Lisa Weeda: Aleksandra
Berlin: Kanon, 2023
Bereits als junges Mädchen habe sie die Geschichte des Zweiten Weltkrieges auf ungewöhnliche Weise in den Bann gezogen, bekennt die niederländische Schriftstellerin Lisa Weeda, die 1989 in Rotterdam geboren wurde; spätestens in jenem Moment, in dem die Großmutter beiläufig den Begriff »Ostarbeiterin« fallen ließ, öffnete sich schlaglichtartig ihr Blick auf die eigene Familienhistorie. Mit Wissensdurst und Empathie begegnet die Enkelin dem Herkunftsland ihrer Vorfahren mütterlicherseits und muss erkennen, dass die Ukraine selbst nach der völkerrechtswidrigen Annektierung der Krim auch in den Niederlanden im allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstsein kaum Beachtung gefunden hat. Über zehn Jahre erforscht und bereist Lisa Weeda mehrfach das Land, bis Ende 2021 ihr Debütroman, der den Namen der inzwischen 98-jährigen Großmutter trägt, wenige Monate vor dem russischen Angriffskrieg erscheint und alsbald Furore macht.
In Aleksandra durchmisst Lisa Weeda ein Jahrhundert aufwühlender Lebensgeschichten einer stolzen Donkosaken-Familie aus dem Donbass, die sich in ihrem ständigen erbarmungslosen Überlebenskampf unter stalinistischer und nationalsozialistischer Machtwillkür sowie den Repressionen durch das Putin-Regime nicht brechen lassen will, denn »Donkosaken beugen sich und stehen wieder auf«, so lehrte es der Urgroßvater. Folglich legt er an jenem tragischen Tag im November 1942, als deutsche Soldaten die 18-jährige Aleksandra mit zwei ihrer Cousinen in einen Waggon verfrachten, der sie zur Zwangsarbeit nach Griesheim in ein Werk der IG Farben transportieren soll, seiner Tochter mahnend die Worte ans Herz, niemals in ihrem Leben zu vergessen, dass sie Kind eines Donkosaken sei. – Die Eltern werden ihre Tochter nicht wiedersehen. Aleksandra wird heiraten und ihrem Mann in die Niederlande folgen, sechs Kinder gebären und aus Sorge, als Kollaborateurin verhaftet zu werden, zunächst nicht in ihre alte Heimat zurückkehren.
Bereits in ihrer frühen Jugend, im Winter des Jahres 1931, hatte Aleksandra die bittere Erfahrung von Verlust und Vertreibung machen müssen, als Horden mordender und plündernder Brigadiers über die Dörfer herfielen, um die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft einzuleiten und damit letztlich eine der größten Hungersnöte im 20. Jahrhundert auszulösen. Erschrocken und ahnungsvoll beobachtet das Kind, wie Familien, mit schwerbeladenen Fuhrwerken gegen den eisigen Wind ankämpfend, sich und ihr Vieh in Sicherheit zu bringen versuchen, und dabei verströmen sie »den Geruch nach verbranntem Holz. Am nächsten Morgen riecht die gesamte Umgebung so.« Bald sitzt auch Aleksandra, in dicke Schneestiefel und Schichten von Kleidern eingepackt, ein letztes Mal mit ihrer Baba, den Eltern und der Schwester am heimischen Abendbrottisch bei der »Abschiedswurst«. Diese Szene hat sich unauslöschlich bis ins hohe Alter in ihr Gedächtnis eingeschrieben: »Bei jedem Bissen, den wir nahmen, klirrten unsere Löffel an den Zinntellern. Körperlich spüre ich dieses Geräusch noch immer, als würden die Löffel über meine Haut schaben.«
Geschickt vermeidet die Ich-Erzählerin Lisa, den Lebenslauf der Großmutter chronologisch oder gar vollständig zu erzählen. Es sind einige wesenhafte dramatische Momente, die sie aus gemeinsamen Gesprächen bewahrt, um sie im zügigen Verlauf des Romans aus unterschiedlichen, rasch wechselnden (Zeit-)Perspektiven zu beleuchten und mit den Erlebnissen und Schicksalsschlägen anderer, älterer wie jüngerer Verwandter zu einer komplexen Familiengeschichte zu verweben.
Sinnbildlich steht dafür ein fiktives Sticktuch, das gemäß einer volkstümlichen ukrainischen Tradition die Lebenslinien aller Angehörigen nachzeichnen soll: die rote Farbe steht für Glück und Erfüllung, schwarz hingegen für Leid und Tod. Aleksandras Großmutter hatte mit dieser Handarbeit vor bald hundert Jahren begonnen. Nun bekommt Lisa den Auftrag, dieses Familienstück zum Grab von Kolja, einem Neffen der Großmutter (und somit ihrem Onkel) zu bringen, der nach den Unruhen auf dem Maidan in Lugansk monatelang als verschollen galt. Um diese verhängnisvollen Vorgänge aufzudecken, bedient sich die Erzählerin eines weiteren, auch in anderen Zusammenhängen auftretenden folkloristischen Motivs, indem sie märchenhaft weiße Hirsche mit einem goldenen Pfeil im Rücken – stolz und verletzlich zugleich – als Beobachter des Geschehens erscheinen lässt und auch sich selbst in solch eine Gestalt zu verwandeln vermag. Ähnlich dem Chor im antiken Drama fühlen diese Wesen mit, ahnen Unglück, ohne eingreifen zu können. Aus diesem Blickwinkel muss Lisa miterleben, wie Kolja immer stärker in die Fänge der neuen politischen Machthaber gerät – mit denen der eigene Cousin kooperiert –, bis er letztlich vom Kommandanten der Regionalbehörde auf zynische Weise um Gelder erpresst, drangsaliert und abgeführt wird.
Lisa wird ihren Onkel wiedersehen, »blutverschmiert und voller schwarzer Beulen«, sein »rechtes Auge ist hinter dem geschwollenen Lid nicht zu sehen«, und im »Nacken hat Kolja Abdrücke von Schuhsohlen. Seine rechte Schläfe ist eingebeult.« Nach seinem Tod begegnet sie ihm virtuell im »Palast des verlorenen Donkosaken«, jenem Ort, in dem all jene Donkosaken, die verstarben, ohne dass sie verabschiedet oder begraben werden konnten, eine Zuflucht finden und dort in der Hoffnung ausharren, dass sie dereinst, wenn ihr Land wieder befriedet ist, Erlösung finden.
Der Entwurf des imaginären Palastes ist ein überraschend kühner und zugleich überzeugender literarische Coup, mit dem Lisa Weeda ihre erfolgreichen beruflichen Erfahrungen als Virtual-Reality-Regisseurin gekonnt auf das Romangeschehen überträgt. Aus der Wirklichkeit eines Tages im August 2018 stolpert Lisa bei dem Versuch, die Grenzkontrolle von der Ukraine zur »Volksrepublik Lugansk« zu überwinden, förmlich Hals über Kopf in die Scheinwelt dieses Gebäudes hinein, das ironischerweise und unmissverständlich an den »Palast der Sowjets« erinnert, den in den 1930er Jahren von Stalin für das »neue« Moskau geplanten gigantomanischen Bau. Dort trifft sie auf ihren Urgroßvater Nikolaj; er wird sie von Zimmer zu Zimmer führen, jedes ist Zeugnis einer (Lebens-)Geschichte. Lisa wird vieles über ihre Familie erfahren und ihrerseits Tröstliches von Aleksandra erzählen – es ist ein ernsthafter, berührender, auch mit Witz geführter Dialog, ein Brückenschlag über Generationen hinweg, der geprägt ist von Verständnis und tiefe Empathie wachruft. (Zumindest ein ausführlicheres Beispiel für diese Gestalten und Atmosphäre schaffende Kraft der Imagination und für die poetische Dichte dieser Passagen ist als Textblock auf dieser Seite beigefügt.)
Pünktlich zum ersten Jahrestag des Krieges in der Ukraine, am 24. Februar 2023, hat der junge Berliner Kanon-Verlag die deutsche Übersetzung des Romans Aleksandra vorgelegt und gewährt damit auch der hiesigen Leserschaft den erfrischend eigenwilligen, vieles durchdringenden Blick auf eine Familiengeschichte, die exemplarisch für Schicksale in diesem von feindlichen Mächten bedrängten Land steht.
Ursula Enke