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Schmuggel in der Freien Stadt Danzig –

Ein ausgeblendetes Kapitel der Alltagsgeschichte

Von Adrian Mitter

Im Sommer 1930 verhan­delte die Danziger Straf­kammer wegen »gewerbs­mä­ßigen Banden­schmuggels« gegen neun Angeklagte. Die acht Männer und eine Frau hatten zu nächt­licher Stunde auf Fischer­booten Waren über den Fluss Nogat nach Danzig einge­schmuggelt. Nachdem die Stadt und ein Teil ihres Umlandes zur Freien Stadt erklärt worden waren, verlief entlang des Gewässers eine inter­na­tionale Grenze zwischen dem Deutschen Reich und der Freien Stadt Danzig. Auch westlich und südlich der Stadt dauerte es nicht sonderlich lange, bis die Danziger auf Stein­säulen trafen, die die Grenze zum polni­schen Staats­gebiet markierten. 

Aufgrund der erdrü­ckenden Beweislast stand die Schuld der Angeklagten im Schmug­gel­prozess schnell fest. Der Kopf der Bande und seine rechte Hand wurden zu satten Geldstrafen (36.000 bzw. 18.000 Gulden) sowie Haftstrafen verur­teilt. Doch was war eigentlich des Nachts auf die Fischer­boote verladen und nach Danzig gebracht worden? Es waren weder Drogen, Waffen, Falschgeld noch Zigaretten oder sonstige Güter, die heutzutage üblicher­weise mit Schmuggel in Verbindung gebracht werden. Die Bande schmug­gelte Spielzeug, das nicht unter der Hand, sondern in lokalen Geschäften verkauft wurde. Aufgrund der Zollbe­stim­mungen der Freien Stadt Danzig fielen bei der Einfuhr von Spiel­waren horrende Zölle an. Für einen Metall­bau­kasten beispiels­weise betrug der Zoll allein 85 Danziger Gulden. Selbst die Vorar­beiter der Danziger Werft konnten sich bei einem Stundenlohn von unter einem Gulden solch ein Geschenk für ihre Kleinen vermutlich nicht leisten. Mit Murmeln, Blech­schiffchen, Mundhar­mo­nikas und anderen Favoriten der Danziger Kinder sah es bei den Zöllen nicht anders aus. 

Die Danziger Schmugglergesellschaft 

In der Freien Stadt Danzig war Schmuggel allge­gen­wärtig; er wurde, beispiels­weise durch den Kauf von geschmug­gelten Waren, von weiten Teilen der Bevöl­kerung toleriert, wenn nicht selbst ausgeübt. Der Ethnologe Matthias Wagner bezeichnet eine solche Gemein­schaft treffend als »Schmugg­ler­ge­sell­schaft«. Der Danziger Journalist Friedrich von Wilpert stellte sogar fest, dass die Danziger Schmuggel als eine Art »Sport« betrach­teten: »Manche betrieben diesen ›Sport‹ aus reiner Leiden­schaft, und niemand kam auch nur auf den Gedanken, er begehe eine straf­würdige Tat. Wer einmal gefasst wurde, der schimpfte auf die Polen, zahlte die Strafe und beschloss, nächstens noch vorsich­tiger ans Werk zu gehen.« 

Man könnte argumen­tieren, dass es Schmuggel überall gibt, wo Länder­grenzen verlaufen. Von Wilpert präzi­sierte in seinen Memoiren aller­dings des Weiteren: »Infolge der kompli­zierten Verkehrs­ver­hält­nisse im Verein mit den prohi­bi­tiven polni­schen Zollge­setzen wurden die meisten Danziger syste­ma­tisch zu Schmugglern erzogen.« Die Mehrheit der Danziger Einwohner wurde aber nach dem Ersten Weltkrieg nicht allein zu Schmugglern, nur weil Danzig nach der Unter­zeichnung des Versailler Vertrages zur semiau­to­nomen Freien Stadt erklärt worden und nun von Grenzen umgeben war. Es war zunächst vor allem die Not der Nachkriegs­jahre, die dafür sorgte, dass der Schmuggel blühte. Als Stadt­staat war Danzig nicht in der Lage, sich selbst mit Lebens­mitteln und Brenn­stoffen zu versorgen; so trafen die Hunger­jahre die Stadt mit äußerster Härte, zumal auch in Deutschland und Polen Nahrungs­mit­tel­eng­pässe auftraten. Auch deshalb hatten weder der polnische noch der deutsche Staat ein ausge­prägtes Interesse daran, Danzig zu beliefern, und die lokale politische Lage überfor­derte den Völkerbund und seine Vertreter heillos. 

Die Danziger blieben somit weitest­gehend auf sich allein gestellt. Der einzige Weg, um an Nahrungs­mittel zu kommen, war für die Einwohner Danzigs oftmals eine Reise ins deutsche und polnische Umland. Sogenannte Hamster­fahrten, bei denen die Stadt­be­wohner aufs Land fuhren, um sich bei den Bauern mit Lebens­mitteln einzu­decken, waren im Danziger Gebiet deshalb in der Regel mit illegalem Grenz­über­tritt und Schmuggel verbunden. 

Überlebensstrategie oder Profitgier?

Angesichts der Lebens­mit­tel­knappheit in Polen griffen die Soldaten, die nun die Grenzen nach Danzig bewachten, hart durch. Selbst in der lokalen polnisch­spra­chigen Gazeta Gdańska gab es deshalb gegen dieses Konfis­zieren von Lebens­mitteln an der Grenze wütende Proteste. Überdies kontrol­lierte auch die Danziger Bürgerwehr innerhalb der Stadt­grenzen. Preise für Lebens­mittel erreichten ungeahnte Höhen, denn auch die in der Stadt statio­nierten engli­schen und franzö­si­schen Truppen mussten versorgt werden und konnten mit ihren Devisen fast jeden Preis zahlen. Ähnliche Vorteile hatten die Auswan­derer, die im Lager Troyl, oftmals mit Geld ihrer nordame­ri­ka­ni­schen Verwandten ausge­stattet, auf die Fahrt über den Atlantik warteten. 

Während der Großteil der Bevöl­kerung hungerte, blieben die Danziger Restau­rants bestens versorgt, und angesichts des dortigen Angebots zweifelte der spätere Völker­bund­kom­missar Reginald Tower anfänglich an der Lebens­mit­tel­knappheit. Die Danziger Bevöl­kerung hingegen konnte bestimmte Lebens­mittel wie Fleisch und Butter nur auf Schwarz­märkten erstehen, wo die Bauern die knappen Waren jedoch zu Preisen anboten, die sich einfache Arbeiter nicht leisten konnten.

Die explo­die­renden Preise machten nicht nur die lokalen Landwirte reich, sondern führten auch dazu, dass Lebens­mit­tel­schmuggel, der weit über den Eigen­bedarf hinausging, für organi­sierte Banden aus dem deutschen und polni­schen Umland zu einem einträg­lichen Geschäft wurde. Tödliche Schie­ße­reien zwischen Schmugglern und der polni­schen Grenz­be­wa­chung waren in den Nachkriegs­jahren nicht selten, und Kugeln trafen auch manches Danziger Fischerboot, das sich in polnische Hoheits­ge­wässer verirrte. In großem Stil wurden außerdem Hilfs­güter verschoben, die eigentlich für die notlei­dende polnische Bevöl­kerung bestimmt waren und aus Übersee im Danziger Hafen eintrafen. Statt nach Polen wurden die Wagons in andere Länder umgeleitet, wo man hohe Preise für Massen­güter wie Getreide und Kohlen zahlte.

Als der Dollar stieg 

Ein weiterer Faktor, der dem Schmuggel in Danzig zusätz­lichen Auftrieb gab, war die einset­zende Hyper­in­flation. Im Stadt­staat blieb bis 1923 die Papiermark der Weimarer Republik die offizielle Währung. Der Wertverlust der Mark verteuerte nicht nur die Lebens­mittel und Brenn­stoffe, sondern machte die illegale Einfuhr von Devisen und Edelme­tallen zu einem lukra­tiven Geschäft. Durch die Inflation verlor nicht nur die deutsche, sondern auch die polnische Mark gegenüber anderen Währungen rasant an Wert. In Polen wurde deshalb die Währungs­ausfuhr verboten, um den Kurs zu stabi­li­sieren. Die Bewohner versuchten trotzdem, sowohl polnische als auch deutsche Mark, die in den ehema­ligen preußi­schen Gebieten noch vorhanden waren, nach Danzig einzu­schmuggeln, um sie gegen Devisen oder Edelme­talle einzutauschen.

Die Danziger Börse im Artushof war in der Nachkriegszeit der einzige Ort außerhalb Polens, an dem die polnische Währung gehandelt werden konnte, und ab 1922 waren dort auch ameri­ka­nische Dollar und britische Pfund zu haben. Neben der offizi­ellen Börse im Artushof entstand auf der Langgasse eine illegale Börse, die sogenannte »Schwarze Börse«, und Wechsel­stuben schossen wie Pilze aus dem Boden. Zur Hochzeit der Inflation war Danzig ein inter­na­tio­naler Finanz­platz, und Devisen­händler strömten aus Polen und dem Deutschen Reich in den Stadt­staat – sehr zum Missfallen der polni­schen Regierung, die im Sommer 1923 sogar alle Telefon­ver­bin­dungen zwischen Polen und der Freien Stadt für einige Tage unter­brach, um gegen die Speku­la­tionen vorzu­gehen. Die Ära des Devisen- und Nahrungs­mit­tel­schmuggels endete schließlich im Herbst 1923 mit der Einführung einer eigenen Danziger Währung, des Gulden, der an das britische Pfund gekoppelt war.

Der Danziger Schrift­steller Felix Scherret hat diese turbu­lente Infla­ti­onszeit im Roman Der Dollar steigt verewigt. Auch der Pro­tagonist dieses Buches, Alfred Arp, speku­liert an der Börse und verdient sich einen Teil seines Geldes als Schmuggler. Er bringt Kokain aus Polen im Tank seines Autos versteckt nach Danzig. Kokain, das in den Zwanzigern noch auf Rezept in Apotheken erhältlich war, spielte unter den Schmug­gel­gütern der Zwischen­kriegszeit freilich nur eine sehr unter­ge­ordnete Rolle.

Spiritus für Skandinavien

Es war das Verbot einer anderen Droge, das Danzig in den Zwanzigern zur Drehscheibe für inter­na­tio­nalen Schmuggel machte – die Alkohol­pro­hi­bition in den skandi­na­vi­schen Ländern. Noch vor den Verei­nigten Staaten führte Finnland 1919 ein totales Alkohol­verbot ein, Schweden erschwerte durch das Bratt-System den Kauf für alle Einwohner und verbot den Konsum für bestimmte Perso­nen­gruppen komplett, während Norwegen zeitweise den Verkauf von Getränken mit mehr als 20 Prozent Alkohol­gehalt unter­sagte. Getrunken wurde natürlich trotzdem, vor allem geschmug­gelter Alkohol aus Mitteleuropa. 

Für die Schmuggler war Danzig sehr günstig gelegen zwischen den Absatz­märkten im Norden und den großen Herstel­ler­ländern im Süden und Westen. Auch wenn die eine oder andere Flasche »Danziger Goldwasser« den Weg nach Finnland fand, war es vor allem Spiritus, der geschmuggelt wurde. Dessen Vorteile lagen auf der Hand: Durch den hohen Alkohol­gehalt von über 95 Prozent nahm Spiritus wenig Platz auf den Booten ein und konnte teuer verkauft werden. Die nordi­schen Verbraucher verdünnten den Spiritus und mischten sich dann das Getränk ihrer Wahl zurecht. ­Außerdem war Spiritus nach dem Ersten Weltkrieg sehr günstig von den natio­nalen Alkohol­mo­no­polen zu bekommen, denn fast jedes Land hatte einen Produk­ti­ons­über­schuss, so auch Polen, Deutschland und die Tsche­cho­slo­wakei. Die lokalen Danziger Sprit­werke in Neufahr­wasser produ­zierten bei weitem nicht so günstig. 

Nur während der Anfangs­jahre um 1920 fand der Schmuggel in kleinerem Format direkt mit schnellen Booten von Küste zu Küste statt. Der Danziger Hafen bot den Vorteil einer Freizone, die aus Lager­flächen bestand, die nicht Teil des Danziger Zollge­biets waren. Durch die Freizone sollte vor allem der Transit­handel über Danzig erleichtert werden, indem man den Kaufleuten ermög­lichte, Waren ohne Zollab­fer­tigung einzu­führen, umzupacken und weiter ins Ausland zu verschiffen. Für die normale Wirtschaft hatte die Freizone nur unter­ge­ordnete Bedeutung. Die Schmuggler hingegen vermochten immens davon zu profi­tieren, denn der in Kessel­wagen über den Schie­nenweg eintref­fende Spiritus konnte in Danzig in Blech­ka­nister umgefüllt und verschifft werden. Dieses Prozedere war nach der lokalen Gesetz­gebung legal, und Firmen wie die Holm Export und Handels­ge­sell­schaft mit Sitz am Kohlen­markt entstanden, die sich nur mit dem Alkohol­export zu Schmug­gel­zwecken befassten. 

Die Holm Export ließ den Spiritus auf große Schiffe verladen, und die Schiffs­makler gaben in den Registern sogar offen die Zielhäfen in den Prohi­bi­ti­ons­ländern an. Statt diese anzusteuern, blieben die Schiffe aber außerhalb der Hoheits­ge­wässer für Wochen und Monate wie eine Art schwim­mender Verkaufs­stand liegen. Im Jahr 1924 dokumen­tierte ein lokaler Alkohol­gegner, dass ein Spiri­tus­schiff ostwärts von Kiel nach Danzig segelte und später, ohne seine Ladung gelöscht zu haben, gar weiter westwärts nach Hamburg fuhr. Bei solchen Fahrten war der Zweck, unterwegs Spiritus zu verkaufen, offen­sichtlich. Im selben Jahr verzeich­neten die Register des Danziger Hafens Schiffe, die mit Alkohol beladen aus Finnland nach Danzig fuhren. Das bedeutete freilich nicht, dass Alkohol aus einem Prohi­bi­ti­onsland impor­tiert wurde. Vielmehr brachten diese Schiffe lediglich unver­kauften Spiritus zurück.

Aufgrund der unter­schied­lichen Liefe­ranten, Abnehmer und betei­ligten Personen waren die Schmug­gel­netz­werke inter­na­tional. Sowohl Danziger als auch polnische, deutsche und andere Natio­na­li­täten organi­sierten und stellten die Besat­zungen der Schiffe. Über die Hinter­männer und die Finan­zierung des Schmuggels ist wenig bekannt. Wenn diese einmal ans Licht kommen, dann wirken sie im Rückblick überra­schend, denn sie legen häufig nahe, dass auch ehrbar anmutende Danziger Bürger invol­viert waren. Dies lässt sich am Beispiel eines Schmie­de­meisters ablesen, der 1930 heimlich 4.400 Gulden aus der Kasse der Schmie­deinnung entwendet hatte, um sie in ein Schmug­gel­schiff zu inves­tieren. Nachdem das Schiff jedoch von Grenz­be­amten aufge­spürt und konfis­ziert worden war, konnte der Schmied das Geld nicht mehr ersetzen: Der Diebstahl und dessen Hinter­gründe flogen auf.

Torpedos, Schnellboote und fremde Flaggen

Vor Finnland waren es vor allem lokale estnische und finnische Schmuggler, die den Spiritus von den Schiffen kauften und sich mit dem finni­schen Grenz­schutz ein Versteck­spiel lieferten. Dazu wurden auf beiden Seiten vielerlei Tricks angewandt. Schon auf den Mutter­schiffen wurden die Spiri­tus­ka­nister beispiels­weise in einer Reihe anein­ander gebunden, um sie wie eine Art Torpedo unter dem Wasser­spiegel – und für die Zöllner aus größerer Distanz mithin unsichtbar – hinter dem Boot herzu­ziehen, anstatt die Kanister an Deck verladen zu müssen. Bei dieser Technik bestand zudem noch eine Chance, die »Torpedos« noch recht­zeitig über Bord zu werfen, wenn sich ein Zollboot näherte. Mit Hilfe einer anderen Erfindung vermochte man den Alkohol dann mit etwas Glück auch in der Ostsee wieder­zu­finden: Eine herkömm­liche Boje wurde mit Salz beschwert und an den Torpedo gebunden. Durch das zusätz­liche Gewicht versank die Boje zunächst mit den Kanistern und war für die Grenzer nicht erkennbar. Nachdem sich das Salz aufgelöst hatte, kam der Schwimm­körper aber wieder an die Wasser­ober­fläche und erleich­terte die Suche für die Schmuggler. Eine große Rolle spielte nicht zuletzt die Boots­ge­schwin­digkeit. Hier fand zwischen den Schmugglern und dem Grenz­schutz ein regel­rechtes Wettrüsten statt, wobei Letzterer auch konfis­zierte Schmug­gel­boote nutzte. 

In Estland und Finnland gibt es in der Populär­li­te­ratur und im Film zahlreiche roman­ti­sie­rende Darstel­lungen des Alkohol­schmuggels. In Wirklichkeit schreckten die organi­sierten Banden aber keineswegs vor Waffen­gewalt zurück, und die sogenannten Syndikate lieferten sich erbit­terte Revier­kämpfe. Durch die niedrigen Spiri­tus­preise waren auch Länder Ziel der Schmuggler, in denen es kein Alkohol­verbot gab, beispiels­weise die balti­schen Staaten. Hier operierte ein Danziger Schmug­gel­schiff, das den harmlos anmutenden Namen Willi trug, aber durch seine Panzerung eher einem Kriegs­schiff glich. Vor der litaui­schen Küste kam es Anfang 1926 zwischen der Besatzung und dem Grenz­schutz zu einer Schie­ßerei. Gegen die Maschi­nen­ge­wehre der Grenzer halfen weder Panzerung noch Pistolen, und der Kapitän und ein weiteres Crewmit­glied wurden erschossen. Solche Todes­fälle schreckten die Schmuggler aber nicht sonderlich ab. 1930 wurde das Danziger Schmug­gel­schiff Anni sogar von mehreren Flugzeugen der letti­schen Armee bombar­diert, nachdem es diese beschossen hatte, und die Besatzung musste sich ergeben. 

Die nordi­schen Länder versuchten verständ­li­cher­weise, den Alkohol­export zu unter­binden. Dazu wurde nach zähem Ringen – die anderen Staaten fürch­teten eine Störung des regulären Handels – 1925 in Helsinki ein Abkommen geschlossen und von den Anrai­ner­staaten, darunter auch Danzig, sukzessive ratifi­ziert. Der Vertrag verbot den Alkohol­export aus den Ostsee­ländern für kleinere Schiffe mit weniger als 100 Netto­re­gis­ter­tonnen (NRT) und erschwerte den Transport für größere Schiffe. Die finni­schen Anstren­gungen erwiesen sich aller­dings als vergeblich, denn nun wurden die Schmug­gel­schiffe noch größer und fuhren unter Flaggen von Ländern, die das Abkommen nicht unter­zeichnet hatten. Ein Teil dieser Staaten hatte nicht einmal einen direkten Meeres­zugang. Für die Regis­trierung war dies aber gar nicht notwendig; dazu bedurfte es nur eines Konsulats, und Danzig hatte als Freie Stadt Dutzende davon. Die Schiffe regis­trierte man z. B. in Ländern wie der Türkei, der Tsche­cho­slo­wakei, Ungarn oder Panama. – Erst das Ende der Prohi­bition in Finnland 1931 brachte einen merklichen Abschwung des Alkohol­schmuggels, bedeutete aber nicht dessen Ende.

Sprit aus dem Freihafen und Schuhe aus Marienburg

Der Schmuggel hatte für Danzig vielerlei negative Auswir­kungen. So führten die niedrigen Spiri­tus­preise im Freihafen dazu, dass Alkohol auch nach Danzig selbst einge­schmuggelt wurde. Der Danziger Grenz­schutz verfügte nur über zwei Motor­boote und konnte die Küste des Stadt­staates nicht kontrol­lieren. Die Danziger Zollbe­amten waren auch nicht sonderlich motiviert, denn die Danziger Zolldi­rektion wurde von Polen verwaltet, während den Großteil der Angestellten deutsche Danziger bildeten. Diese sahen in der polni­schen Kontrolle, die durch einige wenige leitende Beamten ausgeübt wurde, eine Bevor­mundung. Nicht selten standen auch Danziger Zollbeamte vor Gericht, weil sie selbst am Schmuggel beteiligt waren und sich zu berei­chern gesucht hatten. 

Aus den Zollein­nahmen erhielt Danzig nur einen geringen Teil, und dieser wurde durch den Schmuggel noch geschmälert. Als der Freistaat 1930 die Alkohol­steuer von vier auf acht Gulden erhöhte, sank der Alkohol­konsum nach amtlichen Statis­tiken um 70 Prozent. Eher unwahr­scheinlich, dass so viele Danziger abstinent wurden. Weit wahrschein­licher ist wohl, dass danach nochmals verstärkt geschmug­gelter Alkohol konsu­miert wurde. So berichtete der Danziger Bowke Brunon Zwarra in seinen Erinne­rungen, dass er sich mit Alkohol- und Tabak­schmuggel aus dem Freihafen gern etwas dazuver­dient habe.

Für die Danziger blieb der Schmuggel aller Arten von Gütern nach den Hunger­jahren der Nachkriegszeit eine Selbst­ver­ständ­lichkeit. Auch die Produ­zenten stellten sich darauf ein. In den Schuh­ge­schäften der Innen­stadt wurden stets die neuesten Modelle deutscher Firmen ausge­stellt, nur kaufte laut den Erinne­rungen Friedrich von Wilperts fast niemand dort ein. Statt­dessen waren die Preise nicht nur in Danziger Gulden, sondern auch in Reichsmark angegeben, weil die Hersteller wussten, dass die Einwohner sowieso nach Marienburg oder Elbing fahren würden, um die Schuhe dort günstiger zu kaufen. Die Laden­be­sitzer hielten hier feines Sandpapier bereit, damit die Danziger Kunden ihren Schuhen ein leicht gebrauchtes Aussehen verschaffen konnten, bevor sie wieder in die Freie Stadt zurück­kehrten. Als ähnlich trick­reich erwiesen sich deutsche Pharma­her­steller, deren Medika­mente in Polen nicht zugelassen waren, aber in Danzig verkauft werden durften. Sie vertrieben ihre Produkte über Versand­apo­theken in der Freien Stadt an polnische Kunden, denn der Paket­verkehr zwischen Danzig und Polen wurde nicht kontrolliert.

Schmuggelnde Senatoren und verschwiegene Danziger 

Bei all seiner Alltäg­lichkeit hatte Schmuggel in Danzig verschiedene Facetten und Motiva­tionen: Hunger, Armut, Geldgier und krimi­nelle Energie, vielleicht sahen viele Danziger den Schmuggel auch als eine Art Protest gegen die ungewollte Freistaat­lichkeit und Abtrennung vom Deutschen Reich. Und warum sollte sich der Normal­bürger zurück­halten, wenn sogar Danziger Spitzen­po­li­tiker mit Diplo­ma­ten­pässen schmug­gelten? Die öffent­liche Empörung blieb weitgehend aus, als der deutsch­na­tionale Senator und spätere Senats­prä­sident Ernst Ziehm mit Koffern voller Einkäufe, die er nicht beim Zoll dekla­riert hatte, im Fernzug von Berlin nach Danzig ertappt wurde. 

Die polni­schen Zollbe­amten, die jenseits der Freistadt­grenzen ihren Dienst taten, wurden von den Danzigern dagegen als Feindbild betrachtet. Dies machten sich die Nazis zu Nutze, und der polnische Grenz­schutz wurde im Laufe der 1930er Jahre immer mehr zur Zielscheibe ihrer Propa­ganda. Nachdem die überwie­gende Mehrheit der Freistadt­be­wohner 1933 natio­nal­so­zia­lis­tisch gewählt hatte, schlug diese Diskre­di­tierung der polni­schen Grenz­truppen in offene Gewalt um. Aus dem Deutschen Reich wurden Waffen zur Ausrüstung lokaler Nazi-Gruppen nach Danzig geschmuggelt, die noch vor Kriegs­beginn polnische Grenz­posten angriffen, um so Konflikte im Grenz­gebiet weiter anzuheizen. In Kalthof wurde das Wohnge­bäude polni­scher Grenzer angezündet, und es gab bei Schuss­wechseln und Überfällen Tote auf beiden Seiten, wobei die Aggres­sionen eindeutig von Seiten getarnter Danziger SA-­Einheiten ausgingen. Der polnische Grenz­schutz zog sich aus Kalthof zurück, und die Grenze nach Ostpreußen stand dort offen für den Transport schwerer Waffen und Soldaten für den zu Kriegs­beginn geplanten Angriff auf polnische Insti­tu­tionen in Danzig.

Aus histo­ri­scher Perspektive ist die Erfor­schung von Schmuggel schwierig, denn nachdem die Schmuggler die Grenze erfolg­reich passiert haben, bleibt er schließlich in der Regel geheim. Nur wenn Schmuggel misslingt, findet er den Weg in die Akten und kann derart zum Gegen­stand der Forschung werden. Zudem haftet dem Schmuggel im öffent­lichen Diskurs immer etwas Unmora­li­sches an, so dass die Danziger, ob sie nun Deutsch, Polnisch, Kaschu­bisch oder eine andere Sprache sprachen, ungern von sich aus zugeben wollten, dass sie die ganze Zwischen­kriegszeit hindurch Schmuggel betrieben haben: In der Regel schmug­gelten immer nur die anderen. Dass der Schmuggel in der Freien Stadt Danzig allge­gen­wärtig war, spiegeln aber unzwei­deutig die vielen Zeitungs­ar­tikel wider, die in den Danziger Gazetten jener Zeit erschienen sind.

Daraus erklärt sich vielleicht auch, warum in dieser Zeitung, die seit 1949 vielerlei Arten von Erinne­rungen an die Freistadtzeit enthielt, Schmuggel bisher schwerlich als Teil des Danziger Alltags thema­ti­siert wurde und es dem Danziger Histo­riker Marek Andrze­jewski vorbe­halten geblieben ist, in den 90er Jahren überhaupt erste Forschungen zu diesem Kapitel der Alltags­ge­schichte anzustellen.