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Ein Paradies für Wassertouristen

Der Weichsel-Werder-Ring 

Für Reisende, die den Norden unseres Nachbarlandes Polen besuchen, ist, wie viele begeisterte Berichte zeigen, der »Weichsel-Werder-Ring« längst zum Inbegriff eines besonders erlebnisreichen wie erholsamen Urlaubs geworden.

Auch für manchen Westpreußen-Kenner vermag eine Fahrt über die insgesamt 303 km langen Wasserwege – fern der gewohnten Zuwege und der geläu­figen Sicht­schneisen – durchaus ganz neue Blick­winkel auf das ihnen vertraute Land an der unteren Weichsel zu eröffnen. Heutzutage werden die Wasser­läufe des Weichsel-Werder-Rings nicht mehr zu Handels­zwecken genutzt, sondern dienen – neben ihren ökolo­gi­schen Aufgaben – den vielfäl­tigen touris­ti­schen Vergnü­gungen, zu denen von jeher unbedingt auch das freie Baden im erfri­schenden kühlen Nass zählt.

Das weitver­zweigte Ausflugs­gebiet um­schließt neben der Weichsel von Kurze­brack bei Marien­werder bis zur Mündung, die Tote, die Elbinger und die Königs­berger Weichsel, die Nogat, Mottlau, Tiege und Passarge sowie den Elbing, den Kraffohl­kanal (der heute Jagiel­lo­nen­kanal heißt), den Weich­sel­durch­bruch und die Gewässer des Frischen Haffs. Es mangelt weder an hilfreicher Reise­li­te­ratur mit ausge­ar­bei­teten Routen, touris­ti­schen Empfeh­lungen und den notwen­digen nauti­schen Hinweisen noch an geschäfts­tüch­tigen Anbietern für den Verleih unter­schied­lichster Wasserfahrzeuge.

Sportlich Aktive können die Gewässer in Kanus oder Segel­booten erkunden, andere Urlauber neigen eher Motor­booten zu oder lassen sich gar von einer der eleganten Yachten faszi­nieren. Immer größerer Beliebtheit jedoch erfreuen sich die eher beschau­lichen Hausboote, mit denen – und das ist ein entschei­dender Vorteil – die Fahrt ohne besondere formale Voraus­set­zungen, unmit­telbar nach einer nur kurzen techni­schen Einführung, begonnen werden darf. Eine bevor­zugte Tour von 200 km Länge, die in Fischer­babke startet und nach sieben Tagen über Elbing, Marienburg, Mewe, Dirschau und Danzig dorthin zurück­führt, wird die Reisenden bei einem entschleu­nigten Tempo von acht bis zehn km/h gemächlich an maleri­schen Ufern entlang geleiten, wo Angler geduldig auf Zander, Karpfen und Hechte warten. Rasch erschließen sich dem Betrachter die Schönheit und Spezifika dieser Landschaft, die oftmals so zutreffend wie liebevoll als Klein-Holland oder die polni­schen Nieder­lande bezeichnet wird.

Die Geschichte dieser Region ist untrennbar mit dem segens­reichen Wirken der Menno­niten verbunden, die ab dem 16. Jahrhundert als Glaubens­flücht­linge in dieses einstmals sumpfige Land kamen und es, nachdem der deutsche Orden bereits die Grund­lagen für ein Entwäs­se­rungs­system geschaffen hatte, mit ihrem Wissen und Können trocken­legten und urbar machten. Die Polder, Deiche und Windmühlen, die typischen Ansied­lungen sowie Gottes­häuser und nicht zuletzt die nunmehr verwun­schen anmutenden Friedhöfe bezeugen heute noch jenen weitrei­chenden Einfluss auf die Entwicklung des Landes. Die Reise­führer werben unermüdlich dafür, diese Relikte für sich zu entdecken. Ein eigens konzi­pierter Rad- und Wanderweg von Danzig nach Elbing dient gezielt der Erinnerung an das arbeits­reiche Leben der Menno­niten, nimmt neben weiteren Sehens­wür­dig­keiten aber auch hydro­tech­nische Denkmäler und Bauwerke des Deutschen Ordens in den Blick.

Eine weitere, eigens ausge­wiesene Wegstrecke soll Reisende ansprechen, die sich explizit für die regional charak­te­ris­ti­schen Vorlau­ben­häuser inter­es­sieren: von Gotts­walde (Koszwaly) über Trutenau (Trutnowy) bis nach Güttland (Kozliny) können sie signi­fi­kante Beispiele dieser volks­tüm­lichen Baukunst studieren. Wer von Dirschau aus die Weichsel strom­ab­wärts schippert, sollte aufmerksam das linke Ufer beobachten, wo sich bald über dem Deich der massige Turm der gotischen Backstein­kirche von Stüblau (Steblewo) erhebt, jenem Dorf, dass sich als Zentrum für die Herstellung von Korbwaren, dem klassi­schen Handwerk der Werder-Bewohner, einen Namen gemacht hat. Ein Landgang zur Besich­tigung dieses Dorfes würde sich lohnen; denn neben zwei Vorlau­ben­häusern ist es vor allem die verlassen dalie­gende, aber imposante Ruine der Kirche, die, umgeben von einigen gut erhal­tenen, kunst­reich gestal­teten Grabsteinen aus vergan­genen Jahrhun­derten, wertschät­zende Aufmerk­samkeit verdiente.

Publi­kums­ma­gneten wie die Marienburg erleichtern den Boots­leuten einen Besuch, weil großzügig gebaute Anlege­stellen zum Rasten einladen. Willkommen sind dort zunächst neben kleinen Restau­rants vor allem die Toiletten- und Dusch­an­lagen und die Zapfstellen für Frisch­wasser. Auch Dirschau verfügt beispiels­weise über eine moderne Marina, von der aus man sich bequem auf den Weg in die reizvolle Altstadt machen kann, vielleicht aber auch dem Weichsel-Museum einen Besuch abstattet oder das archi­tek­to­nisch wie technisch hochge­rühmte Bauwerk der alten, bis heute noch gigan­tisch wirkenden Weich­sel­brücke und ihren jüngeren Begleiter aus nächster Nähe betrachtet.

Beein­dru­ckend ist insgesamt die Fülle von Sehens­wür­dig­keiten aus geschichts­träch­tigen Zeiten, die es während der Fluss­fahrten zu entdecken gibt. Begeis­ternd und bisweilen aufregend werden zudem Erleb­nisse auf den Wassern sein, wenn es gilt, selbst­tätig nach vorhe­riger telefo­ni­scher Anmeldung eine Schleuse zu befahren oder Dreh- und Hebebrücken nach Plan zu passieren.

Ein unver­gess­licher Höhepunkt der Tour verspricht eine Fahrt über den Oberlän­di­schen Kanal zwischen Elbing und Osterode zu werden. Das geniale und denkmal­ge­schützte Meisterwerk des Königs­berger Baurats Georg Steenke aus der Mitte des 19. Jahrhun­derts, mit dem es ihm auf einzig­artige Weise gelang, auf einer Strecke von 9,5 km mithilfe von fünf Rollbergen einen Höhen­un­ter­schied von 99,5 m zu überwinden, bietet schon ein Vielfalt äußerst beliebter Fotomotive für Touristen, die das Prozedere gebannt von Land aus beobachten. Um wieviel spannender ist es, im eigenen Gefährt, festge­zurrt auf einer Lore, über Schienen ruckelnd die fünf Steigungen inmitten blühender Wiesen hoch- oder herun­ter­ge­zogen zu werden. Dicke Stahl­seile leisten, von Wasser­kraft angetrieben, eine immense Arbeit, bevor das Boot zwischen­durch wieder zu Wasser gelassen werden kann. Nach diesem Abenteuer kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, einen beson­deren, »schrägen« Kanal befahren zu haben.

Mit Demut und Bedacht, so wird gemahnt, sollten gerade Freizeit­ka­pitäne der ungebän­digten Macht der Weichsel, dem letzten wilden Fluss Europas, begegnen, denn hinter ihrer majes­tä­ti­schen Schönheit verbärgen sich manche Tücken und Risiken. Aus der Danziger Bucht aufbrau­sender Nordwind kann zu heftigem Wellengang führen; stürmt es aus Süden, ist starke Motor­kraft vonnöten. Aufmerksam müssen Regulie­rungs­buhnen umschifft werden, ebenso die mit Steinen befes­tigten Ufer. Für einen Halt sind allein kleine Sandbuchten geeignet. Und nicht zuletzt machen die vielen Sandbänke das Navigieren noch kompli­zierter. Markie­rungen an den Ufern jedoch zeigen exakt an, wo Gefahr droht und wann die Seiten gewechselt werden müssen. Werden diese Anwei­sungen strikt befolgt, bewältigt man auch diese Hürden in einem sicheren Zick-Zack-Kurs.

Welch einen Kontrast zur Weichsel mit ihrer hohen Strömungs­ge­schwin­digkeit und der statt­lichen Breite von durchaus 500 m bildet ihr östlicher Mündungsarm, die idylli­schere, ruhig fließende Nogat. Deren Behäbigkeit erlaubt es aller­dings dem bei Boots­leuten gefürch­teten Schwimmfarn, sich bis zum Spätsommer zu einem dicken, flächen­de­ckenden Teppich auszu­breiten. Ungefährlich hingegen sind die leuchtend gelben Wasser­lilien und die breiten Schilf­gürtel, die zum Anlegen und Verweilen verlocken; hier kann der Natur­freund ungestört der Stille nachspüren und in Muße die Welt der Schwäne, Reiher, Kraniche oder Kormorane studieren; wer Glück hat, vermag gelegentlich das Klappern der Störche zu hören. Entlang der Nogat liegen mehrere Natur­schutz­ge­biete: für Seeadler und Bussarde, Ulmen- und Eschen­wälder, für über hundert­jährige Eichen und Kiefern oder für seltene Pflanzen wie das Purpurne Knaben­kraut; der Mündungs­be­reich am Frischen Haff ist ausge­zeichnet als sicherer Rückzugsort und Brutstätte von Wassersumpfvögeln.

Als ein geschütztes Paradies für seltene Wasser­vögel – Fachleute haben an die 200 Arten gezählt – sowie für Fische und Pflanzen wird der Drausensee nahe Elbing auch von Boots­tou­risten geschätzt, insbe­sondere zu Zeiten, in denen sich Meere von Seerosen auf den Wassern bilden und sich das Schilf am Uferrand vor sattgrünen Wiesen leise im Wind wiegt, derweil bauschige weiße Wolken am blauen Himmel vorüber­ziehen. Wenn der Tag sich neigt, ein Anker­platz gefunden ist und allmählich die Nebel­schwaden aus den tieflie­genden Feldern und Auen steigen, hat sich der Traum eines weiteren, so erhol­samen wie anregenden Ausfluges auf den Wasser­straßen des Weichsel-Werder-Ringes erfüllt.

 Ursula Enke