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November 1918: Die Revolution in Danzig

Von Tilman Asmus Fischer

Der Kieler Matrosenaufstand vom 3. November 1918 ist – neben den gewaltsamen Auseinandersetzungen der Folgemonate, vor allem in Berlin – zum Inbegriff der revolutionären Umbrüche geworden, die das Ende des Ersten Weltkrieges und den Übergang Deutschlands vom Kaiserreich zur Weimarer Republik begleiteten. Auch wenn heute Kiel, Berlin und vielleicht noch die Münchner Räterepublik das historische Bild der Matrosen- und Rätebewegung prägen :  Auch Danzig war Ziel und Schauplatz des Umsturzes, der am Ende nicht in die Räterepublik, sondern in eine Demokratie führte.

Es scheint, als hät­te sich die his­to­ri­sche For­schung – weil die revo­lu­tio­nä­ren Umtrie­be in Dan­zig kei­ne Dyna­mik ent­wi­ckeln konn­ten, die der­je­ni­gen in den genann­ten Städ­ten ver­gleich­bar wäre – nicht son­der­lich für die Tage des Umbruchs an der Mot­lau inter­es­siert. Zwar spa­ren die stadt­ge­schicht­li­chen Mono­gra­fien die The­ma­tik nicht aus, um sich jedoch ein kon­kre­tes Bild von der Lage vor Ort machen zu kön­nen, ist es not­wen­dig, sich „ad fon­tes“ – zu den Quel­len – zu bege­ben. Ein sol­ches Zeit­do­ku­ment ist uns mit den noch 1918 im Ver­lag W. F. Burau in Dan­zig ver­öf­fent­lich­ten Erin­ne­run­gen von Haupt­mann a. D. Dr. Wil­helm Brön­ner, Die Revo­lu­ti­ons­ta­ge in Dan­zig, über­lie­fert. Sie umfas­sen den Zeit­raum zwi­schen dem 3. und 18. Novem­ber 1918 und ver­mö­gen uns noch heu­te einen Ein­blick in die Vor­gän­ge auf Dan­zigs Stra­ßen und die Stim­mungs­la­ge in der Stadt zu gewähren.

Danzig im November 1918 – ein Überblick

Bevor wir auf die ein­zel­nen Ereig­nis­se bli­cken, die Brön­ner aus Dan­zig berich­te­te, ist es jedoch not­wen­dig, sich einen Über­blick über den his­to­ri­schen Gesamt­zu­sam­men­hang zu ver­schaf­fen. Wie ver­lief die gro­ße Linie der Dan­zi­ger Revo­lu­ti­on ?  Und war­um blieb hier eine Gewalt­es­ka­la­ti­on, anders als etwa in Ber­lin, aus ? – Peter Oli­ver Loew erlaubt uns nach­zu­voll­zie­hen, wie auch an der Mot­lau qua­si über Nacht eine neue poli­ti­sche Epo­che anbrach :

Nur weni­ge Stun­den nach­dem der Kai­ser abge­dankt hat­te, hielt die Revo­lu­ti­on auch in Dan­zig Ein­zug. Am 10. Novem­ber stürm­ten revo­lu­tio­nä­re Matro­sen Gefäng­nis­se in der Stadt, und bei einer Groß­kund­ge­bung auf dem Heu­markt ver­kün­de­ten füh­ren­de Sozi­al­de­mo­kra­ten die Aus­ru­fung der Repu­blik. Ein deut­scher Arbeiter- und Sol­da­ten­rat über­nahm die Macht in Dan­zig, auch ein pol­ni­scher Rat ent­stand. Die Gar­ni­son unter­stell­te sich den Räten und sorg­te, gemein­sam mit der Bür­ger­wehr, für die Auf­recht­erhal­tung der öffent­li­chen Ord­nung. Am 11. Novem­ber leg­te ein Gene­ral­streik die Stadt lahm.

Dafür, dass die Revo­lu­ti­on sich an der Mot­lau ohne son­der­li­che Radi­ka­li­tät oder Gewalt­aus­schrei­tun­gen voll­zog, las­sen sich im Wesent­li­chen vier Erklä­run­gen fin­den. Das von Loew ins Feld geführ­te ers­te Argu­ment, die Dan­zi­ger sei­en ob der ange­spann­ten Nah­rungs­mit­tel­ver­sor­gung eher mit der Für­sor­ge für ihr Über­le­ben als mit der Revo­lu­ti­on befasst gewe­sen, mag viel­leicht das schwächs­te sein :  Sicher ent­behrt es nicht jeder Plau­si­bi­li­tät, jedoch muss in Rech­nung gestellt wer­den, dass auch im wei­te­ren revo­lu­tio­nä­ren Deutsch­land ein Ver­sor­gungs­not­stand herrsch­te. Zwei­tens erhielt die poli­ti­sche Lin­ke nach dem ers­ten revo­lu­tio­nä­ren Auf­flam­men wie­der ernst­zu­neh­men­de Kon­kur­renz : Ange­sichts der ver­laut­bar­ten pol­ni­schen Ansprü­che auf Dan­zig konn­te die poli­ti­sche Rech­te mit anti­pol­ni­schen Posi­tio­nen schnell Rück­halt in der Bevöl­ke­rung gewin­nen. Drit­tens kann dar­über spe­ku­liert wer­den, wie sich die Geschich­te voll­zo­gen hät­te, wenn nicht per preu­ßi­scher Kabi­netts­or­der vom 24. März 1865 die preu­ßi­sche Mari­ne­sta­ti­on der Ost­see – also die obers­te Kom­man­do­be­hör­de der preu­ßi­schen See­streit­kräf­te in der Ost­see – von Dan­zig nach Kiel ver­legt wor­den wäre. Andern­falls, so kann ange­nom­men wer­den, wäre Dan­zig in der Fol­ge zen­tra­ler Stand­ort der Mari­ne des Nord­deut­schen Bun­des und der Kai­ser­li­chen Mari­ne gewe­sen – und letzt­lich hät­te die Stadt dann das his­to­ri­sche Schick­sal tref­fen kön­nen, das nun Kiel ereil­te. Vier­tens und letz­tens ist es – wie Loew her­vor­hebt – Juli­us Gehl zuzu­rech­nen, dass sich die Revo­lu­ti­on in Dan­zig ver­hält­nis­mä­ßig ruhig voll­zog. Der gelern­te Mau­rer lei­te­te von 1912 bis 1919 als Bezirks­par­tei­se­kre­tär und Vor­sit­zen­der den SPD-Bezirk West­preu­ßen mit Sitz in Dan­zig und ver­ant­wor­te­te von 1917 bis 1918 als Redak­teur die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Zei­tung Dan­zi­ger Volks­wacht. Hät­te er nicht mäßi­gend auf die Ent­wick­lun­gen ein­ge­wirkt, hät­ten sich die Umbrü­che durch­aus anders voll­zie­hen können.

Autosuggestion:  Angst vor „roten Schiffen“

Und dies wäre genau genom­men gar nicht so unwahr­schein­lich gewe­sen. Denn auch in Dan­zig lässt sich ein Phä­no­men iden­ti­fi­zie­ren, das Mark Jones in sei­nem 2017 erschie­nen Buch Am Anfang war Gewalt über die Grün­dungs­mo­na­te der Wei­ma­rer Repu­blik her­aus­ge­ar­bei­tet hat :  Auto­sug­ges­ti­on. So fie­len die ers­ten blu­ti­gen Schüs­se in Kiel, weil sich unter den revo­lu­tio­nä­ren Matro­sen die Wahn­vor­stel­lung aus­ge­bil­det hat­te, jeder­zeit mit Angrif­fen kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­rer Offi­zie­re rech­nen zu müs­sen ;  eben­so resul­tier­ten die For­de­run­gen nach staat­li­chen Gewalt­maß­nah­men gegen die Spar­ta­kis­ten in Ber­lin aus dem Mythos einer rus­sisch finan­zier­ten Geheim­ar­mee des Kom­mu­nis­ten­füh­rers Karl Lieb­knecht. Was Mark Jones für die gro­ßen revo­lu­tio­nä­ren Ereig­nis­se in Kiel, Ber­lin und Mün­chen kon­sta­tiert hat, trifft – das zei­gen die Erin­ne­run­gen von Brön­ner – auch auf die gra­du­ell weni­ger inten­si­ven Ent­wick­lun­gen in Dan­zig zu.

Hier scheint es eben­so wie dort vor­nehm­lich eine unkla­re Infor­ma­ti­ons­la­ge – eine Mischung aus ver­mu­te­ten Gefah­ren und bedroh­li­chen Gerüch­ten – gewe­sen zu sein, die das Stim­mungs­bild in der Stadt und ihrem Umland präg­te. So mut­maß­te man am 4. Novem­ber, für Dan­zig dro­he „die Gefahr einer eng­li­schen Flot­ten­lan­dung oder eine Lan­dung von Tei­len der meu­tern­den Flot­te“ :  „Die roten Schif­fe konn­ten erschei­nen, um auch in Dan­zig die revo­lu­tio­nä­re Bewe­gung in Gang zu brin­gen ;  sie konn­ten auch aus Man­gel an Pro­vi­ant in der Höhe Dan­zigs die Küs­te anlau­fen. Man erfuhr bald von Lan­dun­gen in Swi­ne­mün­de und Stolp­mün­de. – Z. T. soll­ten es Fahr­zeu­ge gewe­sen sein, die noch königs­treu vor den Meu­te­rern flüch­te­ten.“ Ent­spre­chend dem ambi­va­len­ten äuße­ren Bedro­hungs­sze­na­rio mut­maß­te man zugleich rege über das Gefah­ren­po­ten­zi­al inner­halb der Stadt­gren­zen :  „Von geheim­nis­vol­len Ver­samm­lun­gen, von Zettel- und Flug­blatt­ver­tei­lun­gen wur­de gemun­kelt. Ein Extra­blatt erschien nach dem anderen.“

Ein­drucks­voll ver­deut­licht Brön­ners Notiz vom 8. Novem­ber, wie sich durch das – letzt­lich nicht veri­fi­zier­ba­re – äuße­re Bedro­hungs­sze­na­rio im Zusam­men­spiel mit Anzei­chen inne­rer Unru­hen die öffent­li­che Stim­mung mehr und mehr zuspitz­te :  „Zwei rote Schif­fe sol­len vor Hela lie­gen. Ist Flie­ge­r­auf­klä­rung mög­lich ?  Es lag dich­ter Nebel, die Mari­ne­nach­rich­ten­stel­le hat nichts gese­hen. Die Revol­te­stim­mung in Dan­zi­ger Stra­ßen wird stär­ker bemerk­bar. Es knallt über­all :  Halb­wüch­si­ge und Kin­der wer­fen Schwär­mer und ande­re Feu­er­werks­kör­per. Frau­en und Kin­der erzäh­len in den Stra­ßen, in die­ser Nacht gehe es los. Väter und Brü­der wür­den sich auf dem Bahn­hof prü­geln gehen. Wie schon in die­sem Krie­ge denkt man wie­der an Ein­pa­cken, an noch rasch zu erle­di­gen­de wich­ti­ge Geschäf­te, an Abrei­se, an Weg­sen­dung von Frau und Kind.“ Inter­es­sant ist vor allem der Hin­weis auf die Geräusch­ku­lis­se, die auf Schüs­se und ande­re Aus­schrei­tun­gen schlie­ßen las­sen konn­te. In ande­ren Städ­ten waren es, wie Jones her­aus­stellt, eben­sol­che akus­ti­schen Signa­le, die von einer der sich gegen­über­ste­hen­den Par­tei­en – oft­mals grund­los – als feind­li­cher Beschuss gedeu­tet wur­den, so dass die Situa­ti­on eska­lier­te und es in der Fol­ge zu tat­säch­li­chen Gewalt­aus­schrei­tun­gen, teils auch mit Todes­op­fern, kam. Brön­ners Auf­zeich­nun­gen ver­deut­li­chen, dass es neben den unmit­tel­bar für Dan­zig erwar­te­ten Ent­wick­lun­gen immer wie­der auch die Nach­rich­ten aus Ber­lin und ande­ren Stät­ten der Revo­lu­ti­on – sowie sol­che über die Ver­hand­lun­gen mit den Alli­ier­ten – waren, die in Dan­zig wach­sam ver­folgt wur­den und die Pro­gno­se über die eige­ne Situa­ti­on mitbestimmten.

Revolution in geordneten Bahnen

Ange­sichts der Unge­wiss­heit über die tat­säch­li­che Bedro­hungs­la­ge voll­zo­gen sich die poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Ent­wick­lun­gen im Dan­zi­ger Gebiet fol­gen­der­ma­ßen :  Um den 4. Novem­ber wur­den meh­re­re aus­wär­ti­ge Trup­pen­tei­le zur Absi­che­rung der Stadt nach Dan­zig ver­legt. Dabei ent­schie­den sich die poli­ti­schen Ver­ant­wor­tungs­trä­ger – bei allen not­wen­di­gen mili­tä­ri­schen Sicher­heits­maß­nah­men – nicht für Gewalt als ers­tes Mit­tel. Viel­mehr herrsch­te Beson­nen­heit, und man setz­te für den Fall der Fäl­le pri­mär auf Ver­hand­lun­gen, sofern „die meu­tern­den Matro­sen bei der erwar­te­ten Ankunft mit sich reden las­sen“ wür­den. Bevor jedoch meu­tern­de Matro­sen in Dan­zig anlan­den konn­ten, kamen einem sol­chen Unter­fan­gen am 7. Novem­ber – wie Brön­ner tref­fend anmerkt, dem „Jah­res­tag der rus­si­schen Revo­lu­ti­on“ – die Arbei­ter und Matro­sen der Put­zi­ger See­flie­ger­schu­le zuvor. Deren Arbeiter- und Sol­da­ten­rat erklär­te unmit­tel­bar im Zusam­men­hang mit sei­ner Grün­dung, für die „Auf­recht­erhal­tung der Dis­zi­plin und Ord­nung wer­de Sor­ge getra­gen“. Da auf Grund­la­ge die­ser Ankün­di­gung offen­bar ein Ein­ver­neh­men mit dem Kom­man­do der See­flie­ger­schu­le her­ge­stellt wer­den konn­te, wur­de von einem mili­tä­ri­schen Ein­grei­fen gegen die Meu­te­rer abge­se­hen, und es kam zu kei­nen gewalt­sa­men Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Nichts­des­to­we­ni­ger besetz­ten Matro­sen aus Put­zig den Bahn­hof von Rheda.

Zwei Tage spä­ter – am 9. Novem­ber – kam auch in Dan­zig und sei­ner unmit­tel­ba­ren Umge­bung der Per­so­nen­ver­kehr zum Erlie­gen. Den­noch :  Auch hier blieb es dank der Beson­nen­heit aller Par­tei­en – vor allem wohl des bereits erwähn­ten Juli­us Gehl – ruhig. Die­ser erklär­te weit­sich­tig, dass „die Bewe­gung in Dan­zig ruhig ver­lau­fen“ wür­de, wenn „nicht geschos­sen wer­de“ – zumal er ohne­hin pro­gnos­ti­zier­te, dass beim Ein­satz mili­tä­ri­scher Mit­tel die Trup­pen den Gehor­sam ver­wei­gern wür­den. Dies erwar­te­te er auch für den Fall einer Lan­dung von Schif­fen meu­tern­der Sol­da­ten :  „Viel­leicht wür­den die Küs­ten­bat­te­rien eini­ge Schüs­se abge­ben, aber was mache das Kriegs­schif­fen aus, und sobald erst Lan­dun­gen erfolgt sei­en, wer­de kein Wider­stand mehr geleis­tet.“ Gehl scheint es nicht nur gelun­gen zu sein, der­art prä­ven­tiv dem Ein­satz mili­tä­ri­scher Mit­tel ent­ge­gen­ge­wirkt zu haben. Viel­mehr kam es am 9. Novem­ber auch zu weg­wei­sen­den Eini­gun­gen zwi­schen den ent­schei­den­den Akteu­ren in der Stadt :  den Mehr­heits­so­zia­lis­ten – also der SPD –, den „Unab­hän­gi­gen“ – also der radi­ka­le­ren USPD, die sich wäh­rend des Krie­ges von ihrer Mut­ter­par­tei abge­spal­ten hat­te – und der städ­ti­schen Ver­wal­tung. Nach einer gemein­sa­men Sit­zung von SPD und USPD tra­ten um neun Uhr im Stadt­ver­ord­ne­ten­saal Ver­tre­ter der Sozia­lis­ten und der Behör­den – „Ober­prä­si­dent, Regie­rungs­prä­si­dent, Poli­zei­prä­si­dent, Bür­ger­meis­ter, Stadt­rä­te, Kom­man­die­ren­der Gene­ral, Kom­man­dan­tur, Kriegs­amts­stel­le“ – zusam­men. Das Ergeb­nis die­ser Bespre­chung kann gewis­ser­ma­ßen als Eini­gung auf eine ‚Revo­lu­ti­on in geord­ne­ten Bah­nen‘ bezeich­net wer­den :  „Gro­ße Ver­samm­lung zur Aus­ru­fung der Repu­blik soll Sonn­tag [also am nach­fol­gen­den Tage], Gene­ral­streik Mon­tag statt­fin­den. […] Im glei­chen Maße, wie Par­tei­lei­tung ruhi­gen Ver­lauf gewähr­leis­ten kön­ne, wol­len Behör­den vom Ein­grei­fen ihrer­seits abse­hen. […] Kom­man­die­ren­der Gene­ral und Ober­prä­si­dent bit­ten Bevöl­ke­rung Dan­zigs, Bür­ger und Sol­da­ten, Ruhe zu behal­ten und zur Auf­recht­erhal­tung von Ruhe und Ord­nung jeder nach Kräf­ten mit­zu­wir­ken.“ Von eben­die­sem Geist war auch ein „Friedens-Mahnruf der Sozi­al­de­mo­kra­tie“ geprägt, der am glei­chen Tag in Gehls „Dan­zi­ger Volks­wacht“ erschien.

Nur weni­ge Stun­den nach der Sit­zung war es eine Nach­richt aus Ber­lin, die um 15 Uhr die Dan­zi­ger Extrablatt-Leser erreich­te und zunächst Ruhe und Ord­nung in Fra­ge zu stel­len schien :  Der Kai­ser hat abge­dankt !  – „In Kaser­nen fängt tumult­ar­ti­ges Trei­ben an. Abset­zung von Vor­ge­setz­ten wird gefor­dert.“ Als ers­tes wählt das Infanterie-Regiment 128 einen Sol­da­ten­rat, ande­re wie die 5. Gre­na­die­re fol­gen. Zu einer Eska­la­ti­on der Lage kommt es jedoch auch nach die­ser Ent­wick­lung nicht – viel­mehr erklä­ren die Ein­hei­ten gegen­über der SPD-Parteiführung, sie stün­den „zur Auf­recht­erhal­tung der Ruhe und Ord­nung zur Ver­fü­gung“. Und dies scheint am 9. Novem­ber – dem Tag des Endes der Mon­ar­chie – dann auch gelun­gen zu sein. So ist die ein­zi­ge Bege­ben­heit, die Brön­ner über den Abend die­ses geschichts­träch­ti­gen Tages berich­tet, eher anek­do­ti­scher Natur :  „Kurz nach Mit­ter­nacht tref­fe tor­keln­den Betrun­ke­nen auf Domi­niks­wall. Brüllt sin­gend :  Frei­heit, Frei­heit, kei­ne Mau­ern, kein Zucht­haus, frei muß der Mensch sein, und unter­bricht sich dro­hend zu einem Pas­san­ten :  Ver­folgst du mir, was !  Du willst mir wohl ver­fol­gen ?  Pas­sant weicht wort­los aus.“

Großkundgebung und Gefängnisstürmungen

Eini­ge Stun­den vor Beginn der für Sonn­tag, den 10. Novem­ber, geplan­ten Groß­kund­ge­bung, um 9.30 Uhr, traf in Dan­zig ein Zug aus Rich­tung Dir­schau ein. Sei­ne Insas­sen, 150 Zivi­lis­ten und Mili­tär­an­ge­hö­ri­ge, gaben sich als Dan­zi­ger auf dem Weg zu ihren Ange­hö­ri­gen in der Stadt aus. Nichts Böses ahnend, ließ man sie gewäh­ren. Tat­säch­lich han­del­te es sich jedoch um – größ­ten­teils aus Gefäng­nis­sen befrei­te – Bol­sche­wis­ten, die nun eine regel­rech­te Wel­le von Gefäng­nis­er­stür­mun­gen in Dan­zig aus­lös­ten. Ziel waren die Mili­tär­ar­rest­an­stal­ten I und II in der Eli­sa­beth­kir­chen­gas­se bzw. am Schlüs­sel­damm, das Fes­tungs­ge­fäng­nis am Non­nen­hof, die Neben­ar­rest­an­stalt Schieß­stan­ge sowie das Gefan­ge­nen­la­ger Troyl. Über­all waren die Gefäng­nis­stür­mer erfolg­reich – wobei neben poli­ti­schen Häft­lin­gen und arres­tier­ten Sol­da­ten zudem tat­säch­li­che Straf­tä­ter befreit wur­den. Wenn die Erstür­mun­gen auch unter Andro­hung von Waf­fen­ge­walt erfolg­ten und von Plün­de­run­gen beglei­tet waren, kam es zu kei­nen ernst­li­chen Schuss­wech­seln oder gar Todes­op­fern. Das glei­che gilt für revo­lu­tio­nä­re Aus­schrei­tun­gen auf den Stra­ßen, die Brön­ner gleich­wohl ein­dring­lich beschreibt : 

In den Haupt­ver­kehrs­adern setzt zwi­schen 9 und 10 Uhr eine Jagd auf Sol­da­ten ein, die noch Kokar­den, Abzei­chen auf der Schul­ter, Sei­ten­ge­weh­re tra­gen. Es kommt zu Wort­wech­seln und Ges­ti­ku­la­tio­nen, nicht zu Blut­ver­gie­ßen, soweit bekannt gewor­den. Auch Offi­zie­re wer­den erst recht nicht geschont. […] Auch über uni­for­mier­te Poli­zei­be­am­te […] geht es her. Wo einer ange­hal­ten wird, bil­det sich im Augen­blick ein Men­schen­knäu­el, bald rechts, bald links vom Fahr­damm. Im Lauf­schritt eilen die ers­ten Stra­ßen­gän­ger zu, wie die Eisen­spä­ne zum Magne­ten. Ueber­all auf dem Pflas­ter Kokar­den und abge­schnit­te­ne Schulterklappen.

Ein­ge­denk der Ent­wick­lun­gen, wel­che die Revo­lu­ti­on etwa in Ber­lin nahm, ist es bemer­kens­wert, dass die Situa­ti­on in Dan­zig bei sol­chen Sze­nen in den Stra­ßen nicht wei­ter eska­lier­te. Ent­spre­chend fried­lich konn­te schließ­lich auch die Ver­samm­lung auf dem Heu­markt ver­lau­fen :  Es wur­den Reden gehal­ten, die rote Fah­ne gehisst und ein drei­fa­ches Hoch auf die Repu­blik aus­ge­ru­fen. Die Stim­mung der schät­zungs­wei­se 15.000 Anwe­sen­den beschreibt Brön­ner als eksta­tisch. Auch in den fol­gen­den Stun­den blieb die Stim­mung geho­ben :  „Wohin man kommt, in den Stra­ßen kichern­de Wei­ber, kecke Bur­schen, Schrei­en, Joh­len, Gram­mo­phon­lärm aus den Häu­sern, die Stra­ßen­bah­nen mit bre­chen­der Über­fracht auf Tritt­bret­tern und Puf­fern. Noch immer ist Krieg, noch immer rast an der Front das mor­den­de Feu­er ;  dar­an denkt nie­mand.“ Die Fei­er­lich­kei­ten hiel­ten auch noch an, nach­dem um drei Uhr die Waf­fen­still­stand­be­din­gun­gen bekannt wur­den. Trotz des ansons­ten fried­li­chen Ver­lau­fes kam es am Abend und an den Fol­ge­ta­gen durch­aus auch zu Ein­brü­chen und Plün­de­run­gen. Die­se ver­mehr­ten sich im Lau­fe von zwei Wochen der­art, dass es zu einer Rei­he von Ver­haf­tun­gen und sei­tens der Behör­den zur Andro­hung der Todes­stra­fe kam.

Innere Ordnung und äußere Konflikte

Auf dezi­dier­ten Wunsch des Sozi­al­de­mo­kra­ten Gehl blie­ben die bis­he­ri­gen Behör­den­spit­zen auch nach Aus­ru­fung der Repu­blik im Amt – von den Revo­lu­tio­nä­ren wur­de die Auf­recht­erhal­tung von Ruhe und Ord­nung garan­tiert. Plan­mä­ßig ver­lief am 11. Novem­ber der Gene­ral­streik, an dem sich neben den Arbei­tern auch die Sol­da­ten betei­lig­ten. Ab dem 13. Novem­ber zeig­te die Poli­zei – im Auf­trag der Räte – wie­der ver­mehrt Prä­senz auf den Stra­ßen. Jedoch :  Bereits ab dem 12. Novem­ber erreich­ten die Kom­man­dan­tur und Sol­da­ten­rä­te besorg­nis­er­re­gen­de Mit­tei­lun­gen aus dem Umland :  „Am Mit­tag wird Hil­fe gegen die Polen im Krei­se Kart­haus erbe­ten, die die Lie­fe­rung von Lebens­mit­teln ver­wei­gern und sich zusam­men­rot­ten […]. Nach­rich­ten lau­fen ein, daß auf dem Lan­de auch die Förs­ter ent­waff­net und von den Polen bedroht wer­den. Selb­stän­dig­keits­drang über­all, alles will aus den Fugen.“

Hier kün­digt sich an, was in den fol­gen­den Mona­ten und Jah­ren das Schick­sal West­preu­ßens prä­gen soll­te :  der – zumal durch die Ger­ma­ni­sie­rungs­po­li­tik der vor­an­ge­gan­ge­nen Jahr­zehn­te geschür­te – deutsch-polnische Natio­na­li­tä­ten­kon­flikt, der unter dem Vor­zei­chen des 14-Punkte-Programms des US-amerikanischen Prä­si­den­ten Wood­row Wil­son für Dan­zig die Grün­dung der ‚unge­lieb­ten‘ Frei­en Stadt bedeu­te­te. Ahn­ten Brön­ner und sei­ne Zeit­ge­nos­sen dies bereits ?  Mit dem 18. Novem­ber schließt sein Bericht :  „Aus Ber­lin kommt das Schlag­wort vom Null-Stundentag, aus Schle­si­en und Posen die Mel­dung von bevor­ste­hen­den Angrif­fen auf deut­sches Staats­ge­biet und der Ent­sen­dung deut­scher Abwehr­trup­pen, und man erin­nert sich des stol­zen Evan­ge­li­ums der jun­gen Repu­blik:  Frie­de, Frei­heit, Arbeit, Brot ! “