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»Lies auf einen Sitz, wenns geht«

Levins Mühle von Johannes Bobrowski

Es gibt nur wenige Bücher, bei denen es risikolos erscheint, sie Lesern ohne Einschränkungen anzuempfehlen. Dazu gehört mit hoher Wahrscheinlichkeit der erste der beiden Romane von Johannes Bobrowski (1917–1965):  Levins Mühle. 34 Sätze über meinen Großvater.

Dieses Buch erschien erstmals 1964 in Ost-Berlin und fand, wie bereits seine Übersetzung in eine Vielzahl von Sprachen bezeugt, bald eine breite inter­na­tionale Anerkennung. Dadurch trat zugleich eine ehemalige preußische Provinz in das Blickfeld, die nicht nur einen neutralen Raum für das Roman­ge­schehen bildet, sondern in den geschil­derten Menschen, in deren Verstri­ckungen oder in der Atmosphäre des Landes etwas gänzlich Unver­wech­sel­bares zu gewinnen scheint : Westpreußen. Dass sich Johannes Bobrowskis Geburtstag im letzten Monat, am 9. April, zum 100. Male gejährt hat, gibt somit einen willkom­menen Anlass, diesen Roman gerade auch denje­nigen ans Herz zu legen, die sich gleichsam schon von Natur aus für die Geschichte und Kultur des unteren Weich­sel­landes interessieren.

Die Geschichte 

Der aus Tilsit stammende Johannes Bobrowski erfuhr Anfang der 1960er Jahre von einer Chronik, in der die Geschichte eines (mit dem Dichter aller­dings nicht verwandten) Johann Bobrowski aus Malken überliefert worden war :  In Neumühl, nicht weit von Gollub entfernt, hatte er in den 1870er Jahren eine Mühle erworben ;  gut einen Kilometer unterhalb seines Betriebs lag – in Lissewo – eine weitere Mühle, die dem Juden Lewin gehörte und deren wirtschaft­licher Erfolg ihm zu schaffen machte. Deshalb sann er auf eine Möglichkeit, seinen Konkur­renten auszu­schalten. Er schloss die Schleusen, staute den Fluss so weit wie möglich – und ließ, ohne den anderen Mühlen­be­treiber zu warnen, die Wasser­massen los. Einer­seits ging der Plan auf, denn Lewins Betrieb wurde weitest­gehend zerstört. Anderer­seits kam es aber zu einem Prozess, bei dem Bobrowski schuldig gesprochen wurde ;  und selbst wenn er die Straf­zah­lungen noch aufbringen konnte, wurde er durch spätere Verwick­lungen wirtschaftlich ruiniert und wanderte mit seiner Familie nach Amerika aus.

Diese Vorgänge legte Johannes Bobrowski der Handlung seines Romans zugrunde – wagte sich somit an ein westpreu­ßi­sches Sujet, mit dem er sich zwangs­läufig auf (wie er selbst formu­lierte) »Graßsches Terrain« begab. Von dem Geschehen, das in der Chronik überliefert ist, übernahm er aller­dings nur die Grund­struktur. Nachdem »der Großvater«, zu dem die histo­rische Figur nun geworden ist, seine hinter­hältige Tat begangen hat, wird er zwar ebenfalls verklagt, weiß nun aber als mächtiger Patriarch den Prozess­verlauf durch Diskre­di­tie­rungen, Intrigen und Einschüch­te­rungen zu beein­flussen und letztlich ins Leere laufen zu lassen. Levin gibt auf und verlässt das Land. Gleichwohl kann der reiche Unter­nehmer die Früchte seiner krimi­nellen Handlungen nicht ungestört genießen. Er verliert in Neumühl seinen guten Ruf und zieht sich nach Briesen zurück.

Der Erzähler 

Die Verkettung der Vorgänge, die einzelnen Beweg­gründe oder gar die juris­tische bzw. moralische Beurteilung bilden aber nur eine Dimension dieses Textes. Eine andere betrifft die Art, in der wir von dieser Geschichte erfahren, betrifft die Grund­haltung, in der Bobrowski sich an seine Leser wendet. Diese Möglich­keiten mag die Passage verdeut­lichen, mit der überhaupt quasi alles beginnt, die Eröffnung des ersten Kapitels :

Es ist vielleicht falsch, wenn ich jetzt erzähle, wie mein Großvater die Mühle wegge­schwemmt hat, aber vielleicht ist es auch nicht falsch. Auch wenn es auf die Familie zurück­fällt. Ob etwas unanständig ist oder anständig, das kommt darauf an, wo man sich befindet – aber wo befinde ich mich ?  –, und mit dem Erzählen muß man einfach anfangen. Wenn man ganz genau weiß, was man erzählen will und wieviel davon, das ist, denke ich, nicht in Ordnung. Jeden­falls es führt zu nichts. Man muß anfangen, und man weiß natürlich, womit man anfängt, das weiß man schon, und mehr eigentlich nicht, nur der erste Satz, der ist noch zweifelhaft.

Also den ersten Satz.

Die Drewenz ist ein Nebenfluß in Polen.

Das ist der erste Satz. Und da höre ich gleich :  Also war dein Großvater ein Pole. Und da sage ich :  Nein, er war es nicht. Da sind, wie man sieht, schon Mißver­ständ­nisse möglich, und das ist nicht gut für den Anfang. Also einen neuen ersten Satz.

Was uns der Dichter anbietet – oder zumutet –, ist das strikte Gegenteil zur ehrwür­digen Regel einer Poetik, die mit der Formel »medias in res« dazu auffordert, unmit­telbar »zur Sache« zu kommen. Statt­dessen werden die Leser einge­laden, das Problem zu bedenken, unter welchen Bedin­gungen denn ein erster Satz – sofern dies nicht vorschnell geschehen soll – formu­liert werden könnte ;  statt einen konkreten Beginn geboten zu bekommen, wohnen sie anscheinend dem Akt des Beginnens selbst bei.

Damit ist bereits ein zentrales Merkmal dieses Erzählens umrissen. Bobrowski »beschreibt« nicht die Welt seines Romans, sondern entfaltet sie Schritt für Schritt im Vollzug der Sprache :  Er prüft verschiedene Voraus­set­zungen des Redens, erwägt mögliche Aussagen und deren Wirkungen, oder er widerruft, was missver­ständlich sein könnte, – stets werden wir Zeugen eines Prozesses, den wir weniger lesen denn hören, bei dem wir als Ohren­zeugen anwesend sind. Wir müssen deshalb Geduld aufbringen, den Wendungen der Gedanken und Formu­lie­rungen zu folgen, erst recht aber ist dabei eine große Konzen­tration erfor­derlich ;  denn was zunächst spiele­risch zufällig und unkal­ku­lierbar scheint, ist zugleich das Ergebnis einer raffi­nierten Dispo­sition und Konstruktion, deren Geschlos­senheit und Harmonie sehr genau wahrge­nommen werden wollen – und deshalb im Grunde eine ununter­bro­chene Lektüre erfor­derlich machten. Auf diesen Zusam­menhang hat Bobrowski seinen Brief­partner Klaus Wagenbach (am 13. September 1963) mit den folgenden Worten aufmerksam gemacht :  »Lies auf einen Sitz, wenns geht. Es ist nämlich auch die Abfolge im Tonfall überlegt, es verändert sich in sich fortwährend, wenn auch ein bißchen unauf­fällig, und korri­giert sich dauernd.«

Die Welt des Romans 

Auf dieser Grundlage werden die Leser bzw. Hörer ins Westpreußen des Jahres 1874 versetzt. Durch die Entscheidung für diese Zeit und diesen Ort hat der Roman – wie der Autor in einem Brief (an Gertrud Mentz, vom 9. August 1963) erläutert hat – »es also mit den gewissen natio­nalen und religiösen Gegen­sätzen zu tun, will aber gerade erweisen, daß die guten Leute zusammen leben können und es auch getan haben«. Freilich wird dieses »Zusam­men­leben« zunehmend erschwert, weil durch nationale, wenn nicht natio­na­lis­tische Tendenzen Gräben vertieft oder neu aufge­rissen werden und auch die konfes­sio­nellen Strei­tig­keiten, und zwar nicht nur zwischen (deutschen) Protes­tanten und (polni­schen) Katho­liken, sondern auch innerhalb der evange­li­schen Gruppie­rungen, zu immer neuen Konflikten führen. Einen Eindruck von diesem konfes­sio­nellen »Patchwork« vermittelt die folgende, ironisch zuspit­zende und fein diffe­ren­zie­rende Kartierung (aus dem 3. Kapitel) :

Man ist ein Mensch und hat Religion im Leib, bloß daß nun jeder seinen eigenen Topf kocht –

Da hat er vielleicht recht, mein Großvater. Wenn man sich überlegt :  hier in Malken sind die Evange­li­schen, die kennen sich nicht, unter­ein­ander, in Neumühl sitzen die Baptisten, die kennen sich, auf Abbau Neumühl die Adven­tisten, die auch, es hat alles seine zwei Seiten, in Trzianek sind die Sabba­tarier, in Kowalewo und Rogowo die Metho­disten, nach Rosenberg zu fangen die Mennoniten­dörfer an, das ist schon weiter weg.

Ein weiteres wesent­liches Moment dieser Welt sind zudem die inter­kul­tu­rellen Wechsel­be­zie­hungen, die Bobrowski mit dem frappie­renden Kunst­griff eines syste­ma­ti­schen Austauschs von charak­te­ris­ti­schen Namens­formen erfasst. So stellt er gleich im 1. Kapitel fest: »Die Deutschen hießen Kaminski, Tomaschewski und Kossa­kowski und die Polen Lebrecht und Germann. Und so ist es nämlich auch gewesen.« Nicht zuletzt gehört zu den Grund­be­din­gungen jenes multi­eth­ni­schen und multi­kon­fes­sio­nellen Zusam­men­lebens die ständige Präsenz von Stereo­typien, mit denen Bobrowski virtuos und varian­ten­reich zu spielen versteht. Sie leiten oftmals die Sicht­weisen der handelnden Personen und scheinen eine unbefangene, offene Wahrnehmung eines Gegen­übers von Vornherein nahezu unmöglich zu machen.

Musik 

Zu den beson­deren poeti­schen Quali­täten dieses Romans gehört die Sensi­blität des Autors für die Musik – wobei »Musik« hier eigentlich als Metapher für alle Weisen der sinnlichen Wahrnehmung zu verstehen ist. Dies dürfte die folgende Passage aus dem Ende des 11. Kapitels schlag­artig verdeutlichen : 

Maries Zigeu­neralt. Und Tante Huses scharfer Sopran. Habedank hat einen Tenor wie eine alte Oboe, manchmal aller­dings fügt er unver­sehens solche Klari­net­ten­gickser ein. Dann lacht der Levin, und Froese setzt jedesmal einen pechschwarzen Tubaton dagegen, schon beinahe ein Gebrüll. Manchmal antwortet, von den nahen Weide­gärten, eine alte Kuh darauf. Dann kann Marie nicht mehr weiter­singen. Dann steht für einen Augen­blick nur Tante Huses Sopran in der staub­weichen Sommerluft, die nach geschnit­tenen Wiesen riecht, die sich nur von den Stimmen bewegt, oder einer Pferde­bremse, oder den kleinen schwarzen Fliegen, die den Tieren um die Augen sitzen und sich in einem Schwarm erheben, wenn die Pferde den Kopf aufwerfen.

Diese Schil­derung lässt sich im Grunde wie eine Partitur lesen, wobei sich die Klänge, die der Autor sprachlich hervorruft, freilich bald jeder gewohnten Notation entziehen würden – von den feinen Luftschwan­kungen, die wir empfinden, oder von dem Geruch einer geschnit­tenen Wiese einmal ganz abgesehen. Es reicht offenbar nicht nur, den Text beim Lesen auch zu hören, sondern alle Sinne müssen dabei aktiviert werden, um diese vielfäl­tigen – und mannigfach mitein­ander verschränkten – Reize aufnehmen zu können.

 Dabei gewinnt die in diesem weiteren Sinne verstandene Musik eine noch tiefere, geradezu moralische Bedeutung ;  denn die Möglichkeit, sich den Klängen zu öffnen und deren Harmonie zu spüren, bildet offenbar die Gegen­kraft zur geistigen Enge, zur Herrsch­sucht und Habgier. Zu diesen Mächten, zu den »deutschen Behörden«, dem »deutschen Großvater« oder dem »deutschen Fußgendarm« bemerkt der Zigeuner Habedank, der kurz zuvor (in unserem Zitat) noch als Tenorist zu hören war, zu Beginn des 12. Kapitels lapidar :  »Alles keine Musikanten«.

»Westpreußen« 

Neben der genauen Zeichnung der Menschen, die mit ihren varian­ten­reichen und stark ausge­prägten Unter­schieden wie Gemein­sam­keiten die Bevöl­kerung der Provinz Westpreußen reprä­sen­tieren, gibt Bobrowski auch immer wieder eine hohe Affinität zu dem Land selber zu erkennen, das ihm durch die genauen Erzäh­lungen seines Vaters vertraut gewesen ist und dem er sich verbunden gefühlt hat. Wenn er zu Beginn des 2. Kapitels beispiels­weise eine Fahrt des Großvaters beschreibt, erweckt er den Eindruck, als habe er diese Strecke schon häufig selbst zurück­gelegt :  »Erst kommt mitten im Dorf und für einen guten halben Kilometer ein Kopfstein­pflaster, die linke Straßen­seite ungepflastert, als Sommerweg, dann hört das Pflaster auf, ein schlichter Sandweg folgt, im Dorf Gronowo ist eine Art grober Schotter angestampft, dann kommt, weil es die Gegend so hergibt, eine glatte Lehmchaussee […]«. Überdies begegnen (wie hier am Ende des 12. Kapitels) immer wieder Beschrei­bungen, die ein tiefes Verständnis für die westpreu­ßische Landschaft zu erkennen geben :

Die Nacht ist auf der Chaussee angekommen, jetzt geht es an Gronowo vorüber, an Neumühl vorbei, auf Gollub zu und die Drewenz hinab, irgend­wohin. Kühle Luft steht über dem breiten Tal, in dem die Weichsel daher­kommt mit ihrem dröhnenden Schweigen.

Sicherlich:  Bobrowski selbst kannte diese Region nicht aus eigener Anschauung und manche seiner sehr präzisen Beschrei­bungen genügen nicht einer genauen topo­graphischen Kontrolle. Dies kann bei einem Litera­turwerk, das eine eigene, in sich stimmige Welt entwirft, aller­dings kaum ins Gewicht fallen. Auch wenn seine Geschichte einen »Modellfall für das Verhalten der Natio­na­li­täten unter­ein­ander« bildet, – seine Erzählung und sein Erzählen selbst erschließen derart intensiv die Züge dieses Landes und die Verwer­fungen von dessen Geschichte, dass dieses Buch für alle, die sich mit Westpreußen vertraut machen wollen, geradezu eine Pflicht­lektüre bilden sollte.

Erik Fischer