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Evangelische Vielfalt

Ein aktueller kirchen- und architekturgeschichtlicher Führer erschließt das protestantische Erbe Polens – und damit auch Westpreußens

Zu einer Entde­ckungs­reise in das „neugläubige“ Polen lädt der Stadt­ar­chitekt, Künstler und Verleger Marcin Żerański mit seinem Buch Polen evange­lisch ein. Der Führer zu Orten protes­tan­ti­scher Kirchen­ge­schichte und Gegenwart war auf Polnisch bereits im Jahr des 500. Reformations­jubiläums 2017 unter Schirm­herr­schaft der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen erschienen. Nun liegt eine von Pfarrer Alexander Stokowski übersetzte Fassung vor, die auch deutsch­spra­chige Leser anregen soll, den heutigen Protes­tan­tismus in Polen mit seiner polnisch-deutsch-österreichischen Geschichte (neben nieder­län­di­schen und böhmi­schen Einflüssen) kennenzulernen.

Bereits in seiner Einführung unter dem program­ma­ti­schen Titel „Evange­lische Vielfalt“ wird deutlich, dass der Verfasser sich keinem natio­nalen Narrativ verpflichtet sieht, sondern vielmehr eine trans­na­tionale Perspektive wagt: „Die evange­li­schen Christen in Polen sind nicht nur Erben ihrer evange­li­schen Lands­leute, sondern auch jener Protes­tanten, die aus ganz Europa und aus unter­schied­lichen Gründen in das Land zwischen Ostsee, Karpaten und Sudeten einwan­derten. Obwohl die evange­li­schen Gemeinden des Landes eigentlich aus derselben Quelle schöpfen, unter­scheiden sie sich dennoch in den verschie­denen Regionen des Landes durch ihre Geschichte, ihre Tradition und auch durch ihre Kirchenbauten.“

Es entspricht der Profession des Autors – der hinsichtlich kirchen­ge­schicht­licher Fragen von dem luthe­ri­schen Theologen Dr. habil. Jerzy Sojka beraten wurde –, dass sein Buch die Spuren­suche nach protes­tan­ti­schem Leben in Vergan­genheit und Gegenwart mit einer beson­deren Berück­sich­tigung der Archi­tek­tur­ge­schichte verbindet. Zunächst gibt das Buch aller­dings auch eine theologisch-kirchengeschichtliche Einführung, die einen Überblick über die „Regionen des heutigen Polen im Jahre 1517“ bietet und dann in Form einer Zeittafel die Geschichte des „Protes­tan­tismus auf dem Gebiet des heutigen Polen“ seit der Ansiedlung deutsch­spra­chiger Waldenser in Schweidnitz 1315 skizziert. Beschlossen wird die Einleitung von einer Darstellung der gegen­wär­tigen evange­li­schen Kirchen in Polen.

Der Hauptteil des Buchs behandelt in einzelnen Kapiteln Orte mit protes­tan­ti­scher Geschichte und gegen­wär­tigen evange­li­schen Gemeinden. Diese werden in sachkun­digen Texten darge­stellt, die mit – vom Verfasser eigens gestal­teten – Darstel­lungen einzelner Kirchen und Stadt­plänen illus­triert sind: Das Buch taugt somit als hilfreicher Begleiter bei Stadt­spa­zier­gängen. Gegliedert sind die Kapitel in vier Sektionen zum Nordwesten, Nordosten, Südosten und Südwesten Polens. Diese Dispo­sition bestätigt für das untere Weich­selland die oftmals angestellte Beobachtung, dass die histo­rische Provinz Westpreußen heute – auf mehrere Woiwod­schaften aufge­teilt – kaum noch eine selbst­ver­ständ­liche geschlossene Erinne­rungs­land­schaft im Bewusstsein der Öffent­lichkeit darzu­stellen vermag. Vielmehr finden sich Danzig, Gdingen, Schlochau, Schöneck (in Westpreußen) sowie Tiegenhof (und das Weich­sel­delta) unter „Nordwesten“; Bromberg, Groß Nessau (Kreis Thorn), Marien­werder und Thorn hinwie­derum unter „Nordosten“.

Ebenso vielfältig wie die darge­stellten Orte sind die Zugänge zu thema­ti­schen und epochen­spe­zi­fi­schen Schwer­punkten, die sich mit ihnen verbinden. Steht das Kapitel zu Danzig ganz im Zeichen der mittel­al­ter­lichen Refor­ma­ti­ons­ge­schichte, beleuchtet das Kapitel über Gdingen ein weniger bekanntes Kapitel der kirch­lichen Zeitge­schichte: die 1930 bis 2006 bestehende Schwe­dische Seemanns­mission und ihre 1936 errichtete Schwe­dische Seemanns­kirche. Mit Blick auf das täufe­rische Erbe in Westpreußen begnügt sich der Führer nicht mit einem Hinweis auf den „Histo­ri­schen Park des Weich­sel­deltas“ in Tiegenhof, sondern erschließt mannig­fache Spuren der Menno­niten entlang eines Radwegs, der durch das Danziger, Marien­burger und Elbinger Werder von Danzig nach Elbing führt.

Gefördert wurde die Veröf­fent­li­chung des Buchs von der Verei­nigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutsch­lands und dem Gustav-Adolf-Werk, dem Diaspo­rawerk der Evange­li­schen Kirche in Deutschland. Damit ist das Buch zugleich ein Beispiel für die gedeih­liche grenz­über­grei­fende Zusam­men­arbeit zwischen den evange­li­schen Kirchen in Deutschland und Polen, deren besondere Bedeutung von hochran­gigen Vertretern beider Kirchen anlässlich des diesjäh­rigen Weltkriegs­ge­denkens neuerlich betont wurde.

Tilman Asmus Fischer