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In den Blick genommen

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. München: dtv, 2021

Vieles ist in den vergan­genen Monaten über Helga Schubert geschrieben und gesagt worden, nachdem sie im Sommer 2020 den renom­mierten Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen bekommen hat und darüber hinaus nun ihr jüngst erschie­nenes Werk für den Leipziger Buchpreis nominiert wurde. Es trägt den Titel der im letzten Jahr preis­ge­krönten Erzählung Vom Aufstehen, mit der die Autorin – „Ich bin ein Kriegskind, ein Flücht­lingskind, ein Kind der deutschen Teilung“ – ihren durch reiche Lebens­er­fahrung geschärften, abwägenden Blick auf Ein Leben in Geschichten beschließt. Die Form des Romans ist Helga Schubert, die immer wieder ihre große Bewun­derung für die Erzähl­kunst Anton Tschechows betont, fremd; sie schätzt statt­dessen kurze Prosa und gestaltet „Geschichten als Mikroskop. Geschichten als Spiegel“.

Die 29 eigen­wer­tigen, in sich gerun­deten Texte sind kunstvoll zu einem Corpus arran­giert, manche gleichen Minia­turen, und nur wenige werden auf mehr als zwanzig Seiten entfaltet. Sie folgen keinem biogra­phi­schen Verlauf, sondern gehorchen allein der kalei­do­skop­ar­tigen Verar­beitung verschie­dener Motive: die Mutter, Erinnerung und Heimat, der Glaube und die Sünde, der Duft, das Schreiben. Vielfältige Wahrneh­mungen können auf engstem Raum zu einer Erkenntnis verdichtet erscheinen, wie beispiels­weise beim existen­ti­ellen Nachsinnen in den „Dämme­rungen eines einzigen Tages“ oder in der assoziativ-flüchtigen Skizze „Winter­son­nen­wende“, mit der ein Schlag­licht auf das Leben in der DDR, ihrem „Zwergenland“, geworfen wird.

Dementgegen nimmt ihre Ausein­an­der­setzung mit der eigenen Familie in der Geschichte mit der vielsa­genden Überschrift „Eine Wahlver­wandt­schaft“ einen vergleichs­weise breiten Raum ein. Dabei weiß Helga Schubert – gewiss auch mit dem geschulten Blick einer Psycho­the­ra­peutin –, Wesent­liches und Prägendes zu benennen: die Flucht aus Hinter­pommern; den Tod des Vaters, den sie nicht hat wirklich kennen­lernen dürfen, dem sie aber stets nachtrauern wird; vor allem aber jenes vergeb­liche Flehen um die Liebe einer Mutter, die zwar die Urenkelin umschwärmt, der eigenen Tochter jedoch zumeist brüsk und gefühlskalt begegnet und ihr zum wieder­holten Male – auch noch auf dem Sterbebett – die eigenen vermeint­lichen „Helden­taten“ vorhält:

Erstens: Ich habe Dich nicht abgetrieben, obwohl dein Vater das wollte. Und für mich kamst du eigentlich auch unerwünscht. [Und dann nicht einmal ein Junge!] Wir haben deinet­wegen im fünften Monat gehei­ratet. Zweitens: Ich habe dich bei der Flucht aus Hinter­pommern bis zur Erschöpfung in einem dreiräd­rigen Kinder­wagen im Treck bis Greifswald geschoben, und drittens: Ich habe dich nicht vergiftet oder erschossen, als die Russen in Greifswald einmarschierten.

Solche Sätze haben das Kind verstört, aber die Tochter ist letztlich daran nicht zerbrochen, denn sie hat sich ihnen entge­gen­stellen und dazu eine Haltung einnehmen können – gerade so, wie Helga Schubert auch politisch auf ihre Weise stets Haltung gezeigt hat. Der Ton bezüglich ihrer Mutter oder anderer Widrig­keiten ihres Lebens ist niemals klagend, schon gar nicht anklagend. Ihre Worte sind klar und zielgenau, bisweilen von einer tiefen Sinnlichkeit geprägt. Hellsichtig schaut sie auf das Erlebte und auf Menschen, die ihr begegnet sind, sei es in einem anrüh­renden Gespräch, in dem sie sogar die Tränen nicht zurück­zu­halten vermag, oder sei es in einem nur scheinbar beiläu­figen Blick­wechsel im Friseursalon.

Immer wieder spürt der Leser eine unver­brüch­liche Liebe zum Menschen, die – in einer Formu­lierung von Ingeborg Bachmann – „mit dem ganzen Wesen auf ein Du gerichtet“ ist. Einer­seits mag diese Liebe in der festen Gläubigkeit der Autorin verankert sein, die, anders als die Mutter, von Kind an der Kirche angehörte und zu Zeiten der DDR als beken­nende Protes­tantin auftrat (und aufgrund dessen während der Wende auf Vorschlag der Kirche hin zur Presse­spre­cherin des Runden Tisches berufen wurde). Ihre Texte sind durch­zogen von Zitaten aus der Bibel und dem christ­lichen Liedgut, sowie von Fragen wie beispiels­weise zum Verständnis von Ostern oder dem vierten Gebot. Der Glaube ist ihr offen­sichtlich eine starke Orien­tie­rungs­hilfe. Von unschätz­barem Wert aber war und blieb bis heute jene bedin­gungslose verläss­liche Liebe, die das Kind durch die Großmutter väter­li­cher­seits erfahren durfte, an jenem „Sehnsuchtsort“ fern der Mutter, der zum Inbegriff von Gebor­genheit wurde: die Sommer­ferien lang umsorgt und verwöhnt, geliebt, in einer Hänge­matte zwischen Apfel­bäumen liegend, vom Wohlgeruch des frischen Hefeku­chens umgeben. „So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute.“

Dieser litera­risch höchst einfühlsame Einstieg und das resümie­rende, wesent­liche Motiv­fäden nochmals bündelnde Schluss­ka­pitel „Vom Aufstehen“ umrahmen den Erzählband, schlagen damit gleichsam einen Bogen von der Kindheit zum Lebens­abend. Dort geht es um den stillen Moment zur Morgen­stunde, im Bett – wie ehemals in der Hänge­matte – zu ruhen, noch für einen Moment die Gedanken und Erinne­rungen schweifen zu lassen und die „zwei Minuten in dieser wohligen Wärme und in diesem Laven­delduft“ zu spüren, bevor sie, die in über achtzig Jahren gelernt hat, auszu­halten, sich zu versöhnen und Frieden zu finden, tatsächlich „aufsteht“ und sich erfüllt von einer tiefen Liebe zu „ihm“, dem nun zu pflegenden Lebens­ge­fährten, zuwendet: „Ich drehe mich vom Fenster um, er breitet die Arme zu mir aus. Alles gut.“ – Eine Geschichte kann, wie Helga Schubert in einer ihrer Refle­xionen äußert, auch „ein sanftes Ausschwingen“ haben.

Ursula Enke