Zurück

Zur elektronischen Ausgabe

Zum Heft

Zur Rubrik

500 Jahre nach Luther

Die Diaspora der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen am Beispiel der Gemeinden in Graudenz, Elbing und Zoppot

Von Karol Niedoba

Die Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen hat knapp 80 000 Mitglieder, von denen der Großteil in der Region Teschener Schlesien (Śląsk Cieszyński), in der Nähe der Grenze zu Tschechien und der Slowakei, lebt. Die Gemeinden im Norden Polens, unter anderem in den ehemals preußischen Gebieten, sind Teil der Diaspora der ­Evangelisch-Augsburgischen Kirche. Zu diesen gehören die Gemeinden in Graudenz (Grudziądz), Elbing (Elbląg) und Zoppot (Sopot), die sich alle in der Diözese Pommern-Großpolen (Diecezja Pomorsko-Wielkopolska) befinden. Diese Diözese – eine von sechs Diözesen der Kirche – ist, bezogen auf die Fläche, die größte, sie zählt insgesamt jedoch nur wenige Tausend Gemeindemitglieder. Sie umfasst 18 Gemeinden, die von 15 Geistlichen betreut werden. Geleitet wird die Diözese von Bischof Prof. Dr. Marcin Hintz.

Das Gemein­de­leben gestaltet sich sowohl in Graudenz als auch in Elbing und Zoppot vielseitig. Zu den Haupt­ele­menten des Lebens in allen drei Gemeinden gehören die sonntäg­lichen Gottes­dienste, das Kirchencafé nach den Gottes­diensten, Bibel­kreise, das Abhalten von Religi­ons­un­ter­richt sowie indivi­duelle Gespräche mit Personen, die Mitglied in der Kirche werden möchten. Auch diako­nische Arbeit wird im Rahmen der Möglich­keiten geleistet. Die Gemeinden betei­ligen sich darüber hinaus an der Entwicklung und Reali­sierung der Ökumene.

Die Gemeinde in Graudenz

Die St. Johannes-Gemeinde ent­stand in der Zwischen­kriegszeit. Am 24. Mai 1931 wurden die Gemein­de­gremien zum ersten Male berufen. Seelsorger der Gemeinde war damals Pfarrer Jerzy Kahané, dem sie ihre Gründung und Festigung verdankt. In diesem Zeitraum wurden die Gottes­dienste noch in der unierten Kirche gefeiert, heute verfügt die Gemeinde über ein eigenes Gotteshaus. Obwohl die Gemeinde aktuell lediglich knapp 40 Personen zählt, hat sie einen eigenen Geist­lichen vor Ort, und zwar den Autor dieses Beitrags. Dies ist sowohl für den Umfang der seelsor­ger­lichen Arbeit als auch für die Präsen­tation der Gemeinde nach außen von Vorteil.

Neben den genannten regel­mä­ßigen Zusam­men­künften der Gemeinde wurde vor einem Jahr, als Vorstufe eines Gemein­de­chors, ein „Musik-Treffen“ ins Leben gerufen. Dieses Treffen hat zum Ziel, Personen, die gerne singen, Gelegenheit zu geben, dies gemeinsam mit anderen zu tun, evange­lische Lieder einzuüben und an beson­deren kirch­lichen Feier­tagen die Gottes­dienste musika­lisch zu bereichern.

Das Bibel­studium in Graudenz findet nicht nur Anklang bei den Gemein­de­gliedern, sondern auch bei Menschen, die an der evangelisch-augsburgischen Kirche Interesse haben. Auf diese Weise bietet es eine Möglichkeit für Außen­ste­hende, die Gemeinde, ihre Mitglieder und die Lehre der Kirche kennen­zu­lernen. Eine weitere Gelegenheit, sich wechsel­seitig zu begegnen, bieten die einmal im Jahr statt­fin­denden ökume­ni­schen Gottes­dienste, bei denen Gläubige anderer Konfes­sionen, vor allem Katho­liken, in einer evange­li­schen Kirche am gemein­samen Gebet für die Einheit der Christen teilnehmen können.

Das besondere Refor­ma­ti­ons­ju­biläum im Jahre 2017 bot und bietet für die Evangelisch-Augsburgische Kirche gute Chancen, öffentlich aufzu­treten. Auch wenn die perso­nellen und finan­zi­ellen Möglich­keiten der Gemeinde in Graudenz begrenzt sind, konnten – auch dank der Unter­stützung nicht mit der Kirche verbun­dener Personen – einige Projekte umgesetzt werden, durch die einem breiteren Publikum, das teilweise zum ersten Male mit dieser Konfession in Berührung kam, Infor­ma­tionen über den evange­li­schen Glauben zugänglich gemacht werden konnten. Aufgrund der guten Zusam­men­arbeit mit dem Władysław-Łęga-Museum Graudenz nahm die Gemeinde auch an der jährlich organi­sierten „Museums­nacht“ teil. Fast 500 Besucher besich­tigten die Kirche und konnten etwas über die Geschichte der Refor­mation in Deutschland und Polen, und insbe­sondere in Graudenz, erfahren.

Auch die Wiktor-Kulerski-Bibliothek war gegenüber einer Zusam­men­arbeit sehr aufge­schlossen. So vermochte die Gruppe Kolegium Muzyki Ewangeli­ckiej (Kolleg für Evange­lische Musik) während der Sommer­ferien in den Räumlich­keiten der Bibliothek ein Konzert zu geben, bei dem Werke des klein­pol­ni­schen Refor­mators Jakub Lubelczyk darge­boten wurden. Vor dem Konzert wurde ein kurzer Vortrag zum Thema Die Refor­mation und das Leben der Graudenzer Gemeinde gehalten. Über beide Veran­stal­tungen berich­teten auch die lokalen Medien. Zudem wurde die Publi­kation der ins Polnische übersetzten Tisch­reden Martin Luthers vorge­stellt :  Dieser Vortrag von Herrn Krzysztof Rzońca erfreute sich bei den Gemein­de­gliedern eines großen Interesses.

Das Refor­ma­ti­onsjahr bot schließlich auch Gelegenheit, Jugend­liche anderer Konfes­sionen, haupt­sächlich Mitglieder der römisch-katholischen Kirche, zu erreichen. Von Personen initiiert, die im Bereich der Jugend­bildung tätig sind, wurden Treffen zum Thema Refor­mation und evange­li­scher Glauben organi­siert, bei denen die Jugend­lichen ­einen evange­li­schen Pfarrer persönlich kennen­lernen und ihm Fragen stellen konnten.

Die Gemeinde in Elbing

Die evange­lische St. Anna-Kirche in Elbing wurde während des Zweiten Weltkrieges beschädigt und später abgerissen, und es blieben nur wenige Evange­lische in der Stadt. In den darauf­fol­genden Jahrzehnten wurde einmal im Monat Gottes­dienst gehalten, wozu jeweils die Geist­lichen aus Zoppot nach Elbing kamen. 1991 bestand die Gemeinde lediglich aus ungefähr 25 älteren Personen. 1993 konnte das Pfarrhaus, dank Unter­stützung aus Deutschland, zurück­er­worben werden, so dass erstmals nach dem Krieg ein Geist­licher vor Ort sein konnte, Pfarrer Robert Penczek. Dies wirkte sich positiv auf die Entwicklung der Gemeinde aus, die seit 2000 finan­ziell unabhängig ist und mittler­weile über 90 Mitglieder hat. Der gegen­wärtige Pfarrer, Fregat­ten­ka­pitän Marcin Pilch, betreut zudem die Filial­ge­meinde in Niklas­kirchen (Mikołajki Pomorskie) mit.

Die Feier­lich­keiten zum 500-jährigen Refor­ma­ti­ons­ju­biläum wurden in Elbing am 12. Mai in der Elbinger Bi­bliothek mit einem Konzert der christ­lichen Band Mate.O eröffnet. Das Programm bildeten „Lieder unserer Väter“. In Elbing bestand das Organi­sa­ti­onsteam für die Feier­lich­keiten neben der Evangelisch-Augsburgischen Kirche aus Vertretern verschie­dener anderer Gemeinden : der Baptis­ten­ge­meinde und der Pfingst­ge­meinde in Elbing sowie der Pfingst­ge­meinde in Frauenburg (Frombork).

Gemeinsam mit der Polni­schen Gesell­schaft für Touristik und Heimat­kunde PTTK in der Region Elbing und der Elbinger Bibliothek wurde im Rahmen der siebten Veran­staltung aus der Reihe „Samstag mit dem PTTK-­Touristenführer“ am 9. September 2017 ein Spaziergang zum Thema der Refor­ma­ti­ons­ge­schichte in Elbing organi­siert. Eine weitere Veran­staltung zum Refor­ma­ti­ons­ju­biläum, eine Konferenz zum Thema Wort – Freiheit – Verant­wortung – Arbeit. Refor­mation in Elbing, wird am 24. Oktober stattfinden.

Die Gemeinde Danzig, Gdingen und Zoppot

Die Gemeinde in Zoppot ist seit 1890 eigen­ständig. Seit der Nachkriegszeit sind die Pfarrer dort auch mit der Seelsorge für die Gemein­de­glieder in Danzig und Gdingen betraut. Die Gemeinde in Zoppot umfasst mit der Filiale in Dirschau (Tczew) gegen­wärtig etwa 400 Gemein­de­glieder und ist zudem Bischofssitz der Diözese. Das Gemein­de­leben ist im Vergleich zu den beiden anderen Städten bei dieser Gemein­de­größe natur­gemäß umfang­reicher. So gibt es einen Chor, einen Frauen­kreis, einen separaten Frauen­kreis für Senio­rinnen und Gesprächs­kreise für Personen, die sich für die evange­lische Kirche inter­es­sieren. Zeitgleich mit den Gottes­diensten findet sonntags der Kinder­got­tes­dienst statt. In Zoppot ist auch die Polnische Evange­lische Gesell­schaft (PTE) aktiv und organi­siert offene Treffen zu verschie­denen Themen. Die PTE ist eine von weltlichen Mitgliedern der Kirche geleitete Gesell­schaft, die im Rahmen der polni­schen evange­li­schen Kirche aktiv ist und die Verwirk­li­chung gesell­schaft­licher sowie kultu­reller Veran­stal­tungen zum Ziel hat.

Auch in dieser Gemeinde wurde die Gelegenheit genutzt, im Rahmen des Refor­ma­ti­ons­ju­bi­lä­ums­jahrs evange­lische Sicht­weisen und Werte nach außen zu vermitteln und das Werk der Refor­mation vorzu­stellen, wobei der Schwer­punkt auf den Errun­gen­schaften, der Geschichte und den Werten der Refor­mation in Pommern und Hinter­pommern, insbe­sondere in Danzig, Gdingen und Zoppot, lag. Dort wurden auch die Haupt­fei­er­lich­keiten in der Diözese Pommern-Großpolen abgehalten. Am 18. und 19. Mai fand ein „Refor­ma­ti­ons­kon­gress“ statt – und in dessen Rahmen eine Konferenz mit dem Thema Das Wort „Evangelium“ und seine Bedeutung in der Refor­ma­ti­ons­tra­dition des 17. Jahrhun­derts –, wobei in insgesamt 20 Referaten geschicht­liche, theolo­gische, philo­so­phische, künstlerisch-musikalische sowie ­wirtschaftlich-soziale Gesichts­punkte beleuchtet wurden. Die Ergeb­nisse des Kongresses wurden im Rahmen einer Podiums­de­batte, die im Danziger Rathaus stattfand, unter Betei­ligung von Prof. Dr. Jerzy Buzek, Bischof Prof. Dr. Marcin Hintz, Prof. Dr. Sławomir Kościelak sowie dem Schrift­steller Paweł Huelle zusam­men­ge­fasst und disku­tiert. Zum Abschluss des Kongresses wurde in der Polni­schen Balti­schen Philhar­monie zum ersten Male an diesem Ort die Sinfonie Nr. 5 in d‑Moll op. 107, die „Refor­ma­ti­ons­sin­fonie“, von Felix Mendelssohn Bartholdy aufge­führt, die er 1830 aus Anlass des 300.  Jahrestags der Confessio Augustana, des Augsburger Bekennt­nisses, kompo­niert hatte.

Vom 29. bis 30. September wurde mit dem Institut für Geschichte der Polni­schen Akademie der Wissen­schaften PAN, dem Institut für Kunst­ge­schichte sowie dem Institut für Geschichte der Univer­sität Danzig eine inter­na­tionale Konferenz zum Thema 500 Jahre Refor­mation (1517–2017). Der Protes­tan­tismus in Königlich-Preußen und dem Herzogtum Preußen. Geschichte – Menschen – Kunst – Literatur organi­siert. Gegen­stand der wissen­schaft­lichen Beiträge waren die Werke und Auswir­kungen der Refor­mation im religiösen Bereich, in der Kunst, der Archi­tektur, Literatur und Wissen­schaft sowie in Bezug auf die Geschichte von Staaten und Gesell­schaften vom 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhun­derts, d. h. bis zur Gründung der „unierten“ Evange­li­schen Kirche in Preußen 1817. Als letzte Veran­staltung im Rahmen des Jubilä­ums­jahres ist für den 31. Oktober 2017 die Eröffnung der Ausstellung Protes­tan­ti­sches Danzig in der Neuzeit. 500 Jahre nach dem Wirken Martin Luthers im Natio­nal­museum vorge­sehen. Es sollen Werke der Kunst und des Kunst­hand­werks präsen­tiert werden, die die Ideen und die Lehre der Refor­mation aufge­nommen und darge­stellt haben.

Die genannten Veran­stal­tungen, die die Tätigkeit der Gemeinden im öffent­lichen Leben exempla­risch veran­schau­lichen sollen, zeigen, dass es auch in kleinen Gemeinden häufig möglich ist, durch die Zusam­men­arbeit mit anderen Insti­tu­tionen inter­es­sante Projekte zu entwi­ckeln und zu reali­sieren und derart der lokalen Gemein­schaft die Geschichte und die Ideen der Refor­mation sowie genaueres Wissen über den Protes­tan­tismus zu vermitteln. Auf diese Weise wird eine offenere Haltung gefördert, und die Menschen werden für Anders­gläubige sensi­bi­li­siert. In einer so homogenen Gesell­schaft wie der polni­schen ist es von beson­derer Bedeutung, die immer noch vorhandene Vielfalt ins Bewusstsein zu bringen und dadurch Toleranz und Aufge­schlos­senheit auch gegenüber dem nur wenig Vertrauten zu fördern.

Übersetzung: Isabella Niedoba


Pfarrer Dr. Karol Niedoba studierte evange­lische Theologie an der Christlich Theolo­gi­schen Akademie in Warschau und promo­vierte im Jahre 2016 über Die Trinität im Verständnis von Karl Rahner und Jürgen Moltmann. Seit 2015 ist er Vikar der evangelisch-augsburgischen Gemeinde in Graudenz.