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Der Klang von Danzig*

Beobachtungen zur „Soundscape“ und zur Musikkultur der Stadt an der Mottlau

Von Peter Oliver Loew

Lassen sich Klangwelten der Vergangenheit rekonstruieren? Wie klangen eigentlich Städte in früheren Jahrhunderten? Und verbinden wir mit der Geschichte bestimmter Städte auch bestimmte Klänge, bestimmte Klanglandschaften (»Soundscapes«)?

Musik­kul­tu­ren sind ein Bestand­teil loka­ler Iden­ti­tä­ten, der Beson­der­hei­ten von Städ­ten. Denn die kom­ple­xe Tex­tur jeder mit­tel­eu­ro­päi­schen Stadt ist kei­nes­wegs iden­tisch, im Gegen­teil – sie ändert sich von Mal zu Mal, unmerk­lich und kaum fass­bar. Land­schaft und Licht, Rhyth­mus und Geschwin­dig­keit, Har­mo­nie und Bruch, immer wie­der auch das stein­ge­wor­den Ein­zig­ar­ti­ge – das schein­bar Glei­che ist in Wahr­heit sehr ver­schie­den. Städ­te besit­zen eine eige­ne Biographie.

Nimmt man, wie die Sozio­lo­gin Mari­an­ne Roden­stein dies vor­ge­schla­gen hat, »struk­tu­rel­le Bedin­gun­gen poli­ti­scher und öko­no­mi­scher Art«, aus denen sich »das Selbst­ver­ständ­nis, die poli­ti­sche Kul­tur, die Stadt­ge­stal­tung und die Atmo­sphä­re einer Stadt ablei­ten« las­sen, so gelangt man zu Unter­schie­den, die natur­räum­lich, städ­te­bau­lich oder aber unter Rück­griff auf die Geschich­te, also erinnerungs- und geschichts­kul­tu­rell, defi­niert wer­den kön­nen. Doch an jener »Eigen­lo­gik« von Städ­ten kann man frei­lich auch zwei­feln: Es genügt, sich bei­spiels­wei­se pom­mer­sche Pro­vinz­städ­te anzu­schau­en: Rat­haus, Back­stein­kir­che, Bahn­hof, der nahe See – alles zum Ver­wech­seln ähn­lich, in der Geschich­te wie in der Gegenwart.

Wie einzigartig sind lokale oder regionale Musikkulturen nach 1800?

Und ver­hält es sich mit der Musik und ihrer Geschich­te im Grun­de nicht ähn­lich? Ist das, was im 19. Jahr­hun­dert in Luxem­burg am Kla­vier geklim­pert wur­de, nicht ganz und gar das­sel­be wie in Trier oder Saar­brü­cken gewe­sen? Sind die Chor­kan­ta­ten, die ein gro­ßer Gesang­ver­ein an der Wen­de zum 20. Jahr­hun­dert in Stutt­gart auf­führ­te, nicht ganz und gar das­sel­be wie das, was die stol­zen San­ges­brü­der in Düs­sel­dorf zu Gehör brach­ten? Und sind die Sym­pho­nien, die ein Kapell­meis­ter aus Königs­berg in sei­nen Mor­gen­stun­den schrieb, so ganz ver­schie­den von den­je­ni­gen sei­nes Gra­zer Kollegen?

Die Ant­wort lau­tet – ja, und doch auch nein. Nein, wenn man musi­ka­li­sche Wer­ke ohne ihren sozia­len, räum­li­chen und bio­gra­phi­schen Entstehungs- und Auf­füh­rungs­kon­text betrach­tet. Und ja, wenn man ihre Ein­bin­dung in loka­le sozia­le Netz­wer­ke und räum­li­che Gege­ben­hei­ten berück­sich­tigt, vor allem auch ihre Funk­ti­on bei der »kul­tu­rel­len Nati­ons­bil­dung« und der Kon­struk­ti­on von »Natio­nal­mu­sik« im 19. Jahr­hun­dert. Am Bei­spiel Dan­zigs sei das im Fol­gen­den kurz aus­ge­führt, und zwar anhand eini­ger Bemer­kun­gen zur loka­len »Sound­scape« und zum bür­ger­li­chen Musik­le­ben der Stadt.

Lassen sich historische Klanglandschaften rekonstruieren?

Ein metho­di­sches Kon­zept zur Rekon­struk­ti­on his­to­ri­scher Klang­land­schaf­ten gibt es trotz vie­ler Bemü­hun­gen nach wie vor noch nicht. Der Kom­po­nist und Musik­for­scher Mur­ray Scha­fer hat bereits in den 1970er Jah­ren ganz all­ge­mein den Wan­del von vor­mo­der­nen, länd­li­chen zu moder­nen, urba­ni­sier­ten Sound­scapes beschrie­ben, die rasch nach­las­sen­de Bedeu­tung von Natur- und Men­schen­lau­ten in einer von Werk­zeu­gen, Maschi­nen und Ver­kehrs­mit­teln akus­tisch gepräg­ten moder­nen Gesell­schaft. In der Frü­hen Neu­zeit waren, so hat der Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Bruce R. Smith plas­tisch geschil­dert, Don­ner, Kano­nen­feu­er und Glo­cken die lau­tes­ten Umge­bungs­ge­räu­sche, deren (in Dezi­bel gemes­se­ne) Laut­stär­ke heu­te aber, in einer Welt der Strahl­trieb­wer­ke und Bohr­ma­schi­nen, all­täg­lich gewor­den ist. Die Quel­len für die Rekon­struk­ti­on his­to­ri­scher Klang­land­schaf­ten sind jedoch rar und beru­hen häu­fi­ger auf Ver­mu­tun­gen und Rück­schlüs­sen denn auf empi­risch beleg­ten Erkennt­nis­sen. So liegt es zum Bei­spiel nahe, dass sich in einer lau­ter wer­den­den Welt auch die Men­schen lau­ter unter­hal­ten muss­ten, um ver­stan­den zu wer­den, und folg­lich muss­ten sie auch lau­ter musi­zie­ren, um Gehör zu finden.

Wie sich aber urba­ne Sound­scapes kon­kret dar­ge­stellt haben, wird so lan­ge uner­grün­det blei­ben, wie kei­ne Metho­de ent­deckt wird, mit deren Hil­fe akus­ti­sche Zeit­rei­sen mög­lich wären. Denn zumin­dest theo­re­tisch denk­bar ist es, dass ver­klun­ge­ne Töne in der mole­ku­la­ren Mate­rie unse­rer Welt gespei­chert wor­den sind und dass man sie irgend­wann ent­schlüs­seln kann.

Wie klingt das historische Danzig?

Vor­stel­lun­gen von Tönen und Klän­gen haben viel­fach das Bild der Stadt Dan­zig geprägt. Dabei spiel­ten und spie­len die Glo­cken und Glo­cken­spie­le der Stadt als »Signal­tö­ne«, wie Mur­ray Scha­fer sich aus­drückt, zu den maß­geb­li­chen Ele­men­ten. Wenn man etwa lite­ra­ri­sche Quel­len des 19. und der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts betrach­tet, so erstaunt, wie häu­fig hier genau die­ses Motiv zur Spra­che kommt. Zum Bei­spiel bei Paul Enderling (1880–1938), einem aus Dan­zig stam­men­den Schrift­stel­ler, der nicht nur in meh­re­ren Roma­nen immer wie­der auf die Glo­cken zurück­kommt, son­dern der sie auch in den von ihm ver­fass­ten Text der Hei­mat­hym­ne der Frei­en Stadt Dan­zig aufnahm:

Kennt ihr die Stadt, wo deut­sche Art
Voll Kraft und Mut ihr Gut bewahrt ?
Wo deutsch die Glo­cken wer­ben,
Und deutsch ein jeder Stein ? –
Ja, sollt’ ich selig ster­ben,
In Dan­zig,
In Dan­zig müßt’ es sein !

Das Glo­cken­mo­tiv taucht in vie­len deut­schen Danzig-Gedichten vor allem des 20. Jahr­hun­derts auf, die, neben­bei gesagt, meist Gele­gen­heits­ge­dich­te waren und damit für gesell­schaft­li­che Anläs­se ver­fasst und häu­fig auch öffent­lich vor­ge­tra­gen wur­den. Die Groß­stadt Dan­zig, deren Ein­woh­ner­zahl kurz vor dem Ers­ten Welt­krieg immer­hin gut 170.000 Men­schen betrug, klingt hier nach wie vor wie eine Pro­vinz­stadt. Urba­ne Klän­ge hat es im »deut­schen Dan­zig«, wür­de man der schö­nen Lite­ra­tur zwi­schen 1800 und 1945 Glau­ben schen­ken, kaum gegeben.

Im real exis­tie­ren­den Dan­zig sind die­se Glo­cken­tö­ne jedoch weit weni­ger prä­sent (gewe­sen), als dies die Lite­ra­tur glau­ben macht. Dan­zigs Glo­cken sind also nicht so sehr akti­ver Gegen­stand der gehör­ten Sound­scape, son­dern viel­mehr einer ima­gi­nier­ten Sound­scape zuzu­rech­nen. Ihre gro­ße Bedeu­tung in der Vor­stel­lung der Schrift­stel­ler, sicher­lich aber auch der eins­ti­gen und heu­ti­gen Dan­zi­ger wird vom Anblick der Stadt mit ihren vie­len Kirch­tür­men her­vor­ge­ru­fen, oder aber von der Erin­ne­rung an die Stadt mit ihren vie­len Kirchtürmen.

Danzigs bürgerliche Musikkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Nun besteht aber eine Stadt nicht nur aus Klän­gen, son­dern auch aus Men­schen, die Klän­ge pro­du­zie­ren. Städ­te sind nicht nur Klang­räu­me, son­dern auch sozia­le Räu­me. War also der Kon­nex von Musik und Gesell­schaft in Dan­zig eben­falls ein Ele­ment loka­ler »Eigen­lo­gik«?

Das musi­ka­li­sche Leben der Stadt ent­wi­ckel­te sich nach dem Ende des alten Dan­zig, sei­ner Rats- und Kir­chen­ka­pel­len ganz zeit­ty­pisch. Es spie­gel­te sich im Stadt­thea­ter mit sei­nem am Main­stream der Zeit ori­en­tier­ten Reper­toire an Opern, Sing­spie­len, Schwän­ken, Büh­nen­mu­si­ken, Fest­ou­ver­tü­ren und dann auch Ope­ret­ten. Dazu tra­ten zahl­rei­che musi­ka­li­sche Ver­ei­ne. An ers­ter Stel­le ist der 1818 ent­stan­de­ne Dan­zi­ger Gesang­ver­ein zu nen­nen, der 1899 in »Sing­aka­de­mie« umbe­nannt wur­de. 1885/86 hat­te er 398 Mit­glie­der, davon immer­hin 189 Akti­ve. Es han­del­te sich um eine der zen­tra­len Insti­tu­tio­nen der Stadt, in denen Bür­ger­lich­keit tra­diert bzw. ein­ge­übt wur­de und dem zahl­rei­che Ver­tre­ter der Ver­wal­tungs­eli­te und bekann­ter alt­ansäs­si­ger Geschlech­ter angehörten.

Wäh­rend das Dan­zi­ger Chor­we­sen der Zeit bes­tens ent­wi­ckelt war, gab es in der Bür­ger­stadt ein deut­li­ches Defi­zit bei Sym­pho­nie­kon­zer­ten, die bis in die zwei­te Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts nur unre­gel­mä­ßig statt­fan­den. Das Orches­ter des – pri­va­ten – Stadt­thea­ters hat­te nur sel­ten Zeit für Sym­pho­ni­sches, wes­halb es immer wie­der pri­va­te Initia­ti­ven gab, um Sym­pho­nie­kon­zer­te zu orga­ni­sie­ren. Erst nach dem Ers­ten Welt­krieg, als das Thea­ter in städ­ti­schen Besitz über­ging, ent­wi­ckel­ten sich regel­mä­ßi­ge Sym­pho­nie­kon­zer­te des Stadttheaterorchesters.

Par­al­lel gab es die Tra­di­ti­on der Kon­zer­te der Mili­tär­ka­pel­len, Dan­zig war schließ­lich eine bedeu­ten­de Gar­ni­sons­stadt. Am bekann­tes­ten wur­de das Wir­ken des Mili­tär­ka­pell­meis­ters Carl Theil, der von 1881 bis zu sei­nem Tod 1909 im Schüt­zen­haus rund 900 öffent­li­che Kon­zer­te gab, soge­nann­te »volks­t­hüm­li­che Sym­pho­nie­kon­zer­te«. Das klei­ne, 1910 aus nicht mehr als 37 Musi­kern bestehen­de Orches­ter spiel­te die wich­tigs­ten Wer­ke des klassisch-romantischen Reper­toires, oft auch unter­hal­ten­de­re Stü­cke, und hat­te damit gro­ßen Ein­fluss auf die Ent­wick­lung des bür­ger­li­chen Musikgeschmacks.

Gibt es eine spezifische Danziger Musikkultur zwischen 1800 und 1945?

Ganz offen­sicht­lich ver­lief die Ent­wick­lung des musi­ka­li­schen Lebens in Dan­zig kaum in ande­ren Bah­nen als in vie­len ande­ren deutsch­spra­chi­gen Städ­ten. Es war zwar für die Bür­ger­schaft selbst iden­ti­täts­bil­dend und hat­te in der For­mie­rungs­pha­se des moder­nen Bür­ger­tums gro­ße Bedeu­tung, zeich­ne­te sich aber im Ver­gleich durch kei­ne beson­de­ren Cha­rak­te­ris­ti­ka aus. Lokal­spe­zi­fi­sche Iden­ti­tä­ten gene­rier­te es kaum, durch die Orga­ni­sa­ti­on des musi­ka­li­schen Lebens und die Betei­li­gung dar­an ging es dem Bür­ger­tum nicht nur dar­um, sich auf gesel­li­ge Wei­se zusam­men­zu­fin­den und gesell­schaft­li­che Stel­lung zu mar­kie­ren, son­dern auch dar­um, eine Rol­le in einem natio­na­len kul­tu­rel­len Raum einzunehmen.

Soundscape-prägend war die bür­ger­li­che Musik­kul­tur übri­gens nur am Ran­de, und zwar vor allem dann, wenn man berück­sich­tigt, dass sich die Ver­gan­gen­heit im Rück­blick ›nar­ra­tiv ver­dich­tet‹. In die­ser geglät­te­ten indi­vi­du­el­len bzw. kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung konn­te den Kon­zer­ten der Mili­tär­ka­pel­len oder den Lie­der­aben­den der Gesangs­ver­ei­ne eine audi­tive Bedeu­tung zukom­men, die in kei­nem Ver­hält­nis zu ihrem tat­säch­li­chen Anteil am urba­nen Klang­um­feld stand.

In die­ser pro­vin­zi­ell anmu­ten­den Musik­kul­tur ist dann doch ein Ele­ment loka­ler Eigen­lo­gik zu suchen, die geprägt war von kon­ser­va­ti­ven Ele­men­ten, von Behar­rungs­ver­mö­gen, von der unmit­tel­ba­ren Prä­senz von Geschich­te und von der ste­ten Wie­der­kehr his­to­ri­scher Moti­ve und Stilfiguren.


* Erst­ver­öf­fent­li­chung unter dem Titel: »Dan­zi­ger ›Sound­scape‹ und Musik­kul­tur zwi­schen 1800 und 1945« unter coper​ni​co​.eu CC BY 4.0:  www​.coper​ni​co​.eu/​d​e​/​t​h​e​m​e​n​b​e​i​t​r​a​e​g​e​/​d​a​n​z​i​g​e​r​-​s​o​u​n​d​s​c​a​p​e​-​u​n​d​-​m​u​s​i​k​k​u​l​t​u​r​-​z​w​i​s​c​h​e​n​-​1​8​0​0​-​u​n​d​-​1​945