Von Oliwia Murawska
Die kaschubische Regionalbewegung
Aufgrund ihrer Lage im deutsch-polnischen Grenzraum geriet die Kaschubei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder zwischen die Fronten. Dabei war sie nie eine Verwaltungseinheit, nie im Besitz klar umrissener Grenzen, sondern vielmehr ein Raum politischer Grenzaushandlungen nicht-kaschubischer Mächte. Als Kontaktzone war die Kaschubei zunächst Zentrum deutsch-polnischen Kulturaustausches, nach 1918 zunehmend auch national-politischer Konflikte. Dieser Umstand wirkte sich nicht zuletzt auf die zu dieser Zeit florierende kaschubische Regionalbewegung aus. Ihre Protagonisten und Protagonistinnen, die allesamt typische Grenzraumbiografien besaßen, pflegten grenzübergreifende Netzwerke und profitierten vom kulturellen Austausch, doch mussten sie immer auch mit Anfeindungen und Ressentiments rechnen, je nachdem, welcher nationalen oder kulturellen Sphäre sie sich zugehörig fühlten oder vielmehr zugerechnet wurden.
Ein ebensolches Schicksal teilte das Ehepaar Gulgowski, das sich auf beeindruckende Weise für die Sammlung, Bewahrung, Erforschung und Vermittlung kaschubischer Kultur eingesetzt und damit dauerhaft in die Geschicke, das kollektive Gedächtnis und die Landschaft der Kaschubei eingeschrieben hat: Sie, Teodora Gulgowska (1860–1951), geborene Fethke, eine als „kaschubisierte Deutsche“ bezeichnete, in Berlin ausgebildete Künstlerin, er, Izydor Gulgowski alias Ernst Seefried-Gulgowski (1874–1925), Pole, preußischer Beamter, Volksschullehrer und volkskundlicher Autodidakt. Auf die in der Literatur vielfach gestellte Frage, wer von beiden die treibende Kraft gewesen sei, wird zumeist auf Teodora als diejenige verwiesen, die die nötigen Netzwerke und Ideen aus Berlin in die Kaschubei importiert habe. Gleichwohl wird die Herausstellung kausaler Zusammenhänge dieser symbiotischen Beziehung nicht gerecht: „Sie haben sich gegenseitig ergänzt, und es ist schwer, ihre Arbeit voneinander abzugrenzen: Die Früchte sind Werke der Gemeinsamkeit“, schreibt 1950 der polnische Literaturhistoriker Andrzej Bukowski, der Teodora noch persönlich gekannt hatte.
Die „Urhütte“ und das Freilichtmuseum
Bereits die Gründung des ersten und bis heute existierenden Freilichtmuseums in der Kaschubei – übrigens eines der ersten seiner Art überhaupt in Europa – ist das Ergebnis dieser gleichursprünglichen Beziehung: Im Jahr 1906 erwarben die Gulgowskis ein zum Abriss vorgesehenes kaschubisches Laubenhaus in Wdzydze (dt. auch Sanddorf), worin sie nach skandinavischem Vorbild ihre Volkskunstsammlung ausstellten. Die charakteristische Bauerneinrichtung sollte den Besuchern ein möglichst authentisches Bild vom kaschubischen Landleben vermitteln, ganz so, als sei in der Hütte soeben das Kaminfeuer erloschen, wie Izydor Gulgowski schreibt. Freilich schwebte den Gulgowskis neben der Sammlung von Kopfhauben, Möbeln und landwirtschaftlichen Geräten von Anbeginn an die Nachstellung eines kompletten Dorfes vor.
Die Gründung des Museums hatte eine tiefe symbolische Bedeutung: Nicht nur wurde zum ersten Mal die kaschubische materielle Kultur zur Volkskunst aufgewertet und einem größeren Publikum zugänglich gemacht, sondern die Museumshütte entwickelte sich auch zu einem Ort der Begegnung für polnische, deutsche und kaschubische Intellektuelle, sie wurde zur Inspirationsquelle der kaschubischen Regionalbewegung – zur kaschubischen Urhütte. Am Ursprungsmythos Wdyzdze als Nukleus der Regionalbewegung haben die Gulgowskis kräftig mitgearbeitet, mit all der dazu erforderlichen Selbstinszenierung: Auf dem Museumsgelände befand sich gleich gegenüber der Museumshütte auch ihre Wohnstätte, die sie als „kaschubische Villa“ bezeichneten. Bedauerlicherweise wurden sowohl die Urhütte als auch die Villa 1932 durch ein Feuer zerstört; lediglich die Hütte wurde wiedererrichtet, und dies an jener Stelle, an der zuvor die Villa gestanden hatte. Auf Fotografien inszenierten sich die Gulgowskis einem Künstlerpaar gleich, was uns Bilder aus zeitgenössischen Künstlerkolonien in Erinnerung ruft: Gerne ließen sich die Gulgowskis mit Freunden beim Segeln oder bei einem Picknick am See in strahlend weißen Kleidern, aus kaschubischem Geschirr Kaffee trinkend, inmitten der ländlichen Idylle ablichten, was gewiss eher einer städtischen Vorstellung von Ländlichkeit entsprach als den realen Verhältnissen auf dem Lande. Unweit der rekonstruierten Urhütte haben die Gulgowskis auf einer Anhöhe, von der aus der Blick auf den Weitsee, den Jezioro Wdzydze, fällt, ihre Ruhestätte eingerichtet – wie es der Mythos will, an gerade jenem Ort, an dem sich die Eheleute der Überlieferung nach einander das erste Mal begegnet sind. Heute können wir ihr Grab auf dem Gelände des Freilichtmuseums besuchen und diesen herrlichen Ausblick genießen.
Kontakte und Engagement
Die Gulgowskis standen in engem Kontakt zur deutschen Heimatbewegung, die als ein Ausdruck zeitgenössischer Zivilisationskritik in der Umbruchszeit der Jahrhundertwende entstand. So nimmt es nicht wunder, dass sich die Aktivitäten der Eheleute in vielen Punkten mit dem Programm der Heimatbewegung deckten, etwa dem Natur- und Landschaftsschutz, der Brauchpflege, der historischen Erforschung der eigenen Lebenswelt oder der Erhaltung von Baudenkmälern und typischen Bauformen. In ihrem Rückzug in die kaschubischen Wälder lag keineswegs ein zivilisationsmüder Eskapismus, vielmehr ging es ihnen um Reform, und die Museumsgründung war nur der Anfang eines kontinuierlichen Schaffensweges: So setzten sich die Gulgowskis für die Revitalisierung des sogenannten kaschubischen Hausfleißes ein, zu dem u. a. die Stickerei, die Leinenweberei, die Töpferei und die Korbflechterei zählten. Damit verfolgten sie einerseits ideelle Absichten, wie die Kultivierung des künstlerischen Sinns auf dem Lande, und andererseits ökonomische Ziele, namentlich die Verbesserung der materiellen Situation der Landbevölkerung.
Mit künstlerischer Freiheit begann Teodora Gulgowska im Winter 1906/07 die auf kaschubischen Möbeln, Kopfhauben und Glasmalereien auffindbaren floralen Motive zu Stickerei-Mustern zu komponieren und gründete in Wdzydze eine eigene Schule. Keineswegs suchte sie die Authentizität uralter Muster heraufzubeschwören, sondern betonte, dass sie aus dem Vorrat volkskundlicher Sammlungen und Studien ihres Mannes aus dem Vollen geschöpft und stets neue Muster ersonnen habe. Mit ihren Stickereien traf sie den Geschmack ihrer städtischen Kunden und erzielte Erfolge auf internationalen Volkskunstmessen. Auch wenn die Stickereien nicht im eigentlichen Sinne der kaschubischen Volkskultur entsprangen und erst später Einzug in die bäuerlichen Häuser erhielten, trug Teodora zur Verbreitung und Etablierung eines als kaschubisch identifizierbaren Formenschatzes bei.
Indes arbeitete Izydor emsig an der Institutionalisierung einer kaschubischen Volkskunde. Gemeinsam mit dem Slawisten Friedrich Lorentz gründete er 1907 in Karthaus (Kartuzy) den Verein für kaschubische Volkskunde. Obschon der Verein eher als eine deutsche Organisation behandelt wurde – die Verkehrs- und Publikationssprache war Deutsch –, verband er viele ansässige Polen und Kaschuben, darunter Lehrer, Ärzte, Schriftsteller und Geistliche. Laut Satzung war der Verein unpolitisch und verschrieb sich dem Ziel, „alles auf die kaschubische Volkskunde im weitesten Umfange bezügliche Material zu sammeln“. Nur ein Jahr nach der Vereinsgründung erschien erstmals dessen Publikationsorgan, die Mitteilungen des Vereins für kaschubische Volkskunde, die Gulgowski und Lorentz herausgaben.
Konkurrenz und Freundschaft
Parallel und konkurrierend zur Tätigkeit der Gulgowskis entstand eine Art Gegenbewegung: die Jungkaschuben. Dieser unter dem Motto „Was kaschubisch ist, ist polnisch“ agierenden, eher politisch ausgerichteten Gruppe stand der in Berent (Kościerzyna) geborene Arzt und Schriftsteller Aleksander Majkowski (1876–1938) vor. Nachdem er zunächst selbst Mitglied des von Gulgowski gegründeten Vereins war, gab Majkowski ab 1908 die Zeitschrift Gryf (Der Greif) heraus, gründete 1912 die Gesellschaft Towarzystwo Młodokaszubów (Gesellschaft der Jungkaschuben) und 1913 das pommersch-kaschubische Museum in Zoppot. Wenngleich Majkowski auch weiterhin in den Mitteilungen und umgekehrt Gulgowski im Gryf publizierten, bestand zwischen den beiden Akteuren, ihren Organisationen und Organen ein Konkurrenzverhältnis, das sicherlich auch, aber nicht allein, auf die jeweilige nationale Positionierung zurückzuführen war. Denn bereits im Hinblick auf die Frage, welche Strategien zur Erreichung der zwar gemeinsam geteilten Ziele wie der Sammlung, Bewahrung und Revitalisierung der kaschubischen Kultur und Identität zu wählen seien, bestand kein Konsens. Die Jungkaschuben stünden, so Majkowski 1908, dem Verein für kaschubische Volkskunde wohlwollend gegenüber, doch die Aufgabe dieses Vereins bestehe allein im Sammeln, nicht aber in der Bewahrung der kaschubischen Kultur: Nur die Jungkaschuben seien imstande, das Kaschubentum wiederzubeleben. Schon ein Jahr später wird sein Ton rauer: Majkowski spottet über die unpolitische Haltung des Vereins, die er in Anbetracht der germanisierenden Bestrebungen des Deutschen Ostmarkenvereins für unangemessen hält. Ferner kritisiert er scharf dessen rein musealisierende Aktivitäten:
Für kurze Zeit nahm man an, dass wir Kaschuben schon Leichen seien, an denen man Obduktionen durchführen, ihre Teile katalogisieren, in Spiritus einlegen und gelehrte Traktate über sie schreiben könne. […] Wir aber […] verkünden gegenüber Gott und dem Volke, dass wir noch immer leben und leben wollen.
Ganz gewiss sah sich der hier angegriffene Gulgowski nicht in der Rolle eines Leichensezierers, auch wenn er die Zukunft der Kaschubei durchaus in den Händen der Wissenschaft wissen wollte und den musealen Gedanken hochhielt. Majkowski und die Jungkaschuben folgten hingegen einer politischen Vision von der Erneuerung des kaschubischen Geistes und suchten mit ihrem Aktivismus die Kaschuben selbst zu mobilisieren, ihre Regionalkultur aus eigener Kraft zu beleben.
Ebenso hatte Teodora Gulgowska eine Art Gegenspielerin, und zwar in Majkowskis Schwester Franciszka, die ihren Bruder bei seinen Aktivitäten unterstützte. Auch sie interessierte sich für Stickereien und arbeitete zunächst mit Teodoras Mustern, um schließlich 1910 ihre eigene Stickerei-Schule zu gründen. Wie ihr Bruder pflegte Franciszka einen recht direkten Umgangston, was sich einem Interview aus dem Jahre 1956 entnehmen lässt: „Wdzydze hat die kaschubischen Muster zerstört !“ Damit äußerte sie ihr Unbehagen am fortwährenden künstlerisch-freien Umgang mit den – wohlweislich von Teodora Gulgowska entwickelten – Motiven und forderte öffentlich eine Kanonisierung der Muster in Form und Farbe. Bei diesem Konflikt ging es nicht allein um Fragen der Ästhetik, sondern vordringlich um die Deutungshoheit über die kaschubische Symbolik und die daran geknüpfte Identität.
Ungeachtet öffentlich zur Schau gestellter Konflikte erlitt der unterdessen rege geführte Diskurs über die kaschubische Kultur und Identität keinen Abbruch. Bisweilen hat es sogar den Anschein, als sei der Konflikt eine Strategie, Aufmerksamkeit hervorzurufen, um damit die Wiederbelebung der Kaschubei zu befördern. Das Private indessen scheint ungetrübt vom öffentlich ausgetragenen Streit. So verband Aleksander Majkowski und die Gulgowskis eine tiefe Freundschaft: Man traf sich zu gemütlichen Kaffeerunden in Wdzydze, schrieb sich freundschaftliche Briefe und unternahm gemeinsame Segeltouren. Ein Freundschaftsbeweis war der 1938 von Aleksander Majkowski unter dem Titel Zorze Kaszubskie [Die kaschubischen Morgenröten] auf Izydor Gulgowski verfasste Nachruf, in dem er Lebenswerk und Engagement des verstorbenen Freundes in der Regionalbewegung würdigt:
Zugleich entstand in Wdzydze das kaschubische Museum, in einer einfachen Laubenhütte. Es wurde ohne Vorbilder geschaffen, das einzige Museum seiner Art. Daher machte es auch so großen Eindruck. Vor allem auf die kaschubische Jugend. […] Und es entstanden Pläne, dieses Kaschubentum zum Leben zu erwecken, das dort wie in einem Volksmärchen eingeschlafen war, in diesem Reich des Zaubers. […] Aber dort am Weitsee ist der kaschubische Geist wiedergeboren. Dort entstanden die Ideen zur Gründung des volkskundlichen Vereins in Kartuzy, zur Gesellschaft der Jungkaschuben, zur Zeitschrift „Gryf“. All diese Bestrebungen sind trotz des tobenden Hakatismus* in die Tat umgesetzt worden und verliehen der Kaschubei bis zum Ausbruch des großen Krieges ihr gegenwärtiges Antlitz. […] So brachen in Wdzydze die Morgenröten der Wiederbelebung des Kaschubentums an.
Die Erweckung kaschubischer Landschaft
Als Inspirationsquelle ihres Schaffens galt den Gulgowskis die südkaschubische Landschaft, die sie in ihren Arbeiten quasi verstoffwechselten: Izydor besang die Landschaft nicht nur in seinen Gedichten, sondern auch in seiner unter dem Pseudonym Ernst Seefried-Gulgowski im Jahre 1911 in deutscher Sprache erschienenen volkskundlichen Monografie zur Kaschubei. Diese Abhandlung mit dem sprechenden Titel Von einem unbekannten Volke in Deutschland eröffnet er mit einem Kapitel über die Landschaft, in dem der Autor, anders als in den nachfolgenden, sachlich und wissenschaftlich gehaltenen Kapiteln, ein durchweg emotional gestimmtes Landschaftsbild liefert:
Der südliche Teil der Kaschubei – die Quelle des vorliegenden Werkes – ist der unbekannteste. Und doch muß ich hier gleich hervorheben, daß er landschaftlich der eigenartigste ist. […] Es ist ein gewaltiges Stimmungsbild mit herbem, schwermütig-melancholischem Unterton. Das Auge schweift ungehindert hinaus über die weiten Heiden mit den dunklen Seen. Die Kiefernwälder am Horizont sind meist in eine feine blaue Dunsthülle getaucht. Diese ruhigen, weichen Linien verleihen der Landschaft etwas Großzügiges.
Mit diesen Worten gelingt es Izydor Gulgowski vortrefflich, nicht nur sich selbst und seine Arbeit, sondern auch seine Leser und Leserinnen in der Südkaschubei zu verorten und ihnen bildhaft die dort herrschende Stimmung vor Augen zu führen.
Während Izydor in seinen Texten von der „wunderbaren Farbenstimmung“, dem „Farbenreichtum“ und der „Farbsymphonie“ schwärmt, die sich auch in der Vorliebe der Kaschuben für bunte und leuchtende Farben spiegele, hält seine Gattin diese in ihren Gemälden und Skizzen fest. Insbesondere aber in ihren floralen Stickerei-Mustern scheint Teodora die landschaftliche Farbenstimmung und zugleich die koloristischen Präferenzen der Kaschuben eingefangen und verdichtet zu haben. Bisweilen wirkt es so, als seien diese Motive zunächst aus der kaschubischen Landschaft hervorgetreten, um fortan die kaschubische Lebenswelt zu besetzen: Auch gegenwärtig sind die kaschubischen Muster sowohl im privaten als auch öffentlichen Raum der Kaschubei omnipräsent und definieren dadurch zugleich den geografischen Radius der Kaschubei, die ansonsten keine festgelegten Grenzen besitzt.
Mit ihren materiellen wie geistigen Hervorbringungen haben sich die Eheleute Gulgowski tief in das kollektive Gedächtnis und die Landschaft der Kaschubei eingeschrieben. Ihre auf uns gekommenen Werke – die kaschubischen Muster, die wissenschaftlichen Schriften, die Urhütte, das Freilichtmuseum – sind Ausweis eines Zusammenschwingens der schöpferischen Kraft ihrer Urheber mit der schöpferischen Kraft der südkaschubischen Landschaft, die auch heute noch dazu einlädt, sich auf ihre ruhigen, weichen Linien und die sie durchherrschende subtile Schönheit einzulassen.