Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee. Berlin: Suhrkamp, 2022
Es ist eine späte Annäherung, der sich der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ralf Rothmann stellt, nachdem er auf der Basis der Biografie seines Vaters mit seinen Romanen Im Frühling sterben (2015) und Der Gott jenes Sommers (2018) Erfahrungen aus Kriegs- und Nachkriegsjahren thematisiert hat: Das Portrait der Mutter in Die Nacht unterm Schnee. Bei der Lektüre wird einerseits deutlich, welche Traumata die seinerzeit sechzehnjährig aus Westpreußen Geflohene lebenslang prägten; zugleich steht die Protagonistin stellvertretend für alle Frauen und Mütter, die nach Krieg, Vergewaltigung, Flucht und Vertreibung ihren Weg im Spannungsfeld zwischen Verarbeitung und Verdrängung finden mussten.
Die Geschichte, die so nur er, der Sohn, schreiben kann, ist ihm gleichwohl zu nah, so dass er sich der Perspektive einer fiktiven Freundin als Ich-Erzählerin bedient, um Distanz wahren zu können. Verschränkt und kontrastiert werden die über mehrere Jahrzehnte angelegten Berichte der jüngeren Freundin Luisa mit schmerzhaft genau geschilderten Rückblenden auf die unmittelbaren Fluchterlebnisse der Mutter. (Lesern von Der Gott jenes Sommers ist Luisa vertraut; die Kenntnis dieses Bandes ist jedoch keine Voraussetzung für das aktuelle Buch.)
Wenn es ein Leitthema zu bestimmen gäbe für das Leben von Elisabeth (Liesel) Isbahner, dann müsste es „Kontrast“ heißen. In der westpreußischen Provinz als Tochter einer kinderreichen Landarbeiterfamilie geboren, zieht es das junge Mädchen früh in die Gegenwelt des eleganten Danzig – eine Welt ohne stupide körperliche Arbeit, Dreck oder Gestank. Als unerwartet die Großeltern ihr den Besuch der Mittelschule ermöglichen, scheint sich ihre Sehnsucht nach Komfort und Klasse (oder was sie dafür hält) zu erfüllen, aber mit dem näher rückenden Ende des Krieges und der überhasteten Flucht, bei der sie von den übrigen Treckmitgliedern getrennt wird, gerät sie in äußerste Lebensgefahr. Die verheerenden Erfahrungen, die sie in diesen Wintertagen machen muss, werden ihr ganzes zukünftiges Leben verdunkeln, doch erlebt Liesel erneut eine überraschende Wende. Während ihr ein Neuanfang in der Fördestadt Kiel – wenig glamourös – als Kellnerin gelingt, entwickelt die junge Frau eine fast unstillbare Lebenslust auf der Suche nach Liebe und dem bisschen Luxus der Nachkriegszeit. Sich auf Flirts mit Soldaten der Besatzungsarmee einlassend, Unmengen an Kaffee und Zigaretten konsumierend, mit Lippenstift und Nagellack, auch mit kostbarem Schmuck (der später noch eine besondere Rolle spielen wird), versucht sie, ihre Sehnsüchte zu stillen.
Als Liesel nach der Heirat mit dem seinerseits kriegstraumatisierten Melker Walter Urban in der Idylle eines schleswig-holsteinischen Gutes landet, das, unzerstört, seit mehr als 200 Jahren eine sichere „Burg“ für seine Bewohner darstellt (und in der Beschreibung an Herrenhäuser in Pommern oder Schlesien, an die verlorene Heimat im Osten erinnert), setzen sich die Widersprüchlichkeiten ihres Lebens fort. Zwischen Kuhweide und Hühnerstall bestimmt nun erneut dörflicher Alltag mit harter Arbeit, Verdruss und mangelnder Perspektive das Dasein. Von Beginn an ein ungleiches Paar, belastet durch die jeweils individuellen Traumata und die mehr als bescheidenen Verhältnisse, können sich die gegenseitigen Erwartungen von Walter und Elisabeth nicht erfüllen. Die unausgesprochenen Spannungen in dieser lieblosen Ehe nehmen beständig zu, werden lauter, eindringlicher, zumal in rascher Folge zwei Kinder geboren werden, die die Mutter zusätzlich fordern.
Die 50er Jahre bringen eine weitere Wende, als die Automatisierung der Landwirtschaft den Beruf des Melkers überflüssig macht. Mit dem Wechsel ins Ruhrgebiet, wo im Bergbau gutes Geld zu verdienen ist, erhoffen sich die Urbans ihren Anteil am Wirtschaftswunder. Ihre innere Trostlosigkeit, die Sprach- und Lieblosigkeit und die unerfüllten Sehnsüchte nehmen sie allerdings mit. Bei einem Besuch der jüngeren Freundin (der Ich-Erzählerin des Romans), die ein „perfektes“ Leben mit einem erfüllenden Beruf, einer glücklichen Beziehung und finanzieller Unabhängigkeit führt (und im Verhältnis zur Protagonistin Elisabeth mithin im strikten Gegensatz steht), zeigen sich die Enttäuschungen und Leerstellen deutlicher denn je.
Ungeachtet der geschilderten Paradoxien und Kontraste wirkt die Geschichte zu Beginn eher behäbig; mit zunehmender Erzähldauer verdichtet sich die innere Spannung des Textes, wird der Ton flüssiger – offenbar ein Indiz für die Schwierigkeiten des Autors, sich der eigentlichen Geschichte zu nähern. Die als Rückblende eingeschobenen Fluchterfahrungen, unsentimental und präzise geschildert, erweisen sich als die intensivsten, berührendsten Szenen – sicherlich auch, weil sie in einer auktorialen Perspektive verfasst sind. Die so „perfekte“ Ich-Erzählerin erscheint dagegen, vor allem in ihren jungen Jahren, in Ausdrucksweise und Haltung allzu „erwachsen“, dann aber auch wieder naiv und unecht, überdies viel zu sehr gegenwartsgeprägt (beinahe möchte man sie als „woke“ bezeichnen), als dass sie überzeugen könnte, auch wenn die konstruktive Bedeutung dieser Figur für den Autor nachvollziehbar ist.
Dass es Rothmann, dessen problematisches Verhältnis zur Mutter immer wieder durchscheint, gelingt, jeden Anklang einer „Abrechnung“ zu vermeiden, und dass er seine Intention, der Elterngeneration – mit seinen Worten – ein „Denkmal“ zu setzen, um „den hart arbeitenden Menschen und ihrem entbehrungsreichen Leben“ die Würdigung zukommen zu lassen, die zu ihren Lebzeiten nicht vorstellbar war, sensibel realisiert, macht den Roman trotz der beschriebenen Schwächen in der Gestaltung der Ich-Erzählerin sehr lesenswert: „Schließlich gibt es nur wenige Bücher“, sagt Ralf Rothmann, „die nicht aus Liebe geschrieben wurden, aus irgendeiner Form von Liebe“. Nicht zuletzt mit der Entscheidung, seinen Protagonisten die Vornamen der realen Personen Walter und Elisabeth, seiner Eltern, zu geben, werden Verbundenheit und späte Anerkennung verdeutlicht – eine Anerkennung, die stellvertretend alle meint, die belastende Kriegs- und Nachkriegserlebnisse zu verarbeiten hatten und haben.
Annegret Schröder