Geschichte lässt sich oft nicht zufriedenstellend schreiben, weil wir noch viel zu wenig über die Zukunft wissen. – Dieser Satz gilt in besonders hohem Maße für das Museum des II. Weltkriegs in Danzig, zumal sich diese Problematik dort sogar verdoppelt : Die Entwicklung des Museums selbst ist – trotz eines „Tages der offenen Tür“ am letzten Januar-Wochenende sowie der offiziellen Eröffnung am 23. März – offenbar noch längst nicht abgeschlossen. Aber auch die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die den Gegenstand des neuen Museum bildet, scheint immer noch offen : Es ist kaum abzusehen, wann die Auseinandersetzungen um das Konzept und die politisch durchsetzbare Sicht auf die geschichtlichen Zusammenhänge zu einem vorläufigen Ende kommen. In dieser noch ganz unbestimmten Situation wollen wir nicht allein geduldig auf den Ausgang dieses Prozesses warten, sondern zuvor schon einmal unter zwei sehr verschiedenen Aspekten Schlaglichter auf die aktuellen Fragen der Debatte sowie der geschichtlichen Interpretationsspielräume werfen.
Historiografische und museologische Differenzierungen im deutschen Sprachraum
Selten erhalten kultur- bzw. geschichtspolitische Zerwürfnisse eine derartig große mediale Aufmerksamkeit, wie sie im Falle der anhaltenden Auseinandersetzung um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig zu verzeichnen ist. Dabei sind zwar – anders als bei der Debatte um die »Wehrmachtsausstellung« – nicht sonderlich kontroverse Positionen auszumachen, denn die Kritik aus der deutschsprachigen Presselandschaft an der gegenwärtigen polnischen Regierung ist weitestgehend einhellig. Dennoch lohnt es sich, unterhalb dieser übereinstimmenden Einschätzung der Akteure im gesellschaftlichen Raum genauer auf die einzelnen Stimmen zu hören, weil sie ein erheblich differenzierteres Bild der Problematik vermitteln.
Vermittlung zwischen Geschichtsbildern
Den Beitrag, den das Museum für eine Vermittlung zwischen unterschiedlichen Geschichtsbildern zu leisten vermag, hebt der Historiker und Polen-Korrespondent Gerhard Gnauck in seinem Beitrag »Der lange Schatten des Krieges« für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (26. März 2017) hervor. Ihm erscheint das Weltkriegsmuseum als Beispiel für die wachsende Bereitschaft Polens, sich gegenüber seiner deutschen Geschichte – einschließlich des Vertreibungsgeschehens – zu öffnen : »Dass hier vor nicht so langer Zeit Menschen fremder Zunge und anderen Glaubens lebten, wird in Polen längst nicht mehr verschämt weggedrückt. So hat auch das neue Museum ein Stockwerk, das sich das ›archäologische‹ nennt. Hier sind Tabakpfeifen und Schmuck zu sehen, die bei den Bauarbeiten freigelegt wurden.« Der Wille zum Dialog wird für ihn auch darin erkenntlich, dass alle betroffenen Opfergruppen zu Wort kommen : »Das Museum lässt sich nicht auf abstrakte Geschichtsdeutungen ein ; es lässt die Opfer sprechen und keine Gruppe aus.« Die besondere Bedeutung des Museum sieht er folglich in dem Bemühen, »die Erinnerung des Ostens mit jener des Westens zu verknüpfen«.
Zwischen »Pazifismus« und »Totalitarismus«
Die Vermittlungsleistung des Museums hat freilich eine inhaltlich-konzeptionelle Voraussetzung, die Reinhard Lauterbach in seiner Ausstellungskritik in der marxistischen Jungen Welt (»Eine todernste Sache«, 3. April 2017) offenlegt : Das Museum ist für den Rezensenten »großartig – wenn man von seiner ›antitotalitären‹ Ideologie absieht«. Gewiss : Entsprechende Parallelen zwischen Faschismus und Kommunismus – und somit auch der Okkupation Polens sowohl durch das Deutsche Reich als auch durch die Sowjetunion – entsprechen nicht Lauterbachs Geschichtsbild. Die Ausstellung selbst aber findet sein Wohlwollen, und zwar gerade auch wegen ihres konsequenten pazifistischen und universalistischen Ansatzes : Dieses Konzept sei »kein geringes Verdienst, denn der Kern der offiziellen Vorwürfe lautet«, dass »die ›positive Seite‹ des Krieges, die Erziehung zu ›Heldentum‹ und ›Selbstaufopferung‹«, nicht genug propagiert werde. Dennoch bestimmt Lauterbach auch Leerstellen in der dargebotenen Erzählung : »Das Phänomen der polnischen Alltagskollaboration, etwa durch den Verrat verfolgter Juden, kommt freilich nur am Rande vor. Auch die ziemlich freundschaftlichen Beziehungen zwischen Berlin und Warschau bis Anfang 1939 […] fallen unter den Tisch.« Letztlich muss innerhalb des Milieus der ›Jungen Welt‹ auch noch Anstoß erregen, dass es am Ende der Ausstellung »der unter geostrategischen Vorgaben der Sowjetunion entstandenen Volksrepublik Polen« »geschichtspolitisch an den Kragen« geht.
Schaukampf der Weltanschauungen
Wie stark der Danziger Museumsstreit inzwischen zum symbolischen Austragungsfeld weltanschaulicher Kämpfe geworden ist, in denen sich autoritärkonservative und liberale politische Konzepte gegenüberstehen, belegt Andreas Breitenstein in einem Kommentar, den die Neue Zürcher Zeitung (»Die Liebe zum Ausnahmezustand«, 6. April 2017) veröffentlicht hat. Einen Tag zuvor hatte das polnische Oberverwaltungsgericht zugunsten des Kulturministers entschieden, dass die seit langem geplante Zusammenlegung des Weltkrieg-II-Museums mit dem Museum des Verteidigungskrieges von 1939 auf der Westerplatte rechtens sei. Angesichts dieser neuerlichen Wendung beklagt der Literaturkritiker und Journalist Breitenstein die starre Haltung einer Regierung, die »über ihren fundamentalistischen Schatten [hätte] springen müssen« und keinerlei Bereitschaft zu entwickeln vermocht hat, das Museum »einfach so in die Freiheit seines Wirkens [zu] entlassen«. Bedroht sieht er damit das Museum als Zeichen »für ein modernes und liberales, weltoffenes und nachdenkliches, sprich : europäisches Polen, das die Größe hat, differenziert mit seiner Geschichte umzugehen«.
Innovationen und Konventionen
Die grundsätzlich plausible Zuordnung von »Fortschrittlichkeit« und »Reaktion« vermag allerdings auch nicht den Blick darauf zu verstellen, dass das Museum keineswegs radikal mit den Traditionen der polnischen Geschichtskultur bricht. In der Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. April, (die gleiche, in der Andreas Breitensteins Kommentar erschienen ist) geht Felix Ackermann ausführlich auf das Konzept ein (»Weltkriegsmuseum in Danzig : In Polen dokumentiert ein Museum die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und blickt über dessen Ende hinaus«). Dabei kommt er zu dem aufschlussreichen Urteil, dass die Kritik, das Konzept sei »nicht ausreichend Polen-zentriert, kaum nachvollziehbar« sei : »Die polnische politische Rechte befürchtet zu Unrecht, dass polnisches Leid und polnischer Widerstand in Danzig nicht sichtbar würden. Auch das Funktionieren des polnischen Untergrundstaates stellt die Ausstellung ausführlich dar.« Erst recht werde am Ende der Ausstellung die in Polen allgegenwärtige These veranschaulicht, dass in Danzig der Zweite Weltkrieg mit den Kämpfen an der Westerplatte nicht nur begonnen habe«, sondern dass vor allem die Solidarność-Bewegung »den Weg für die Beilegung des Kalten Krieges geebnet habe.«
Gerade dieser Beitrag, der der Ausstellung in gewissen Hinsichten sogar den »Charme eines Militärdepots« zuspricht – den die politische Führung doch ebenfalls wohlgefällig aufnehmen müsste –, lässt somit unmissverständlich erkennen, dass die Regierung schwerlich eine vermittelnde bzw. »mittlere« Position zulässt, sondern in gewisser Weise »aufs Ganze« gehen wird.
Tilman Asmus Fischer
Das Leiden der Zivilbevölkerung im Umfeld des Kriegsendes: Ein Prüfstein für die Politik
Individuelle Schicksale
Einen wesentlichen Brennpunkt der Museumskonzeption bilden die Schicksale und Erfahrungen der Zivilbevölkerung. Deshalb wird auch den Fluchtbewegungen, Übersiedlungen, Deportationen und Vertreibungen größere Aufmerksamkeit geschenkt. Unabhängig von der Terminologie, in der diese Verschiebungen von Bevölkerungsteilen und ganzen Völkern gefasst wird, bedeuteten sie für die betroffenen Menschen stets eine regelrechte Katastrophe : Sie wurden gezwungen, in kürzester Zeit ihr Heim zu verlassen, mussten sich auf einen gefährlichen Weg ins Ungewisse machen oder wurden unter unmenschlichen Bedingungen in Bahnwaggons transportiert und lebten oft im Bewusstsein, durch Erschöpfung oder äußere Gewalt unmittelbar vom Tode bedroht zu sein. Diese beklemmenden Erlebnisse symbolisiert zunächst eine Installation von geschlossenen Haustüren. In den Schlössern mussten die Schlüssel für diejenigen stecken bleiben, die nach der Vertreibung der ursprünglichen Bewohner dort einziehen sollten. Tiefere Einblicke in das Schicksal vertriebener oder deportierter Menschen gewähren individuelle Geschichten, die an einzelnen Exponaten verdeutlich werden : Ein festlicher Schmuckgürtel befand sich im Gepäck von Tenzile Asanow, einer Krimtatarin, die 1944 Bachtschyssaraj verlassen musste ; ein Brief und Fotos verweisen auf den Polen Zygmunt Pycia, der zur Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik nach Weimar verschleppt worden war und dort bei einem Luftangriff ums Leben gekommen ist. – Andere persönliche Dokumente zeigen auch, dass Deportierte nicht nur unter Hunger und Kälte zu leiden hatten, sondern auch – wie die Polin Halina Fedorowicz in Königsberg – unter psychischem Druck und sogar körperlichen Misshandlungen. Freilich werden auch (allerdings wohl seltener belegbare) Gegenbeispiele gezeigt. Hierfür steht ein Foto von der als Krankenpflegerin in Köln arbeitenden Ukrainerin Anna Własenko, die von einer Deutschen »wie eine Schwester« behandelt worden ist.
Flucht, Massenvergewaltigungen, Vertreibung
Die Ausstellung ist anscheinend bemüht, allen betroffenen Gruppen von Um- und Aussiedlern gerecht zu werden. Dabei finden freilich die Polen und Deutschen, deren Schicksale oft fatal miteinander verschränkt sind, die größte Beachtung. Zwei Exponate sind hier besonders eindrucksvoll : eine polnische Wiege, die das Schicksal tausender Kinder versinnbildlicht, die, als »rassisch wertvoll« eingestuft, ihren Eltern weggenommen und deutschen Familien übergeben wurden, und die Schiffsglocke der Wilhelm Gustloff, die für die zahllosen Todesopfer unter den deutschen Flüchtlingen steht. Thematisiert werden auch die Massenvergewaltigungen, denen insbesondere – wenn auch nicht ausschließlich – deutsche Frauen zum Opfer fielen. Die hier gebotenen (anonymisierten) Erinnerungen von Einwohnerinnen Danzigs rufen heute noch in beklemmender Weise die Brutalität und den Schrecken jener Zeit wach. Ein eigener kleinerer Bereich ist dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in der Endphase des Krieges und kurz nach dem Kriege gewidmet. Hierzu werden zwei separate Touch Tables mit den Titeln »Flucht vor der Front« bzw. »Nachkriegs-Aussiedlungen der Deutschen« angeboten. Dabei unterscheidet die letztere Präsentation zwischen einer »wilden« Phase, in deren Verlauf eine große Anzahl von Gewalttaten begangen wurde, sowie einer »Planphase«, die von – wenngleich in einem nur sehr begrenzten Maße – höheren Standards einer »humanen« Behandlung geprägt war.
Zukunftsperspektiven
Unmittelbar nach dem Beschluss des polnischen Oberverwaltungsgerichts ist ein neuer Direktor für den jetzt aus zwei Einheiten bestehenden Danziger Museumskomplex ernannt worden. Diesen Posten wird nun Dr. Karol Nawrocki bekleiden, der bislang Mitarbeiter des Instituts für Nationales Gedenken sowie Vorsitzender des Komitees für das Gedenken an die »verstoßenen Soldaten« (Mitglieder des antikommunisitischen Untergrunds) war. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs gehört allerdings nicht zu seinen Forschungsfeldern ; stattdessen hat er sich mit der Solidarność-Bewegung in Elbing und der Frage der organisierten Kriminalität in der Volksrepublik Polen beschäftigt. – Der Stichtag, von dem ab die Vereinigung der beiden Museen vollzogen werden soll, ist der 1. Mai. Danach könnte unverzüglich auch eine eventuelle Umgestaltung der Ausstellung in Angriff genommen werden. Dem steht gegenwärtig noch das Urheberrecht entgegen, weil es die bestehende Ausstellung als Ganzes schützt, eine stückweise Änderung also eigentlich ausschließt. Zudem haben etliche Privatpersonen bereits angekündigt, die von ihnen ausgeliehenen Erinnerungsstücke gegebenenfalls zurückzufordern. Dem Museum drohen somit turbulente Zeiten bevorzustehen. Dabei können die Beobachter mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass vor allem die hier vorgestellte Abteilung der Bevölkerungsverschiebungen jeden Eingriffsversuch sowie die jeweilige Stärke der politischen Erschütterungen geradezu seismographisch würde ablesen lassen.
Joanna Szkolnicka