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Versöhnung durch Wahrheit

Andreas Kalckhoff zeigt anhand des Postelberg-Massakers, wie Aufarbeitung von Vertreibungsverbrechen und ein gemeinsames »Entlügen« der Geschichte gelingen können.

Die Forderung, gemeinsam die Geschichte zu »entlügen«, ist seit Jahrzehnten prägend für zivil­ge­sell­schaft­liche Dialoge zwischen Deutschland und seinen ostmit­tel­eu­ro­päi­schen Nachbarn. Dies gilt, seitdem das bedeu­tungs­gleiche Schlagwort »odkła­manie« in der Opposi­ti­ons­be­wegung während der Zeiten der Volksrepu­blik aufkam, insbe­sondere für Polen. Aufgrund der (geschichts-)politischen Rahmen­be­din­gungen östlich der Oder gelingt dort das »Entlügen« der eigenen Geschichte mit Blick auf die Ereig­nisse im Zusam­menhang mit Flucht und Vertreibung der Deutschen am und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den vergan­genen Jahren jedoch nicht in gleicher Weise, wie dies in Tsche­chien zu beobachten ist. Promi­nen­testes Beispiel hierfür ist der – auch über einschlägig inter­es­sierte Kreise hinaus bekannte – Gedenk­marsch, mit dem die Stadt Brünn seit 2015 jährlich des Brünner Todes­mar­sches gedenkt. Ein weiteres Zeugnis dieser Entwick­lungen ist das im vergan­genen Jahr erschienene Buch Was geschah in Saaz und Postelberg im Juni 1945? Geheime Dokumente und Zeitzeu­gen­be­richte enthüllen das Unfassbare von Andreas Kalckhoff.

Es befasst sich mit dem Massaker, das in den ersten Juni-Tagen des Jahres 1945 im nordböh­mi­schen Postelberg an 763 deutschen Zivilisten – Männern, Frauen und Kindern – verübt wurde. Die Opfer stammten haupt­sächlich aus Saaz und waren im Rahmen der Vertrei­bungs­maß­nahmen nach Postelberg verschleppt worden. Zunächst zwei Jahre später von einer tsche­chi­schen Parla­ments­kom­mission unter­sucht, wurde das Massaker in den Jahren der kommu­nis­ti­schen Gewalt­herr­schaft tabui­siert. Erst mehrere Jahre nach der Demokra­ti­sierung Tsche­chiens wurden die – juris­tisch nicht zur Rechen­schaft gezogenen und inzwi­schen verstor­benen – Verant­wort­lichen ermittelt. Sowohl in der deutschen als auch in der tsche­chi­schen Medien­öf­fent­lichkeit fand das histo­rische Verbrechen gleichwohl große Aufmerk­samkeit. Dies dokumen­tiert das Buch ebenso wie Quellen­texte, Berichte von Zeitzeugen und umfang­reiches Bildmaterial.

Mit dem nun erschie­nenen Band werden einer breiten Öffent­lichkeit die Forschungs­er­geb­nisse des Autors Andreas Kalckhoff zugänglich gemacht, die 2013 unter dem Titel Versöhnung und Wahrheit. Der »Fall Postelberg« und seine Bewäl­tigung 1945–2010 durch den Heimat­kreis Saaz heraus­ge­geben worden waren. Die nun erschienene neube­ar­beitete Dokumen­tation bietet die Texte sowohl deutsch­sprachig als auch in einem von Otokar Löbl und Petr Šimáček übersetzten und redigierten tsche­chi­schen Teil (bzw. im tsche­chi­schen Original). Durch diese strikte Zweispra­chigkeit erhält das Anliegen der histo­ri­schen Wahrhaf­tigkeit eine besondere Überzeu­gungs­kraft, da das Buch so in die erinne­rungs­kul­tu­rellen Diskurse sowohl des deutschen als auch des tsche­chi­schen Sprach­raums hinein­zu­wirken und dort Diskus­sionen anzuregen vermag. Faszi­nierend an dem Buch ist das von ihm eröffnete und fruchtbar gemachte Spannungsfeld, das dadurch entsteht, dass dreierlei mitein­ander ins Gespräch gebracht wird: staat­liche tsche­chische Quellen, Berichte Überle­bender sowie Dokumente der Aufar­beitung und Verstän­digung in den vergan­genen Jahrzehnten.

In seinem Vorwort arbeitet der tsche­chische Publizist Jiří Padevět die Tragweite der histo­ri­schen Ereig­nisse sowie die inneren Wider­sprüche heraus, die beim Umgang mit ihnen in den folgenden Jahren deutlich geworden sind: 

In Postelberg ging es weder um den Ausbruch des Volks­zorns noch um Hinrich­tungen, die ein Gericht angeordnet hatte, sondern um Morde, ausge­führt durch Armee­an­ge­hörige. Um Morde, zu denen Offiziere Befehle erteilen mussten. Es ist paradox, dass derselbe Staat, dem diese Offiziere unter­standen, die Umstände des Massakers zwei Jahre später zu unter­suchen begann und die sterb­lichen Überreste der Opfer exhumieren ließ. Bemühungen um [eine] Erklärung für das Geschehene, das wir in der heutigen Termi­no­logie unzwei­felhaft als ethnische Säuberung bezeichnen würden, wurden im Februar 1948 mit der Macht­über­nahme durch die Kommu­nisten beendet. Über den Toten und den Mördern aus Postelberg schlossen sich die Wasser des Vergessens und wurden vom allum­fas­senden kommu­nis­ti­schen Schlamm des Schweigens aufgesaugt.

Der erste und umfang­reichste Teil – »›Tatsäch­liche Gräuel­taten‹: Die Massen­exe­ku­tionen nach Kriegsende im Mai / Juni 1945« – stellt sechs Quellen­texte aus dem Kontext der innertsche­chi­schen Ermitt­lungen zu den Vorkomm­nissen in Saaz und Postelberg ins Zentrum. Deren Mehrheit steht im Zusam­menhang mit der parla­men­ta­ri­schen Unter­su­chung im Juli des Jahres 1947. Das früheste dieser Dokumente ist ein Bericht zum polizei­lichen wie nachrich­ten­dienst­lichen Kennt­nis­stand über die Ereig­nisse für Innen­mi­nister Václav Nosek vom 2. Juli 1947. Auf den 28. Juli datiert ist wiederum ein »Vorbe­richt zum Fall Postelberg und Saaz«, welcher der parla­men­ta­ri­schen Unter­su­chungs­kom­mission bei ihren am 30. und 31. des Monats durch­ge­führten Verhören vorlag. Dabei ist der Begriff »parla­men­ta­risch« irreführend, insofern sich die Kommission »aus fünf Abgeord­neten aus den Fraktionen der Volks­front­re­gierung, sechs Beratern aus den Minis­terien und von der Volks­po­lizei sowie drei Geheim­dienst­leuten zusam­men­setzte«. Die unter Vorsitz von Dr. Bohuslav Bunža durch­ge­führten Verhöre sind in der Langfassung des steno­gra­phi­schen Proto­kolls dokumen­tiert. In Auszügen eröffnet das Buch – als viertes Dokument – Einblicke in das auf dessen Grundlage erstellte »Aussa­ge­pro­tokoll der Parla­ments­kom­mission«, das die einzelnen Aussagen zusammenfasst.

Neben den die parla­men­ta­rische Unter­su­chung dokumen­tie­renden Texten steht zum einen ein am 13. August desselben Jahres an das Innen­mi­nis­terium ergan­gener Unter­su­chungs­be­richt zu den »Nachre­vo­lu­ti­ons­er­eig­nissen in Postelberg«. Zum anderen bietet die Dokumen­tation das Protokoll eines vier Jahre später – am 2. Mai 1951 – geführten Verhörs mit Vasil Kiš, das die Rolle von General Bedřich Reicin und Leutnant Jan Čubka beim Massaker von Postel­berg beleuchtete: Letzterer – so der Zeuge – habe die Massen­hin­rich­tungen befohlen und selbst durch­ge­führt, Ersterer habe von ihnen Kenntnis gehabt. Beigegeben sind den Dokumenten einfüh­rende Aufsätze von Peter Klepsch und Herbert Voitl, von dem überdies zusätz­liche kommen­tie­rende und kontex­tua­li­sie­rende Texte stammen. Mit den Texten dieser beiden Autoren, die der Ermordung in Postelberg entgingen, dokumen­tiert Kalckhoff zugleich die Aufar­beitung des Massakers seitens der organi­sierten deutschen Heimat­ver­trie­benen, was das von ihm aufge­spannte Panorama um eine weitere Facette ergänzt.

Umso mehr gilt dies für das Mittel- und (so wird man zurecht sagen dürfen) Herzstück der Dokumen­tation, kommen hier doch die Opfer – Überle­bende des Massakers – zu Wort: Neben acht Saazern sind dies vier weitere Deutsch­böhmen aus dem Kreis Aussig. Während einer der Berichte – von Ottokar Kremen – nur fünf Jahre nach dem Massaker entstand, wurden die elf weiteren Berichte erst in den 2000er Jahren, also mit einem größeren zeitlichen Abstand zu den Ereig­nissen aufge­zeichnet bzw. verschriftet. Ergänzt werden die zwölf namentlich autori­sierten Berichte um einen anonymen Text, der die Ermordung des Saazer Kapuzi­ner­paters Maximilian Hilbert am 7. Juni 1945 thema­ti­siert. In seiner Vorbe­merkung betont Kalckhoff den gewan­delten Stellenwert, der den Zeitzeu­gen­be­richten –  dem zuvor einzigen und überdies aufgrund seines emotio­nalen und teils politisch aufge­la­denen Charakters misstrauisch betrach­teten Zeugnis der Ereig­nisse – durch die Auffindung und Publi­zierung der im ersten Teil dokumen­tierten Akten zukommt: »Sie sind nicht mehr umstrittene histo­rische Primär­quellen, denen man mit gemischten Gefühlen begegnet, weil ihre Behaup­tungen unbewiesen sind, sondern bildhafte und emotional bewegende Lebens­zeug­nisse, die nüchterne Akten farbig illus­trieren – wenn auch auf schreck­liche Weise.« In ganz anderer, aber ebenso schreck­licher Weise leistet dies auch die – den zweiten Teil abschlie­ßende – Liste der Todes­opfer im Saazer Land nach Ende des Zweiten Weltkrieges.

Hierbei bleibt Kalckhoff jedoch nicht stehen. Vielmehr stellt er, wie eingangs bereits erwähnt, den ersten beiden einen dritten Hauptteil zur Seite: »›Diese Ernied­rigung des Menschen‹: Scham, Gedenken und Versöhnung«. Hier kommt der Prozess des »Entlügens« und der Versöhnung durch Wahrheit anhand der Jahre 1995 bis 2010 selbst explizit in den Blick. Dieser begann im Oktober 1995 mit der Veröf­fent­li­chung eines zweitei­ligen umfang­reichen Beitrags zum Massaker in der Zeitung Svoboný Hlas und führte über vielfältige deutsch-tschechische Begeg­nungen – und immer wieder auch gegen Wider­stände – bis zur Enthüllung einer Gedenk­tafel für die Opfer am 6. Juni 2010 in Postelberg. Man mag es bedauern, dass die Neuauflage der Dokumen­tation von Kalckhoff nicht genutzt wurde, um den letzten Hauptteil um Zeugnisse aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhun­derts zu ergänzen. Diese Lücke zur Gegenwart hin wird jedoch zumindest teilweise durch eine als »Nachlese« in das Buch aufge­nommene Reportage des tsche­chi­schen Histo­rikers Jan Novotný aus dem Jahre 2017 geschlossen, der anlässlich des politisch fragwür­digen Abrisses der Postel­berger Reiter­ka­serne, des Tatorts des Massakers, einen durchaus kriti­schen Blick auf den gegen­wär­tigen Stand des Postelberg-Gedenkens wirft: »An dem Ort, an dem Hunderte von Sudeten­deut­schen vor ihrem Tod konzen­triert wurden und an dem sich nach Aussagen einiger Zeugen noch immer die Gräber der Opfer befinden, werden Famili­en­häuser mit Gärten stehen.« Angesichts derar­tiger Entwick­lungen zeigt sich die besondere Bedeutung von aktiven Prozessen des »Entlügens« der Geschichte und einer daran anknüp­fenden, auf Versöhnung zielenden Erinne­rungs­arbeit. Dokumen­ta­tionen wie diejenige von Andreas Kalckhoff können hierzu einen wesent­lichen Beitrag leisten und Anregung geben – nicht zuletzt auch für entspre­chende Initia­tiven in Polen.

Tilman Asmus Fischer