf der Strelasund-Route eingesetzten Eisenbahnfährschiffe von der F. Schichau Werft gab es am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr. Sie waren beide 1901 ebenfalls von der Route Stralsund-Altefähr abgezogen und an anderer Stelle eingesetzt worden. Die Prinz Heinrich gehörte zuletzt der Danziger Reederei Günter Pohlmann. Danzig war ihr Heimathafen. Seit dem 28. Juli 1928 trug sie den Namen Nogat.
Das Schiff wurde 1944 von der Kriegsmarine übernommen und 1945 als Verwundeten-Transporter eingesetzt. Am 7. April 1945 versank die Nogat nach sowjetischen Artilleriebeschuss im Hafen von Pillau. Die Ruegen (1) hatte die Kriegsmarine bereits am 21. August 1940 übernommen. Nur zwei Tage später, am 23. August 1940, sank sie auf der Schleppreise am Haken eines dänischen Schleppers auf den Grund der Ostsee. Die Stralsund sollte nicht der Roten Armee in die Hände fallen und deshalb in den ersten Maitagen 1945 gesprengt werden. Dieses verhinderten der Kapitän Rudolf Kleinert und sein Obermaschinist Schmidt, die unter Lebensgefahr die Sprengladung ausbauten. Kleinert blieb Kapitän. (Erst 1973 verließ er die Brücke für immer. Der Stettiner war damals 67 Jahre alt.)
Nach dem Kriegsende dann diente die Stralsund bis 1946 der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD). Für sie mussten Raketenteile von der ehemaligen Heeresversuchsanstalt in Richtung Stettin und Swinemünde transportiert werden. Sie wurde aber auch vor Greifswald auf der Ostsee eingesetzt, um nach versunkenen Testraketen zu suchen. Ab August 1945 folgte der Einsatz zwischen dem Festland ab Wolgast-Züssow zur Insel Usedom, und ab Dezember 1945 konnten mit Gütern beladene Eisenbahnwaggons von Wolgast zur Insel Usedom übergesetzt werden. Die Stralsund war nun bereits 55 Jahre alt. Die Besatzung liebte das Schiff und nannte es »Flunder«.
Ab dem Sommer 1946 beförderte die Stralsund auch wieder Personen zur Insel Usedom. Der Fährverkehr war wieder aufgenommen worden. Die letzte Fahrt zur polnisch verwalteten Stadt Stettin fand in der Zeit vom 13. bis 15. September 1949 statt. Nach Swinemünde fuhr sie letztmalig am 17./18. September 1949. Anschließend übergaben die sowjetischen Behörden die Dampffähre an die Deutsche Reichsbahn. Wolgast wurde der Registrierhafen und das Fährschiffsamt Saßnitz der Reeder.
Der Fährdienst zur Insel Usedom wurde fortgesetzt. Rollendes Material für Wartungszwecke befördert. Güterwaggons mussten übergesetzt werden. Kesselwagen mit Kerosin für den Flugplatz Peenemünde konnten nur mit der Stralsund auf die Insel gelangen. Mehrfach wurde die Eisenbahnfähre umgebaut, zuletzt im Winter 1979/80. Trotz der auf der Peenewerft durchgeführten Wartung des Schiffes war der Zustand der Originaldampfmaschine von F. Schichau immer schlechter geworden. Am 13. Januar 1986 wurde sie daher ausgebaut und zu einer Spezialwerft nach Dresden-Laubegast gebracht. Die Maschine sollte gründlich überholt werden. Schwierige Sonderanfertigungen bestimmter Teile waren notwendig geworden.
Zu dieser Zeit wurde die Stralsund allerdings zum Denkmal erklärt, und den Einbau von Dieselmotoren lehnte der Denkmalschutz ab. Die antriebslose Fähre blieb gleichwohl im Einsatz. Vom 1. August 1986 an wurde sie bis 1990 von dem Schlepper Rassow bugsiert; und am 26. Oktober 1990 konnte der 100. Geburtstag seit der Indienststellung gefeiert werden. Die letzte Trajektierung erfolgte dann am 13. Dezember 1990. Das Fährschiff wurde nicht mehr benötigt und in den Ruhestand geschickt. Die beiden inzwischen aus Dresden-Laubegast eingetroffenen neuen Maschinen holte die Spezialwerft zurück.
Die offizielle Außerdienststellung fand jedoch erst am 31. Dezember 1991 statt. Das eiserne Schiff aus Elbing wurde aber nicht abgewrackt, sondern zum Museumsschiff »befördert«. Es wurde Eigentum der Stadt Wolgast. Die einsetzenden Umbauarbeiten mussten mit der Denkmalschutzbehörde abgestimmt werden. Und es bestand die Auflage, das Schiff bereit zu halten für Übersetzungsfahrten. Im Frühjahr 1993 erhielt die Stralsund auf der Peenewerft sogar seine Wellenanlage, die Schrauben und das Ruderblatt zurück. Mehrmals wurde die »Fähre i. R.« wieder eingesetzt. 1993 musste sie 21 Reisezugwagen von der Insel Usedom holen und moderne Triebwagen vom Festland auf die Ostseeinsel übersetzen. Im selben Jahr trajektierte sie in einem neuen Einsatz sechs Triebwagen, zehn Reisezugwagen und sechs Lokomotiven. Ähnliche Einsätze waren 1994 und 1995 notwendig. Vorher war eine Steuerborddampfmaschine eingebaut worden. Schließlich fand die Eisenbahndampffähre 1997 einen neuen Liegeplatz in dem damals geschaffenen Museumshafen der Stadt Wolgast. Seitdem ist sie dort als technisches Denkmal zu besichtigen. Der Förderverein Dampf-Eisenbahnfährschiff Stralsund e. V. kümmert und sorgt sich um dieses Denkmal aus Westpreußen. Die Einsatzbereitschaft vieler Mitglieder und der Ideenreichtum des Vorsitzenden Wolfgang Mante machen dies möglich. Das Elbinger Schiff schwimmt also auch 125 Jahre nach seiner Fertigstellung auf dem Wasser. Dieses Fährschiff ist etwas Besonderes.
Nach 125 Jahren
2015 erinnerte man sich in Wolgast mehrfach an den Geburtstag der schwimmenden Jubilarin. Die Museen der Stadt luden zum Besuch einer Ausstellung ein, die ausführlich über die Stralsund Auskunft gab. Zudem wurden ein Bild-Kalender für 2016 und lokale Briefmarken herausgegeben. Die lange Nacht der Denkmäler und Museen am 22. August 2015 war ein willkommener Anlass, das schwimmende Denkmal zu besuchen. Bei den gleichzeitig stattfindenden Wolgaster Hafentagen erhielt der Förderverein ein schwimmfähiges, 155 cm langes Modell der Stralsund, das von einem Modellschlepper in den Hafen gezogen wurde. Natürlich gibt es auch eine Homepage (www.dampffaehrschiff-wolgast.org). Am 24. Oktober 2015 fand im Museum, in der »Kaffeemühle«, eine Festveranstaltung mit einem Empfang statt, bei dem mehrmals auch an die Werft von F. Schichau erinnert wurde. Danach war Zeit für eine Besichtigung; und schließlich erfreute die Besucher ein buntes Programm auf dem Jubiläumsschiff. Es ist inzwischen das älteste Dampf-Eisenbahnfährschiff der Welt.