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In den Blick genommen

Jürgen Wiebicke: Sieben Heringe. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021

Sieben Heringe, eine Zuteilung auf Lebens­mit­tel­karten, sieben Heringe für eine ganze Familie, was sollte man damit anfangen, wo man weder Brot noch Kartoffeln hatte? Wenige Monate erst liegt der Krieg zurück, die Lebens­gefahr ist vorbei, doch von Norma­lität kann im Köln des Jahres 1945 keine Rede sein. In dieser Zeit, in der „Organi­sieren“ zum Alltag gehört, wächst eine Fünfzehn­jährige über sich hinaus, verhandelt, tauscht, sichert der Familie das Notwen­digste. Mit der – teils freiwil­ligen, teils hinein­ge­drängten –  Übernahme solch früher Verant­wortung verschafft sie sich Autonomie und Anerkennung. Noch Jahrzehnte später, als sie im Wissen um das bevor­ste­hende Lebensende das Vergangene zurückholt, indem sie ihrem Sohn davon berichtet, strahlen Begeis­terung und Zufrie­denheit auf: „Sie erzählt es mit Stolz und breit grinsend, wie eine erfolg­reich bestandene Prüfung. Ich verstehe allmählich, dass diese Episoden vom Hamstern für meine Mutter so bedeutsam sind, weil sie für das Helle und Gelungene in ihrem Leben stehen, das ansonsten von lauter Tragödien vollkommen verschattet wäre.“

In dem Wissen, dass die gemein­samen Stunden des Erzählens und des Zuhörens kostbar sind und unwie­der­holbar sein werden, teilen der Schrift­steller und Journalist Jürgen Wiebicke, Jahrgang 1962, und seine 1930 geborene Mutter eine intensive Nähe, die besonders wertvoll erscheint, da nicht alle, die als junge Menschen seelisch verwüstet aus dem Krieg gekommen sind, das, was sie so lange fest verschlossen haben, mitteilen und ein Bewusstsein entwi­ckeln können, welche Verwun­dungen die frühen Jahre im eigenen Leben angerichtet haben. „Ein Leben mit ganz viel Ernst und ganz wenig Leich­tigkeit. Das ist der rote Faden“, resümiert der Sohn anerkennend, denn für ihn, der in Wohlstand, Sicherheit und Zivili­siertheit aufge­wachsen ist, sind die Lebens­härten der Generation der Kriegs­kinder kaum vorstellbar. Denen, die durch Pflicht, Disziplin, Härte, auch gegen sich selbst, Kriegs­er­fah­rungen, Hunger und Not geprägt wurden, stehen kaum positive Erinne­rungs­anker zur Verfügung; zudem belasten häufig über Jahrzehnte gepflegte familiäre und gesell­schaft­liche Schwei­ge­gebote ebenso wie lange erfolg­reich einge­setzte Verdrän­gungs­me­cha­nismen. Erst die vertraute Erzähl­ge­mein­schaft im kurzen Zeitfenster von Krankheit und Todesnähe eröffnet Chancen, schafft neben Erkenntnis Verständnis, auch wenn sich zugleich Lücken auftun und Fragen entwi­ckeln, die keine Antworten mehr finden.

Dass Versöhnung am Ende des Lebens gelingen kann, erfährt Jürgen Wiebicke schon zuvor bei seinem Vater. Von einem Hof in Nieder­schlesien stammend, ist dem jungen, aus der Kriegs­ge­fan­gen­schaft kommenden Mann die Rückkehr in die Heimat unmöglich. Durch einen Zufall landet er im rechts­rhei­ni­schen Teil von Köln und lernt dort seine spätere Frau kennen. Deren Eltern stemmen sich – ein typischer Konflikt der Zeit – gegen die Verbindung mit dem „Habenichts“ aus dem Osten, obgleich sie selber keineswegs einer wohlha­benden Schicht angehören. Finan­zielle Sorgen begleiten das junge Paar, später die wachsende Familie über viele Jahre, dazu lastet der Gedanke an das ungeklärte Schicksal des von der Roten Armee nach Sibirien verschleppten Vaters schwer. Doch Sohn Artur, der als Postbe­amter sein Auskommen findet, gelingt, allen äußeren und inneren Schwie­rig­keiten zum Trotz, ein optimis­ti­scher Blick nach vorn. „Heimat ist da, wo die eigenen Kinder groß werden“, wird zu seinem „goldenen Satz“, und er kann mit Überzeugung versi­chern: „Ich habe im Leben doch immer nur Glück gehabt.“

Mehr als ein Dreivier­tel­jahr­hundert nach den Schrecken von natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Herrschaft, Gewalt, Krieg, Elend und Heimat­verlust ist die Mehrzahl der Zeitzeugen verstorben, wenige Hochbe­tagte leben noch. Unter den Nachge­bo­renen herrscht nicht selten die Auffassung, nun sei es genug mit dem Erzählen und Erinnern. Jürgen Wiebicke zeigt mit seinem Werk Sieben Heringe nicht nur, dass keineswegs auser­zählt ist, was die Generation, die im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutschland aufwuchs, erlebte und prägte; sein Bericht ist eine äußerst persön­liche und zugleich exempla­rische Annäherung an eben die kleinen biogra­fi­schen Geschichten im Kontext der großen Geschichte – und eine Ermutigung, im Erzählen und Weiter­geben innere Heimat zu finden. Mit dem Unter­titel „Meine Mutter, das Schweigen der Kriegs­kinder und das Sprechen vor dem Sterben“ wird die großartige Chance des Lebens­abends, die Patho­logie oft jahrzehn­te­langer Sprach­lo­sigkeit zu überwinden, benannt, die Wiebicke in der eigenen Familie erlebt hat. Das Buch, das aus der aktiven Begleitung der letzten Jahre von Mutter und Vater entstanden ist, zeugt von Dankbarkeit und Demut im Angesicht neu belebter Erinne­rungen der Eltern­ge­neration, bevor deren Spuren verblassen und sich verlieren. Dabei bleiben die Prägungen, die – ganz überwiegend unbewusst – an die nachfol­gende Generation weiter­ge­geben wurden, nicht ausge­spart, die innere Härte, das „Nazi-Gift“, wie Wiebicke es nennt, das in strikten Erzie­hungs­regeln, beim Umgang mit Nahrung und zahlreichen weiteren Aspekten des Lebens wirkte und das Mitein­ander beein­flusste. Daneben werden Paral­lelen zur aktuellen Situation des Auffla­ckerns einer neuen ‚Rechten‘ gezogen und darauf verwiesen, wie dünn die Decke der Zivili­sation ist bei denen, die „übersatt“ von Konfor­mität und demokra­ti­schen Kompro­missen eine neue „Lebens­in­ten­sität“‘ zu suchen scheinen.

Jürgen Wiebicke bietet in Sieben Heringe vor allem aber eine sehr lohnende Ausein­an­der­setzung mit dem eigenen Alter und der in unserer Gesell­schaft verbrei­teten Alltags­il­lusion der Unsterb­lichkeit. In ebenso klaren wie sensiblen Worten konfron­tiert er seine Leser mit der Unaus­weich­lichkeit der Begegnung mit der eigenen Endlichkeit. Die Radika­lität des Todes und die Hilflo­sigkeit aller mensch­lichen Annäherung sind nicht zu bestreiten, doch zeigt der Autor zugleich, welche Möglich­keiten darin liegen, sich dem Gedanken an das eigene Sterben nicht zu verweigern, und ermutigt, die Grenz­si­tuation des Abschieds vom irdischen Leben neu zu bewerten. Alle, die selbst den schlei­chenden Verlust von Autonomie, der unwei­gerlich mit dem Altern verbunden ist, zu bewäl­tigen haben, können sich wieder­finden in diesen Überle­gungen und sich dadurch stärken lassen. Jürgen Wiebicke ist zu danken dafür, dass er seine Erfah­rungen und die seiner Eltern aufge­schrieben und veröf­fent­licht hat – sein Buch ist wie ein Gespräch mit einem guten Freund, ein Geschenk an uns alle, eine kleine Kostbarkeit im Meer der oft austausch­baren Neuerscheinungen.

Annegret Schröder