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In den Blick genommen

Stephan Thome: Pflaumenregen. Berlin :  Suhrkamp, 2021

Wäh­rend im fer­nen Pearl Har­bor die ame­ri­ka­ni­sche Pazi­fik­flot­te Ende 1941 durch japa­ni­sche Flug­zeu­ge ver­nich­tend ange­grif­fen wird, Deutsch­land dar­auf­hin an der Sei­te Japans den USA den Krieg erklärt und die mili­tä­ri­sche Lage glo­bal eska­liert, lebt schein­bar unbe­hel­ligt vom dra­ma­ti­schen Welt­ge­sche­hen in einem klei­nen Küs­ten­ort im Nor­den Tai­wans das acht­jäh­ri­ge Mäd­chen Umekon, das „Kind der Pflau­men­blü­te“. Erwar­tungs­froh eilt es durch die stei­len Gas­sen, sieht das wei­che Licht des Früh­lings durch die Bam­bus­blät­ter fal­len und gro­ße schwar­ze Schmet­ter­lin­ge, die den Blau­re­gen und die Orchi­deen umflat­tern. Kurz fällt sein Blick auf das Meer, das sich glatt wie Glas bis zum Hori­zont erstreckt, dann erreicht es den Sport­platz sei­ner Schu­le, wo bereits unter fre­ne­ti­schem Jubel ein Baseball-Spiel begon­nen hat.

In die­ser detail­reich geschil­der­ten Eröff­nungs­sze­ne legt Ste­phan Thome mit leich­ter Hand ers­te Spu­ren zu einem der zen­tra­len The­men sei­nes viel­schich­ti­gen Romans „Pflau­men­re­gen“, den er nach jener ein­zig­ar­ti­gen Jah­res­zeit zwi­schen Früh­ling und Som­mer benannt hat, in der zur Pflau­men­blü­te sanft und ergie­big ein wei­cher war­mer Regen fällt. Aufs engs­te mit zwei Kul­tu­ren ver­traut, ent­fal­tet er aus sei­ner Innen­an­sicht Tai­wans her­aus eine Lebens­ge­schich­te, die von Trau­ma­ti­sie­run­gen und trans­ge­ne­ra­tio­nel­len Pro­ble­men bestimmt wird, und ent­wirft zugleich ein Pan­ora­ma der kom­ple­xen his­to­ri­schen Zusam­men­hän­ge, deren Struk­tu­ren – unge­ach­tet aller Unter­schie­de – an die­je­ni­gen des 20. Jahr­hun­derts in Mit­tel­eu­ro­pa gemahnen.

Die Fah­ne mit der blut­ro­ten Son­ne, Umekons Leh­re­rin und die Sport­art selbst, die von Ame­ri­ka über Japan nach Tawain gekom­men ist, kün­den – nicht anders als die distin­gu­ier­te Frau des Gold­mi­nen­di­rek­tors in ihrem ele­gan­ten pflau­men­blau­en Kimo­no, der Umekon artig grü­ßend begeg­net – von der Kolo­ni­al­macht des Ten­no. Facet­ten­reich ent­steht en minia­tu­re das Bild einer Gesell­schaft, die sich nach dem Sieg Japans über Chi­na über fünf­zig Jahr­zehn­te wei­test­ge­hend assi­mi­liert hat und all­mäh­lich „in ihren Lebens­ge­wohn­hei­ten kaum von den Kolo­ni­al­her­ren unter­schied, obwohl sie die­sen nie­mals gleich­ge­stellt war“.

Die­se hei­le ver­trau­te Welt Umekons wird in dem Moment jäh erschüt­tert, in dem sie bei­läu­fig von den „eng­li­schen Teu­feln“ erfährt, bri­ti­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen aus Sin­ga­pur und Hong­kong, die in der kriegs­wich­ti­gen Kup­fer­mi­ne vor Ort arbei­ten sol­len. An einem kal­ten, neb­li­gen Novem­ber­tag muss ihre Klas­se sogar im Schul­hof Auf­stel­lung neh­men und mit anse­hen, wie Gefan­ge­ne dort drang­sa­liert wer­den. Umekon wagt nicht zu wei­nen. Sen­si­bel nimmt sie Ver­än­de­run­gen und die schlei­chen­de Bedro­hung wahr, traut sich aber kaum, dar­über zu spre­chen. All­zu oft hört sie den Satz: „Kin­der haben Ohren, kei­nen Mund.“ Ihr Leben lang wird sie mehr schwei­gen als reden – sinn­fäl­lig und berüh­rend ste­hen dafür jene Momen­te, in denen sie sich gleich­sam in stil­ler Zwie­spra­che den Pflan­zen und Blu­men zuwendet.

„Mit sei­ner Mut­ter über die Ver­gan­gen­heit zu spre­chen ist wie ein scheu­es Tier zu füt­tern. Eine fal­sche Bewe­gung und …“ – die­se Erfah­rung treibt Har­ry, einen der drei Söh­ne Umekons, um. Als er zum Geburts­tag sei­ner über acht­zig­jäh­ri­gen Mut­ter anreist – hier setzt die zwei­te Erzähl­ebe­ne ein, die Ein­bli­cke in das Leben im heu­ti­ge Tai­wan gewährt – trägt er im Gepäck ein Manu­skript bei sich, und weni­ge Andeu­tun­gen zei­gen, dass es sich hier­bei um die Lebens­ge­schich­te Umekons han­deln muss. Ste­phan Thome lässt Har­ry zu einem fik­ti­ven Alter Ego wer­den, der eben­so wie der Autor selbst zwei Rol­len aus­füllt: als Wis­sen­schaft­ler hat er zum einen akri­bisch die wech­sel­vol­le Geschich­te Tai­wans, sei­nes Hei­mat­lan­des, erforscht und kann mit seis­mo­gra­phi­scher Genau­ig­keit die poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen wie kul­tu­rel­len Vor­aus­set­zun­gen und die his­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen und Ver­flech­tun­gen dar­le­gen. Dabei fin­det er dann auch Doku­men­te, die das Leben der Mut­ter dort erhel­len, wo die Gesprä­che mit ihr vage blie­ben oder immer wie­der ver­stumm­ten. Zum ande­ren hat Har­ry auch im Roman die Geschich­te um die Prot­ago­nis­tin Umekon ent­wor­fen, die reich ist an nuan­ciert aus­ge­stal­te­ten Cha­rak­te­ren, stän­dig wech­seln­den Per­spek­ti­ven und ein­fühl­sam in der Beschrei­bung atmo­sphä­ri­scher Stim­mun­gen und Befindlichkeiten.

Nach dem Ende der glück­li­chen Kind­heit muss Umekon die dras­ti­schen Ver­än­de­run­gen erdul­den, die das Jahr 1945 mit sich bringt, als Japan kapi­tu­liert, Tai­wan an Chi­na zurück­fällt und damit eine bru­ta­le Reko­lo­ni­sie­rung beginnt. Für Umekon bedeu­tet dies die Auf­ga­be der japa­ni­schen Spra­che, offi­zi­ell den Ver­lust ihres ver­trau­ten Ruf­na­mens; gesell­schaft­lich macht sich Miss­trau­en breit, und es herrscht die Angst vor Ent­eig­nung, Kor­rup­ti­on und Bespit­ze­lung; auch Umekons Fami­lie wird unmit­tel­bar erfah­ren müs­sen, dass jeg­li­cher Wider­stand gegen­über den neu­en Macht­ha­bern gna­den­los gebro­chen wird.

Schließ­lich bren­nen sich die Ereig­nis­se um das berüch­tig­te Mas­sa­ker vom 28. Febru­ar 1947 – nach der Ver­haf­tung einer jun­gen Frau, die ledig­lich ille­gal Ziga­ret­ten ver­kauft hat­te, bra­chen Tumul­te aus, die tage­lang eska­lier­ten und in einem unfass­bar mör­de­ri­schen Blut­bad ende­te – für Jahr­zehn­te in das kol­lek­ti­ve Gedächt­nis der Men­schen ein. Für Umekon bleibt, unaus­ge­spro­chen, das Bild des Spei­chers haf­ten, auf den sie flüch­ten müs­sen, sobald sie auf den Stra­ßen die maro­die­ren­den Hor­den und das Knat­tern der Maschi­nen­ge­weh­re hören.

* * *

Nach sieb­zig Jah­ren – inzwi­schen hat auf Tai­wan der Demokra­tisierungsprozess Wah­len ermög­licht, die Geschich­te des Lan­des konn­te auf­ge­ar­bei­tet wer­den und jun­ge Men­schen wie ihre Enke­lin dür­fen für ihre poli­ti­schen Über­zeu­gun­gen demons­trie­ren – kehrt Umekon in Beglei­tung von Har­ry und zwei­er Enkel erst­mals wie­der an den Ort ihrer Kind­heit zurück. Traum­wan­delnd zwi­schen Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit sucht sie nach Ver­trau­tem, und es scheint, als habe sie Frie­den mit ihrem Leben gemacht.

Ste­phan Tho­mes Pflau­men­re­gen ist weit mehr als ein nur span­nend zu lesen­der Fami­li­en­ro­man. Von sei­nem lite­ra­ri­schen Talent hat der Autor in den ver­gan­ge­nen Jah­ren mit meh­re­ren preis­ge­krön­ten Wer­ken Zeug­nis abge­legt. Dane­ben haben ihn sei­ne wis­sen­schaft­li­chen Arbei­ten zu einem exzel­len­ten Ken­ner des Lebens­rau­mes von Umekon gemacht: Er stu­dier­te Phi­lo­so­phie, Reli­gi­ons­wis­sen­schaf­ten und Sino­lo­gie und hat soeben eine „Gebrauchs­an­wei­sung für Tai­wan“ ver­öf­fent­licht, wo er selbst inzwi­schen schon seit län­ge­rem lebt. Das Fak­ti­sche mit dem Fik­ti­ven gleich­ge­wich­tig zu ver­knüp­fen, ist Ste­phan Thome in beein­dru­cken­der Wei­se gelun­gen. Sein Buch eröff­net die Mög­lich­keit, das Schick­sal Tai­wans auch einer brei­te­ren Leser­schaft – und gera­de hier in Euro­pa – nahe­zu­brin­gen und ver­ständ­lich zu machen. So ver­mag sich am ehes­ten der Appell des Autors Gehör zu ver­schaf­fen, auf die­ses Land zu schau­en, das immer wie­der und gera­de heu­te in sei­ner Exis­tenz bedroht ist.

Ursu­la Enke