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In den Blick genommen

Verena Keßler: Die Gespenster von Demmin. Berlin :  Hanser, 2020 | Andreas Wunn: Mutters Flucht. Auf den Spuren einer verlorenen Heimat. Berlin: Ullstein, 2018 

Die Gespenster von Demmin

Die Pee­ne ist ein Fluss von hier. […] Sie hat noch kei­nen wei­ten Weg hin­ter sich, wenn sie sich durch Dem­min schlän­gelt, an Dem­min vor­bei, um Dem­min her­um schlän­gelt. Nie­mand weiß, was sie erin­nert. Ob sie die Tage im Mai noch in sich trägt, die Tage, in denen hier Hun­der­te ins Was­ser gin­gen, Stei­ne in den Taschen, Kin­der an den Leib gebun­den. Ob sie sich selbst rein­wa­schen kann oder man­ches für immer auf ihrem Grund bewahrt.

Mit dem Titel Die Gespens­ter von Dem­min und mit die­sen Sät­zen, die Vere­na Keß­ler ihrem Roman vor­an­stellt, wird der geo­gra­phi­sche Rah­men des Gesche­hens benannt und zugleich auf die Span­nung zwi­schen den his­to­ri­schen Ereig­nis­sen vom Früh­jahr 1945 und der Gegen­wart, in der die Roman­hand­lung ange­sie­delt ist, ver­wie­sen. Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges kam es in Dem­min aus Furcht vor der her­an­rü­cken­den Roten Armee und den zu erwar­ten­den Gräu­eln zu einem Mas­sen­sui­zid. Für die jun­ge Laris­sa, die in der Klein­stadt an der Pee­ne auf­wächst, sind es jedoch nicht die schwer las­ten­den Schat­ten der Ver­gan­gen­heit, die ihr das Leben uner­träg­lich zu machen schei­nen, sie kämpft viel­mehr mit einer ner­vi­gen Mut­ter, einer Tee­nie­freund­schaft in der Kri­se und erlebt ihre ers­te Lie­be. Vor dem Hin­ter­grund ost­deut­scher Tris­tesse mit Trash-TV und Neo-Nazis ste­hen Lan­ge­wei­le und Per­spek­tiv­lo­sig­keit des All­tags neben Begeg­nun­gen mit exis­ten­zi­el­len Fra­gen des Lebens; Ver­lust, Trau­er und Tod, his­to­ri­sche Trau­ma­ta wer­den mit per­sön­li­chen Adoleszenz-Erfahrungen verknüpft.

Laris­sa Schramm, genannt Lar­ry, fünf­zehn Jah­re alt, will nichts als raus aus Dem­min und berei­tet sich dar­auf in unge­wöhn­li­cher Wei­se vor. Mit ris­kan­ten Mut­pro­ben, die sie als Trai­ning für ihren Berufs­wunsch Kriegs­re­por­te­rin begreift, zeigt sie eine fast spie­le­ri­sche Nähe zum The­ma Tod und gibt Selbst­mord­fan­ta­sien Raum, die sich aus einem schwie­ri­gen Mutter-Tochter-Verhältnis – schon wie­der gibt es einen neu­en Mann im Leben ihrer Mut­ter, und die­ses Mal zieht der Neue gleich mit ein – und aus puber­tä­rer Todes­sehn­sucht spei­sen. Außer­ge­wöhn­lich auch Laris­sas Job auf dem Fried­hof, eine wei­te­re Form der Nähe zu Abschied und Tod, eben­so Aus­druck juve­ni­ler Uner­schro­cken­heit und der Wei­ge­rung, übli­che Ste­reo­ty­pen – die gesell­schaft­li­chen Tabu­be­rei­che Alter, Krank­heit und Tod – zu über­neh­men. Zugleich ist die­ser Fried­hof ein Ort des Erin­nerns, auch für die, die nicht „dabei“ gewe­sen sind, denn hier befin­det sich ein Mas­sen­grab für die Opfer des Dra­mas vom Mai 1945. Und auf eben die­sem Fried­hof ist der als Klein­kind bei einem Unfall getö­te­te Bru­der von Laris­sa begra­ben – eben­falls ein Tabu­the­ma und ein wei­te­res Ele­ment der engen Ver­schrän­kung von Leben und Tod. „Mein Bru­der war schon immer tot“, heißt es bei der Ich-Erzählerin. Die Kind­heit der Nach­ge­bo­re­nen wird geprägt durch den frü­hen Ver­lust der Eltern, wobei die Sprach­lo­sig­keit der Mut­ter kor­re­spon­diert mit der Sprach­lo­sig­keit derer, denen im Krieg das Ster­ben begeg­net war.

Zu denen, die Krieg und den hun­dert­fa­chen Tod in der Pee­ne unmit­tel­bar mit­er­le­ben muss­ten, gehört die betag­te Nach­ba­rin der Schramms, deren Geschich­te in einem par­al­le­len Erzähl­strang auf­ge­blät­tert wird. Die­se Zeit­zeu­gin, am Ende ihres Lebens­we­ges den Umzug in ein Senio­ren­heim vor­be­rei­tend, sieht sich zuneh­mend bedrängt von Bil­dern der Ver­gan­gen­heit, denen sie nicht (mehr) aus­wei­chen kann. In ihren Erin­ne­run­gen spie­len nicht nur die Men­schen, vor allem die Mit­glie­der ihrer Fami­lie, eine Rol­le, son­dern auch die Schwä­ne auf dem Fluss, die sei­ner­zeit von Sol­da­ten erschos­sen wor­den waren, kom­men dar­in vor.

Laris­sa wie­der­um gerät durch einen schwar­zen Schwan in tat­säch­li­che Todes­nä­he, als sie auf einem ver­eis­ten See ein­bricht, weil sie den Ver­such unter­nimmt, zu dem ein­ge­fro­re­nen Schwan zu gelan­gen, um ihn zu ret­ten – eine gera­de­zu gro­tes­ke Spie­ge­lung der dama­li­gen Ent­schei­dung zum Frei­tod durch Ertrin­ken in höchs­ter Not.

Noch zwei­mal begibt sich die eben­so todes­ver­lieb­te wie lebens­sehn­süch­ti­ge Lar­ry in unmit­tel­ba­re Todes­ge­fahr – einer­seits durch eige­ne, „kras­se“ Ideen aus­ge­löst, ande­rer­seits durch ihre Unfä­hig­keit, mit der neu­en Bezie­hung der Mut­ter zurecht­zu­kom­men –, bis schließ­lich ein jun­ger Mann, dem sie ähn­lich ambi­va­lent gegen­über­steht wie den her­aus­for­dern­den Lebens- und Ent­wick­lungs­the­men, ihr rät: „Ich fin­de, man soll­te sich ein­fach Mühe geben, zu über­le­ben. Egal, was einem pas­siert oder wie schlimm man gera­de alles fin­det.“ Die­ses Fazit, das sich auf das, was die Jugend­li­chen in Dem­min erle­ben, bezieht, passt jedoch auch auf die Situa­ti­on am Kriegs­en­de, als so vie­le Men­schen kei­nen ande­ren Aus­weg sahen, als sich das Leben zu nehmen.

So durch­zie­hen per­ma­nen­te, mal sub­ti­le­re, mal deut­li­che­re Anspie­lun­gen auf das zen­tra­le Todes­mo­tiv den Roman, zei­gen sich viel­fäl­ti­ge Par­al­le­li­tä­ten und Ana­lo­gien, dabei ist er unter­halt­sam zu lesen und von einer fort­wäh­rend spür­ba­ren Grund­span­nung geprägt. Vere­na Keß­ler, Absol­ven­tin des Deut­schen Lite­ra­tur­in­sti­tuts Leip­zig und diver­ser Schreib­werk­stät­ten, ver­leiht in ihrem Erst­ling der eigen­wil­li­gen Ich-Erzählerin eine lässig-coole, teil­wei­se schnodd­ri­ge Stim­me, mit unvoll­stän­di­gen Sät­zen, unge­wöhn­li­cher Wort­stel­lung im Satz oder einem Voka­bu­lar aus der Jugend­spra­che, damit die inhalt­li­che Schwe­re des Tex­tes gekonnt kontrastierend.

Doch die his­to­ri­schen und poli­ti­schen Umstän­de des Kriegs­en­des – und damit die Vor­aus­set­zun­gen und Bedin­gun­gen des Mas­sen­sui­zids in Dem­min – wer­den in Keß­lers Roman völ­lig aus­ge­blen­det. Nur in den Erin­ne­run­gen der alten Dame aus dem Nach­bar­haus scheint die Angst vor der Sie­ger­men­ta­li­tät der Rus­sen durch, aber auch bei ihr ist kei­ner­lei Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus zu fin­den, wird kein Ver­such einer his­to­ri­schen Ein­ord­nung unter­nom­men. Daher wirkt der Roman merk­wür­dig unbe­stimmt und bei­na­he „zeit­los“, obgleich die dra­ma­ti­schen Ereig­nis­se aus dem Mai 1945 den zen­tra­len Aus­gangs­punkt dar­stel­len, des­sen Schat­ten bis in die Gegen­wart rei­chen. Dem vom Ver­lag beton­ten Anspruch, die „Geis­ter“ der Ver­gan­gen­heit zu erlö­sen und die Kluft zwi­schen den Gene­ra­tio­nen zu über­win­den, kann Keß­ler so ledig­lich in Ansät­zen gerecht wer­den. Um der geschicht­li­chen Rea­li­tät der Ereig­nis­se von Dem­min auf einer ande­ren Ebe­ne nach­zu­spü­ren, emp­fiehlt es sich, das 2015 von Flo­ri­an Huber ver­öf­fent­lich­te Sach­buch „Kind, ver­sprich mir, dass du dich erschießt“ als ergän­zen­de Lek­tü­re zu nutzen.

Annegret Schröder


Mutters Flucht. Auf den Spuren einer verlorenen Heimat

Es sei eine „unwahr­schein­li­che“ Rei­se gewe­sen, die er gemein­sam mit sei­ner Mut­ter und dem Bru­der in eine Ter­ra inco­gni­ta der Fami­li­en­ge­schich­te unter­nom­men habe – dies resü­miert Andre­as Wunn am Ende sei­nes Berich­tes über „Mut­ters Flucht“. Da klin­gen Dank­bar­keit eben­so wie ein fast ungläu­bi­ges Stau­nen dar­über mit, dass es gelun­gen war, die 75-jährige ehe­ma­li­ge Leh­re­rin zu die­ser Fahrt in das Banat zu bewe­gen; dass sie die emo­tio­na­len und mit­un­ter kör­per­li­chen Stra­pa­zen bewäl­ti­gen konn­te; dass es eine Fül­le von höchst auf­schluss­rei­chen und bewe­gen­den Begeg­nun­gen gege­ben hat – und nicht zuletzt scheint ihn selbst der orga­ni­sa­to­risch rei­bungs­lo­se Ablauf die­ser 14-tägigen Unter­neh­mung im August des Jah­res 2017 zu frappieren.

Akri­bisch hat der Autor, den man­che Leser viel­leicht längst als ZDF-Moderator ken­nen­ge­lernt haben, sein Vor­ha­ben der Spu­ren­su­che vor­be­rei­tet, davon zeu­gen nicht nur das breit auf­ge­stell­te Lite­ra­tur­ver­zeich­nis, son­dern auch die Ergeb­nis­se sei­ner aus­führ­li­chen Recher­chen im Haus der Donau­schwa­ben in Sin­del­fin­gen. Dar­über hin­aus hat er im Vor­aus zahl­rei­che Kon­tak­te zu Bewoh­nern, einem Ver­tre­ter der deut­schen Min­der­heit, zu städ­ti­schen Ange­stell­ten vor Ort und befreun­de­ten Kor­re­spon­den­ten geknüpft. Somit war ein sta­bi­ler, ver­läss­li­cher Rah­men geschaf­fen, ein Garant für das Gelin­gen eines Pro­jek­tes, das the­ma­tisch von Unge­wiss­heit, Her­aus­for­de­run­gen und Schmerz geprägt sein würde.

Die Brü­der Wunn haben die­se Rei­se von Beginn an als Wag­nis ver­stan­den; die Vor­aus­set­zun­gen waren nicht unge­wöhn­lich, aber durch­aus kom­pli­ziert, denn es galt, eine Mau­er des beharr­li­chen Schwei­gens zu durch­bre­chen, um nach Ant­wor­ten auf ihre Fra­gen zur Fami­lie, Her­kunft und Per­sön­lich­keit ihrer Mut­ter suchen zu kön­nen. Über­ra­schen­der Wei­se war letzt­lich sie selbst es, die den Impuls für den Auf­bruch gab: Bil­der von den Flücht­lings­zü­gen des Jah­res 2015 ent­lang eben jener Bal­kan­rou­te, über die auch sie sich mit Groß­mutter, Mut­ter und Bru­der nach Deutsch­land durch­ge­kämpft hat­te, waren für sie ein erschüt­tern­des, fol­gen­rei­ches Déjà-vu, wor­auf­hin sie ent­schied: „Ihr könnt mich alles fragen.“

Aus­gangs­punkt der gemein­sa­men Erkun­dungs­fahrt ist das ver­trau­te pfäl­zi­sche Städt­chen Hau­en­stein, in dem die Fami­lie nach einer fast fünf­jäh­ri­gen Odys­see sess­haft gewor­den war; von hier aus beginnt mit dem Auto eine Zeit­rei­se von 1.329 Kilo­me­tern über 13 Etap­pen zurück bis an den Geburtst­ort Set­schan im Banat, nahe der rumä­ni­schen Gren­ze, in dem das Kind Rose­ma­rie im April 1945, noch kei­ne vier Jah­re alt, nicht län­ger gedul­det wur­de. Jeder ein­zel­ne Zwi­schen­auf­ent­halt auf der Rei­se in die Ver­gan­gen­heit wird nun für eine ganz eige­ne Erin­ne­rung oder Erfah­rung ste­hen: eine Not­un­ter­kunft für vie­le Geflüch­te­te im baye­ri­schen Hohen­furch, die dem klei­nen Mäd­chen zum ers­ten Male die Gefüh­le für Gebor­gen­heit und Nor­ma­li­tät ver­mit­telt; ein Son­nen­blu­men­feld, das als lebens­ret­ten­des Ver­steck auf der Flucht vor Grenz­po­li­zis­ten zum Leit­bild die­ser Lebens­ge­schich­te avan­ciert; jener denk­wür­di­ge Ort der Inter­nie­rung, an dem Frau­en und Kin­der Gräu­el­ta­ten aus­ge­setzt waren und der inzwi­schen durch auf­stei­gen­des Grund­was­ser ins Ver­ges­sen hin­weg­ge­schwemmt wor­den ist; das Lager, in dem der aus dem Hau­se ver­schlepp­te Vater ermor­det wor­den sein soll; die zur Rui­ne ver­kom­me­ne Müh­le der stol­zen, geschäfts­tüch­ti­gen Urgroß­mutter einer­seits, ander­seits die Post­sta­ti­on des Groß­va­ters, die, „prunk­voll, opu­lent, gül­den“ zu einer „Edel­hüt­te“ saniert, nun auf Filz­pan­tof­feln besich­tigt wer­den darf; und letzt­lich das Eltern­haus, aus dem die Mut­ter als ein­zig ver­blie­be­nes Relikt – und Zeug­nis vom Wir­ken des ihr in der Erin­ne­rung ver­lo­ren­ge­gan­ge­nen Vaters – klei­ne, ver­staub­te Apo­the­ker­fläsch­chen über­reicht bekommt.

„Nur lang­sam und behut­sam, mit­un­ter sehr zöger­lich, tas­tet sich mei­ne Mut­ter an die Orte ihrer Ver­gan­gen­heit vor, Schritt für Schritt. Dabei geht sie so vor­sich­tig, als lie­fe sie auf einem zuge­fro­re­nen See und habe Angst ein­zu­bre­chen.“ Sehr spar­sam, dann aber wir­kungs­voll, bedient sich der Autor der poe­ti­schen Spra­che, ansons­ten nimmt er sach­lich und nach bes­ter jour­na­lis­ti­scher Manier glei­cher­ma­ßen die indi­vi­du­el­len Erleb­nis­se wie die zeit­ge­schicht­li­chen und gesell­schafts­po­li­ti­schen Zusam­men­hän­ge dif­fe­ren­ziert in den Blick. Auf­merk­sam beob­ach­tet er die Reak­tio­nen sei­ner Mut­ter und nimmt ihre Befind­lich­keit wahr. Er will Ver­än­de­run­gen auf­spü­ren. Ver­su­che beharr­li­chen Nach­fra­gens aller­dings wer­den mal aus­wei­chend, mal brüsk abge­wehrt. Zuneh­mend ver­fes­tigt sich eine Ahnung zur Gewiss­heit, dass die Mut­ter sich nicht nur nicht erin­nern will – die immer wie­der­hol­te Über­zeu­gung lau­tet: „Ich schaue lie­ber nach vor­ne. Ich bli­cke nicht ger­ne zurück. Weil es nichts bringt.“ –, son­dern sich wohl gar nicht erin­nern kann. Nur Erzähl­tes, nichts Selbst­er­leb­tes aus den ers­ten sechs Lebens­jah­ren, weder das beglü­ckend Gute noch das ver­stö­rend Unheil­vol­le, schei­nen in ihrem Gedächt­nis bewahrt zu sein, viel­mehr lie­gen alle Erin­ne­run­gen wohl, so das treff­li­che Bild, in einem Tre­sor fest ver­schlos­sen, zu dem sich der Schlüs­sel nicht fin­den lässt oder zum ver­meint­li­chen Selbst­schutz nicht gefun­den wer­den soll – weder auf der Rei­se in die Ver­gan­gen­heit noch beim Betrach­ten der weni­gen geret­te­ten Fami­li­en­fo­tos. Nur in einem von weni­gen Momen­ten scheint das Eis zu bre­chen: „Hat dir dein Vater gefehlt als Kind?“ „Ach, ich glau­be schon. Aber war­um soll man das immer wie­der auf­wüh­len?“ Als sie fort­fährt, dass man auch nie an sei­nen Geburts­tag gedacht hät­te, da dies wahr­schein­lich zu emo­tio­nal gewe­sen wäre, ver­liert sie kurz die Con­ten­an­ce. „Trä­nen will mei­ne Mut­ter nicht zulas­sen. Doch sie kom­men trotz­dem, auch mir. Eine rich­ti­ge Umar­mung aber will uns nicht gelingen.“

Zu Recht stellt Andre­as Wunn zu Beginn sei­ner Spu­ren­su­che die Fra­ge, ob ein Ort über­haupt Hei­mat sein kann, an den man sich nicht erin­nert? Die Mut­ter ant­wor­tet ent­schie­den, dass sie mit die­sem Begriff wenig anfan­gen kön­ne. Die Erwar­tung der Söh­ne, viel­leicht auch des Lesers, eine sol­che Über­zeu­gung kön­ne wäh­rend ein­ge­hen­der Bege­hun­gen vor Ort und im Ver­lau­fe per­sön­lich bewe­gen­der Gesprä­che revi­diert wer­den, erfüllt sich nicht. Zwar hat die Rei­se sie gelehrt, die Trau­er ihrer eige­nen Mut­ter um den Ver­lust der Hei­mat zu ver­ste­hen, sie selbst aber ver­harrt in der Hal­tung: „Um bestehen zu kön­nen, muss man irgend­wann einen Schluss­strich zie­hen. Das hier war die Hei­mat mei­ner Mut­ter und mei­ner Oma. Ich bin hier gebo­ren, aber es ist nicht mei­ne Hei­mat.“ Dass sie ver­trie­ben wor­den sei und sich immer als Außen­sei­te­rin emp­fun­den habe, sei der Grund dafür, dass sie spä­ter zwar ein Zuhau­se gefun­den habe, dies aber nur ein „Wohn­ort ohne Wur­zeln“ blei­be. Statt­des­sen hat sie für sich eine „geis­ti­ge Hei­mat“ gesucht und in der Welt der Kunst, ins­be­son­de­re in der Welt der Far­ben des Expres­sio­nis­mus, gefunden.

Inter­es­san­ter­wei­se muss Andre­as Wunn für sich sel­ber eben­falls erken­nen, dass auch er den Begriff Hei­mat nicht im Her­zen trägt, und ver­mu­tet dar­in das Erbe der Mut­ter: „Habe ich auch kei­ne Wur­zeln, weil mei­ne Mut­ter kei­ne hat?“ Bei sei­ner aus Bra­si­li­en stam­men­den Ehe­frau hin­ge­gen habe er eine tief­ver­wur­zel­te Lie­be zu ihrer Hei­mat ken­nen­ge­lernt, „als etwas zutiefst Sinn­li­ches, geprägt von Melo­dien und Rhyth­men, Gedich­ten und Lie­dern, aber auch von Meer und tro­pi­schem Grün“.

Über die per­sön­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit der bemer­kens­wer­ten Lebens­ge­schich­te sei­ner Mut­ter hin­aus hat Andre­as Wunn kennt­nis­reich und mit offen­kun­di­ger Anteil­nah­me das Schick­sal der Donau­schwa­ben in den Blick genom­men, und nach­drück­lich beschreibt er, wie infol­ge der poli­ti­schen Ereig­nis­se die krie­ge­ri­schen Par­tei­en im Banat wüte­ten, wie gewach­se­ne Struk­tu­ren und Dorf­ge­mein­schaf­ten ver­nich­tet, Fami­li­en aus­ge­löscht wur­den und eine leid­vol­le Ver­trei­bung begann – und gemein­sam mit der Mut­ter reflek­tiert er dabei immer wie­der die Vor­gän­ge des Jah­res 2015, von denen die gan­ze Rei­se in die Ver­gan­gen­heit ihren Aus­gang genom­men hatte.

Ursula Enke