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Wege zum gemeinsamen Kulturerbe

Ansätze, Möglichkeiten und Perspektiven des Denkmalschutzes

Von Alexander Kleinschrodt

Geschich­te und Gegen­wart, die UNESCO und die klei­ne Dorf­kir­che, Kon­flikt und Ver­stän­di­gung: Beim Denk­mal­schutz geht es immer um mehr als nur um den Erhalt eini­ger schö­ner alter Bau­wer­ke. Das Anlie­gen ragt in ver­schie­de­ne Lebens­be­rei­che hin­ein und berührt auch inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen wie die zwi­schen Deutsch­land und Polen. Nach­voll­zie­hen lässt sich das auch im Gebiet der his­to­ri­schen Pro­vinz Westpreußen.

Anschei­nend sind Bau­denk­mä­ler wie Katzen- oder Hun­de­wel­pen: Fast jeder hat sie ger­ne. Der moder­ne Tou­ris­mus – vor der Pan­de­mie, und sicher auch danach wie­der, ein gewal­ti­ger Wirt­schafts­zweig – besteht zu einem gro­ßem Teil aus dem Besuch von alten Städ­ten und dem Besich­ti­gen his­to­ri­scher Bau­ten. Bau­denk­mä­ler kön­nen aber auch „Zäh­ne zei­gen“, sie kön­nen es in sich haben und zum Streit­fall wer­den. Ein­fachs­tes Bei­spiel: Wer Eigen­tü­mer eines rechts­gül­tig denk­mal­ge­schütz­ten Hau­ses ist, besitzt es nie ganz allei­ne. An sei­nem Besitz besteht ein „öffent­li­ches Inter­es­se“, das den Eigen­tü­mer unter ande­rem zum Erhalt des Bau­wer­kes verpflichtet.

Das „inter­es­se­lo­se Wohl­ge­fal­len“, das Imma­nu­el Kant in der ästhe­ti­schen Betrach­tungs­wei­se am Werk sah, greift also offen­sicht­lich zu kurz, wenn es um die gesell­schaft­li­che Bedeu­tung von kul­tu­rel­lem Erbe geht. Das gilt erst recht, wenn die­se Bedeu­tung von ver­schie­de­nen Grup­pen aus­ge­han­delt wer­den muss, zwi­schen denen welt­an­schau­li­che oder auch natio­na­le Gren­zen lie­gen. Aus kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher Sicht ist des­halb eine Fra­ge zum ent­schei­den­den Prüf­stein gewor­den: Über wes­sen Erbe spre­chen wir eigentlich?

Mate­ri­el­le Relik­te der Ver­gan­gen­heit ste­hen zunächst ein­fach her­um oder lie­gen ver­bor­gen im Boden. Als Denk­mal müs­sen sie erst benannt, zum Erbe erst gemacht wer­den, indem sich jemand zum Erben erklärt. Damit aber sind – um im Bild zu blei­ben – immer auch Erb­strei­tig­kei­ten mög­lich. Erken­nen lässt sich das auch im Gebiet der his­to­ri­schen Pro­vinz West­preu­ßen mit ihrer dyna­mi­schen, aber auch kon­flikt­rei­chen deutsch-­polnischen Bezie­hungs­ge­schich­te. Wer darf heu­te von „unse­rem Dan­zig“ spre­chen, so wie es auch Der West­preu­ße in sei­nem wei­te­ren Namen tra­di­ti­ons­ge­mäß tut, wer darf fest­le­gen, was die Mari­en­burg bedeu­tet? Die Ant­wort auf sol­che Fra­gen ist kom­pli­ziert. Aber wie die ver­gan­ge­nen Jah­re gezeigt haben, kön­nen dafür im Dia­log durch­aus Lösun­gen gefun­den wer­den – Lösun­gen, die mehr ver­spre­chen als ein fried­li­ches, aber doch eher des­in­ter­es­sier­tes Nebeneinander.

Ein Blick in die Geschich­te des Denk­mal­schut­zes zeigt, dass der so inten­siv an der Ver­gan­gen­heit ori­en­tier­te „Denk­mal­kul­tus“ (Alo­is Rie­gel) selbst eine eher moder­ne Ange­le­gen­heit ist. Natür­lich wur­den auch im Mit­tel­al­ter oder der Frü­hen Neu­zeit schon bestimm­te his­to­ri­sche Bau­wer­ke als Aus­druck der Legi­ti­mi­tät eines Herr­scher­hau­ses oder als Orte reli­giö­ser Tra­di­ti­on bewahrt. Die abs­trak­te Idee eines his­to­ri­schen Wer­tes, die in der heu­ti­gen Gesetz­ge­bung zum Denk­mal­schutz mit Mühe juris­tisch greif­bar gemacht wer­den muss, spiel­te dabei aber noch kei­ne Rol­le. Sie war wie so vie­les ande­re – die hohe Kunst, der Bür­ger, die Nati­on – ein neu­es Gedan­ken­kon­strukt der soge­nann­ten Sat­tel­zeit um 1800.

Gut sehen kann man das am Bei­spiel der Mari­en­burg. Die rie­si­ge mit­tel­al­ter­li­che Burg­an­la­ge des Deut­schen Ordens war nach dem Ende der Ordens­herr­schaft von den pol­ni­schen Köni­gen wei­ter­ge­nutzt wor­den. Nach der Grün­dung der Pro­vinz West­preu­ßen im Jahr 1773 wur­de in dem Bau aber nur noch eine „Curio­si­tät“ gese­hen, denn von der Auf­klä­rung beein­fluss­te Akteu­re wie der Preu­ßen­kö­nig Fried­rich II. hat­ten zum Mit­tel­al­ter noch kei­ne Bezie­hung, es „sag­te ihnen nichts“. Die Mari­en­burg wur­de, unter erheb­li­cher Beein­träch­ti­gung der über­lie­fer­ten Archi­tek­tur, als preu­ßi­sche Kaser­ne genutzt – und sogar ihr teil­wei­ser Abriss erwo­gen. Und dann? Dann stell­ten Künst­ler wie Fried­rich Gil­ly die alte Burg als ein erha­be­nes Bau­werk dar, es gab eine Art Medi­en­kam­pa­gne für ihren Erhalt und dar­auf­hin einen durch Fried­rich Wil­helm III. erlas­se­nen Abbruch­stopp. Ab 1817 folg­te dann eine plan­mä­ßi­ge Sanierung.

Doch der his­to­ri­sche, ideel­le Wert, den man jetzt in der Mari­en­burg erkann­te, wur­de sehr bald wie­der­um zum Trä­ger poli­ti­scher Absich­ten. In die­ser Les­art wur­de der Deut­sche Orden zu einem Vor­läu­fer des preu­ßi­schen Staa­tes, die Ordens­burg zu einem Natio­nal­denk­mal, das immer schon gegen Polen gerich­tet gewe­sen sei. Chris­toph Kie­ne­mann hat die­se wei­te­re Rezep­ti­ons­ge­schich­te des Bau­werks bereits aus­führ­lich im West­preu­ßen (№ 1 / 2018) beschrie­ben. Die kon­ser­va­to­ri­sche Arbeit an dem Bau­denk­mal von den über­ge­ord­ne­ten Erzäh­lun­gen und poli­ti­schen Absich­ten zu tren­nen, erscheint nur schwer mög­lich. Die begin­nen­de Denk­mal­pfle­ge war unver­meid­li­cher Wei­se ein Kind ihrer Zeit.

Pol­ni­sche Wis­sen­schaft­le­rin­nen und Wis­sen­schaft­ler haben inzwi­schen auf­ge­ar­bei­tet, wie sich auch die spä­te­re pol­ni­sche Denk­mal­pfle­ge von der Nati­on als domi­nan­tem Deu­tungs­mus­ter lei­ten ließ. Die His­to­ri­ke­rin Mał­gorza­ta Omila­nows­ka, bis 2015 für kur­ze Zeit auch Polens Minis­te­rin für Kul­tur und natio­na­les Erbe, hat bereits vor rund zwan­zig Jah­ren dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Restau­rie­rungs­ar­bei­ten der pol­ni­schen Denk­mal­pfle­ge etwa in den 1920er Jah­ren teil­wei­se natio­nal­ro­man­tisch ein­ge­färbt waren: Sie sei­en bestrebt gewe­sen, einen Zustand her­zu­stel­len, wie er im Sin­ne einer natio­na­len Geschich­te hät­te sein sol­len, nicht wie er ein­mal gewe­sen ist. Sol­che Gefech­te um eine Deu­tungs­ho­heit, die auch in auf den ers­ten Blick harm­los erschei­nen­den Ver­öf­fent­li­chun­gen wie Denk­mal­in­ven­ta­ren und Archi­tek­tur­bild­bän­den aus­ge­tra­gen wur­den, rei­chen hin­ein bis weit in die Zeit nach dem Zwei­ten Welt­krieg. Immer wie­der ging es dar­um, zu „bewei­sen“, dass Denk­mä­ler ent­we­der urdeutsch oder ihrem Wesen nach pol­nisch seien.

Glück­li­cher­wei­se haben die gro­ßen poli­ti­schen Ver­än­de­run­gen des spä­te­ren 20. Jahr­hun­derts dabei gehol­fen, die­se ermü­den­de Ver­här­tung Schritt für Schritt auf­zu­lö­sen. Konn­te es neben die­sem Entweder-Oder nicht noch etwas Drit­tes geben? Vor sol­chen grund­sätz­li­chen Über­le­gun­gen stand in der Pra­xis eine prag­ma­ti­sche Annä­he­rung. Um den Umfang der Kriegs­ver­lus­te wie auch den erhal­te­nen Bestand an Denk­mä­lern unter ande­rem im frü­he­ren West­preu­ßen zu ermes­sen, arbei­te­ten Denk­mal­pfle­ger aus der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und der Volks­re­pu­blik Polen ab den sech­zi­ger Jah­ren punk­tu­ell zusam­men. Zur glei­chen Zeit hal­fen ver­sier­te pol­ni­sche Fach­leu­te aus Thorn beim Denk­ma­ler­halt in der DDR, zum Bei­spiel in der Alt­stadt von Quedlinburg.

Dass aus sol­chen Bezie­hun­gen eine dau­er­haf­te Koope­ra­ti­on wer­den konn­te, ist nicht zuletzt das Ver­dienst des Arbeits­krei­ses deut­scher und pol­ni­scher Kunst­his­to­ri­ker und Denk­mal­pfle­ger, der sich 1988 in Mainz grün­de­te. Er erfand eine ganz neue und doch so nahe­lie­gen­de Kate­go­rie: das „gemein­sa­me Kul­tur­er­be“. Man begann jetzt zu unter­su­chen, wie Bau­denk­mä­ler bis­lang als Pro­jek­ti­ons­flä­chen ein­an­der aus­schlie­ßen­der Erzäh­lun­gen gedient hat­ten, und begriff, dass sie – wenn man ihnen eine „dop­pel­te Iden­ti­tät“ zuge­stand, mehr als nur eine natio­na­le Zuge­hö­rig­keit – genau­so gut zu etwas Ver­bin­den­dem wer­den könnten.

Das geschah – fast könn­te man sagen: zur Über­ra­schung aller Betei­lig­ten – bereits im Zuge des Wie­der­auf­baus von Dan­zig nach 1945. Die Ver­ant­wort­li­chen in Polen hat­ten – nach­dem ­eini­ge alter­na­ti­ve Kon­zep­te ver­wor­fen wor­den waren – ent­schie­den, die stra­ßen­sei­ti­gen Fas­sa­den der Recht­stadt in vari­ie­ren­der Exakt­heit zu rekon­stru­ie­ren. Dahin­ter ent­stan­den aber bis auf weni­ge Aus­nah­men – wie dem wei­ter­hin als Muse­um genutz­ten Uphagen­haus – neu­kon­zi­pier­te Wohn­häu­ser, denn aus der vor­mals bürgerlich-deutsch gepräg­ten Recht­stadt soll­te ein polnisch-sozialistisches Arbei­ter­vier­tel wer­den. Die beein­dru­cken­den Ergeb­nis­se die­ser Bemü­hun­gen um eine Wie­der­her­stel­lung von Dan­zig stie­ßen jedoch im Wes­ten durch­aus auf Zustim­mung, in immer stär­ke­rem Maß auch bei den Orga­ni­sa­tio­nen der Hei­mat­ver­trie­be­nen. Die Kehr­sei­te die­ser Einig­keit ist: Den pol­ni­schen wie auch den deut­schen Besu­chern Dan­zigs scheint heu­te immer weni­ger klar zu sein, dass es sich um eine „neue Stadt in altem Gewand“ han­delt, wie der Dan­zi­ger Kunst­his­to­ri­ker Jacek Fried­rich es genannt hat.

Orte eines sol­chen gemein­sa­men Kul­tur­er­bes fan­den schließ­lich auch Ein­gang in die Welterbe-Liste der UNESCO, dar­un­ter im frü­he­ren West­preu­ßen die Mari­en­burg und die Alt­stadt von Thorn, aber auch die 1913 fer­tig­ge­stell­te Jahr­hun­dert­hal­le in Bres­lau. Alle die­se Stät­ten haben auch eine deut­sche Geschich­te, wer­den von der UNESCO aber heu­te selbst­ver­ständ­lich als pol­ni­sches Welt­erbe geführt. In einem Fall reicht das Ver­bin­den­de aber sogar noch wei­ter. Die Welt­erbe­stät­te Mus­kau­er Park (auf Pol­nisch Park Muża­kow­ski) liegt auf bei­den Sei­ten der Oder, wes­halb sie in der Lis­te der UNESCO mit der weiß-roten wie auch der schwarz-rot-goldenen Fah­ne mar­kiert ist. Über­haupt bie­tet das Welt­erbe, bei allen berech­tig­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um sei­ne Aus­ge­stal­tung, ein ganz ande­res Kon­zept von Kul­tur­er­be: Hier geht es, wie die UNESCO schreibt, um „ein Erbe, das der gesam­ten Mensch­heit gehört, unab­hän­gig davon, wo es sich befindet“.

Das gemein­sa­me deutsch-polnische Kul­tur­er­be ist inzwi­schen nicht mehr nur ein Gegen­stand aka­de­mi­scher Debat­ten oder von Vor­ha­ben auf höchs­ter kul­tur­po­li­ti­scher Ebe­ne. Das ver­bin­den­de Kon­zept hat sei­nen Weg in den Kul­tur­aus­tausch und in die prak­ti­sche Denk­mal­pfle­ge gefun­den. Ent­schei­den­den Anteil dar­an hat­te der 2010 ver­stor­be­ne pol­ni­sche Archi­tekt und Denk­mal­pfle­ger Andrzej Toma­szew­ski. Er gehör­te dem deutsch-­polnischen Arbeits­kreis an und war 2007 Mit­be­grün­der und ers­ter Vor­stands­vor­sit­zen­der der Deutsch-Polnischen Stif­tung Kul­tur­pfle­ge und Denk­mal­schutz. Ähn­lich wie die in Deutsch­land sehr bekann­te Deut­sche Stif­tung Denk­mal­schutz stellt sie För­der­mit­tel und Exper­ti­se bereit für die Restau­rie­rung von Bau­denk­mä­lern, die vom Ver­fall bedroht sind und für die es kei­ne aus­rei­chen­de öffent­li­che Unter­stüt­zung oder genug inter­es­sier­te pri­va­te Geld­ge­ber gibt. Eine pol­ni­sche Part­ner­stif­tung (Polsko-Niemiecka Fund­ac­ja Ochro­ny Zabyt­ków Kul­tu­ry) bil­det das not­wen­di­ge Gegenstück.

Das Beson­de­re an der Arbeit der Deutsch-Polnischen Stif­tung ist, dass sie ins­be­son­de­re jene Denk­mä­ler im Blick hat, die exem­pla­risch ver­deut­li­chen, was ein gemein­sa­mes Kul­tur­er­be ist, die Bau­ten, in denen man sozu­sa­gen die deutsch-polnische Geschich­te am Werk sehen kann. Außer­dem wirkt sie auch in die Flä­che hin­ein, sie inter­es­siert sich nicht vor­ran­gig für pres­ti­ge­träch­ti­ge Groß­pro­jek­te, son­dern för­dert vie­le klei­ne­re Sanie­rungs­vor­ha­ben an Bürger- und Guts­häu­sern oder Dorf­kir­chen. So betei­lig­te die Stif­tung sich 2018 an der Restau­rie­rung der Kir­che in dem klei­nen Ort Krief­kohl (Krzy­we Koło) bei Dan­zig. Gegen­stand der Arbei­ten, über die auch der nach­fol­gen­de Bei­trag noch wei­te­re Aus­kunft gibt, war „ein kom­plett erhal­te­ner, ein­zig­ar­ti­ger poly­chro­mer Inventar-Komplex“, soll hei­ßen: Es ging um die Frei­le­gung einer auf­wän­di­gen baro­cken Bema­lung des höl­zer­nen Gestühls in der Kir­che von Krief­kohl, die bis dahin völ­lig unter einer weiß­gel­ben Über­ma­lung ver­bor­gen war. Auf der Inter­net­sei­te der Deutsch-Polnischen Stif­tung kann man sich über die vie­len an sol­chen Maß­nah­men Betei­lig­ten und den Fort­gang der Arbei­ten infor­mie­ren – in der für die Denk­mal­pfle­ge typi­schen Detailliertheit.

An der Stel­le, wo Denk­mal­pfle­ge in den zeit­ge­nös­si­schen Städ­te­bau über­geht, gibt es in Polen aus deut­scher Sicht Unge­wöhn­li­ches zu ent­de­cken. Rekon­struk­ti­on und Wie­der­auf­bau his­to­ri­scher Bau­ten und Stadt­ker­ne sind in Deutsch­land in aller Mun­de. Das lang­sa­me Neu­ent­ste­hen der Alt­stadt von ­Elb­ing hat aus der Bun­des­re­pu­blik den­noch eher wenig Beach­tung gefun­den, obwohl man ein Pro­jekt wie das in Elb­ing ver­folg­te west­lich der Oder ver­geb­lich sucht. Von der „Neu­en Alt­stadt“ in Frank­furt am Main bei­spiels­wei­se unter­schei­det es sich deutlich.

Unter der Lei­tung der Denk­mal­pfle­ge­rin Maria Lubocka-Hoffmann wur­de die im Zwei­ten Welt­krieg weit­ge­hend zer­stör­te Elb­in­ger Alt­stadt seit den acht­zi­ger Jah­ren auf den erhal­te­nen und archäo­lo­gisch gesi­cher­ten mit­tel­al­ter­li­chen Kel­lern Haus für Haus wie­der auf­ge­baut. Die ein­zel­nen Häu­ser sind in Elb­ing bis auf frü­he Aus­nah­men fast nir­gends Kopien his­to­ri­scher Archi­tek­tur. Ihre Fas­sa­den ori­en­tie­ren sich im Umriss an den Vor­gän­ger­bau­ten, deu­ten his­to­ri­sche Orna­ment­for­men an und sind den­noch auf Anhieb als zeit­ge­nös­sisch zu erken­nen. Das Ergeb­nis ist eine eigen­stän­di­ge Vari­an­te der soge­nann­ten post­mo­der­nen Archi­tek­tur. Die Alt­stadt von Elb­ing ist dadurch in gewis­ser Wei­se wie­der gegen­wär­tig, ohne dass der Anschein erweckt wird, sie sei nie­mals weg gewe­sen. Lubocka-Hoffmann hat die­ses Vor­ge­hen als „Retro­ver­si­on“ bezeich­net. Eine geschmäck­le­ri­sche Archi­tek­tur­kri­tik aus Deutsch­land hat den Ein­zel­häu­sern gele­gent­lich eine nicht über­zeu­gen­de gestal­te­ri­sche Qua­li­tät attes­tiert. Viel wich­ti­ger aber erscheint, dass Elb­ing mit der Retro­ver­si­on ein trag­fä­hi­ges städ­te­bau­li­ches Kon­zept ent­wi­ckelt hat. Hier sei es tat­säch­lich gelun­gen, „wider­sprüch­li­che Wün­sche nach his­to­ri­scher Kon­ti­nui­tät wie auch krea­ti­ver Inno­va­ti­on zu ver­söh­nen“ und die deut­sche Geschich­te der Stadt für die heu­ti­gen pol­ni­schen Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner zu öff­nen, meint der in Glas­gow täti­ge Archi­tek­tur­his­to­ri­ker Flo­ri­an Urban. Bemer­kens­wer­ter­wei­se war die­ses neu-alte Städ­te­bau­pro­jekt schon in der Spät­pha­se des Sozia­lis­mus auch von Inves­ti­tio­nen aus der Bür­ger­schaft getragen.

Trotz sol­cher inter­es­san­ten Ent­wick­lun­gen steht das gemein­sa­me deutsch-polnische Kul­tur­er­be in der deut­schen Wahr­neh­mung eher am Ran­de. Ers­te Anzei­chen für das Ent­ste­hen einer trans­na­tio­na­len Öffent­lich­keit gibt es aber bereits. Die Basis dafür könn­ten digi­ta­le Platt­for­men wie Insta­gram bil­den, das bei jün­ge­ren Men­schen in Polen wie auch in Deutsch­land sehr ver­brei­tet ist. Daher ver­su­chen inzwi­schen auch Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen wie Muse­en, dort ein Publi­kum anzu­spre­chen. Das tut zum Bei­spiel auch die Euro­päi­sche Rou­te der Back­stein­go­tik, ein tou­ris­ti­sches Netz­werk im Ost­see­raum, das Städ­te, Regio­nen und Bau­ten in Däne­mark, Deutsch­land und Polen umfasst. Dank ihm gewin­nen auch Kul­tur­er­be­stät­ten an Sicht­bar­keit, die in den Nach­bar­län­dern bis­her weni­ger bekannt sind. Ros­kil­de nahe bei Kopen­ha­gen steht hier neben Pase­walk in Mecklenburg-Vorpommern und Kulm im his­to­ri­schen Westpreußen.

Auf dem Instagram-Kanal der Backsteingotik-Route gibt es sehr anspre­chen­de Bil­der von mit­tel­al­ter­li­chen Kir­chen, Stadt­be­fes­ti­gun­gen und Wohn­häu­sern zu sehen, dazu kom­men Infor­ma­tio­nen zu aktu­el­len Ange­bo­ten, auch wenn es dort zur Zeit natür­lich nur wenig zu berich­ten gibt. Der Name des Netz­wer­kes erscheint auf Dänisch, Deutsch und Pol­nisch, ansons­ten erfolgt die Kom­mu­ni­ka­ti­on aber zum größ­ten Teil auf Eng­lisch. Ange­sichts der jun­gen Ziel­grup­pe auf Insta­gram ist das wohl die ein­fachs­te Lösung. Die digi­ta­le Rei­se­rou­te könn­te so einer der Wege sein, die zu einem gemein­sa­men Kul­tur­er­be führen.

Auf eine merk­wür­di­ge Wei­se hat das Zusam­men­tref­fen des ver­gan­gen­heits­ge­sät­tig­ten Kul­tur­er­bes mit den hyper­ak­ti­ven sozia­len Medi­en sogar einen tie­fe­ren Sinn, denn es scheint, als hät­ten sie eine Gemein­sam­keit: Bei­des kann benutzt wer­den, um Ab- und Aus­gren­zung zu ver­stär­ken. Wenn die Vor­aus­set­zun­gen stim­men, dann bie­ten sich aber ein­zig­ar­ti­ge Chan­cen, um ein­an­der näherzukommen.