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Getrennte Geschichte – gemeinsame Erinnerung?

Eine aktuelle Studie erschließt das Spannungs­verhältnis zwischen der Flucht und Vertreibung der Deutschen und der europäischen Erinnerungskultur

Von Manfred Kittel

Flucht und Ver­trei­bung der Deut­schen aus ihren alten Staats- und Sied­lungs­ge­bie­ten im Osten um 1945 sind in den davon am stärks­ten gepräg­ten Län­dern Polen, Tsche­chi­en und Deutsch­land nach der gro­ßen euro­päi­schen Revo­lu­ti­on von 1989/90 immer wie­der zum gesell­schaft­li­chen Kon­flikt­the­ma gewor­den. Kris­tal­li­sa­ti­ons­punk­te die­ser Debat­ten waren als „Leit­me­di­en der Erin­ne­rungs­kul­tur“ regio­na­le und natio­na­le Muse­ums­pro­jek­te zur deutsch­böh­mi­schen und schle­si­schen Geschich­te im tsche­chi­schen Aus­sig (Ústí nad Labem) bzw. in Mün­chen, im pol­ni­schen Kat­to­witz (Katow­ice) bzw. in Gör­litz und vor allem auch die zumin­dest in ihrer Ent­ste­hung anti­po­disch zu ver­ste­hen­den Plä­ne für ein Ber­li­ner Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum zu „Flucht, Ver­trei­bung, Ver­söh­nung“ – mit ihrer pol­ni­schen Reak­ti­on in Gestalt eines Muse­ums des Zwei­ten Welt­krie­ges in Danzig.

Als Indi­ka­tor für die hohe Tem­pe­ra­tur der Kon­flik­te kann der per­so­nel­le Ver­schleiß gel­ten, der in die­sen Erin­ne­rungs­kul­tur­be­trie­ben habi­tu­ell erfolgt. Bis zur Eröff­nung brauch­te es – rech­net man Inte­rims­lö­sun­gen und zwar beru­fe­ne, aber dann noch vor Amts­an­tritt doch wie­der erfolg­reich ver­graul­te Per­sön­lich­kei­ten mit ein – min­des­tens zwei, in der Spit­ze (nicht nur in Ber­lin) gleich bis zu vier Grün­dungs­be­auf­trag­te bzw. ‑direk­to­ren. Die ein­zi­ge Aus­nah­me von die­ser Regel bil­de­te mit dem Gör­lit­zer Muse­um nicht ganz zufäl­lig jenes Pro­jekt, das am frü­hes­ten, in den noch stark von der ers­ten Ver­söh­nungs­eu­pho­rie nach 1989/90 gepräg­ten Jah­ren, auf den Weg gebracht wor­den war (Eröff­nung bereits 2006) und wo zudem von Anfang an kla­re Macht­ver­hält­nis­se in den Gre­mi­en herrsch­ten. Ein Son­der­weg wur­de dage­gen bei einem sieb­ten Muse­um beschrit­ten, das Vin­cent Regen­te in sei­ner unlängst erschie­ne­nen Mono­gra­phie Flucht und Ver­trei­bung in euro­päi­schen Muse­en eher in etwas kur­so­ri­scher Form noch mit in den Blick nimmt: dem Haus der Euro­päi­schen Geschich­te in Brüs­sel, in des­sen rie­si­gem The­men­spek­trum die His­to­rie der Ver­trei­bung natur­ge­mäß nur einen klei­nen, aber gleich­wohl wich­ti­gen Raum ein­nimmt. Hier lag die Haupt­ver­ant­wor­tung lan­ge bei dem in Brüs­sel qua­si nur neben­amt­lich agie­ren­den und inso­fern nur bedingt angreif­ba­ren Prä­si­den­ten des alt­be­währ­ten Bon­ner Hau­ses der Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, dem für alle Fäl­le ein pol­ni­scher Pro­fes­sor als Vor­sit­zen­der des Wis­sen­schaft­li­chen Bei­rats atta­chiert war.

Das Beharrungsvermögen tradierter Stereotypen

Die Stu­die Regen­tes wird von der Fra­ge gelei­tet, wes­halb die Dar­stel­lung der Ost­ver­trie­be­nen als Opfer des Zwei­ten Welt­krie­ges in der Erin­ne­rungs­kul­tur des ver­ein­ten Euro­pas auch nach Jah­ren der Ver­stän­di­gungs­po­li­tik nach wie vor so umstrit­ten ist und wel­che dis­kur­si­ven Ent­wick­lun­gen hier­bei zu Ver­än­de­run­gen führ­ten. Ant­wor­ten auf die­se Fra­gen sucht Regen­te sowohl in den inner­ge­sell­schaft­li­chen als auch in den zwi­schen­staat­li­chen und EU-weiten Dis­kur­sen der Unter­su­chungs­län­der Polen, Tsche­chi­en und Deutsch­land. Der aus arbeits­öko­no­mi­schen Grün­den auf die drei vom The­ma haupt­be­trof­fe­nen Staa­ten gerich­te­te Fokus ist nach­voll­zieh­bar, wenn­gleich das Weg­las­sen Öster­reichs nicht nur wegen der Rol­le Wiens beim Streit um die Beneš-Dekrete in den frü­hen 2000er Jah­ren etwas bedau­er­lich ist und Sei­ten­bli­cke vor allem nach Ungarn oder in die Slo­wa­kei natür­lich eben­falls noch von Inter­es­se gewe­sen wären. Auch der Auf­bau der Arbeit hat (nach eini­gen dis­ser­ta­ti­ons­ty­pi­schen Felg­aufschwüngen theoretisch-methodischer Art) sei­ne Plau­sibilität: Zunächst wer­den Flucht und Ver­trei­bung als his­to­ri­sches Ereig­nis dif­fe­ren­ziert reka­pi­tu­liert, bevor die Dis­kur­se dazu in der Zeit des Ost-West-Gegensatzes bis 1989/90 und danach in den Blick genom­men wer­den. Erst auf die­sem brei­ten, das hal­be Buch bean­spru­chen­den Fun­da­ment folgt dann eine Unter­su­chung von Geschich­te, Kon­zep­ti­on und Rezep­ti­on der sie­ben, teil­wei­se bis heu­te noch nicht eröff­ne­ten Museen.

Dabei macht sich bezahlt, dass der Ver­fas­ser für die Arbeit eigens nicht nur Pol­nisch, son­dern auch Tsche­chisch gelernt und den Anspruch hat, das The­ma nicht nur aus einer rein bin­nen­deut­schen Per­spek­ti­ve zu betrach­ten: Unse­re öst­li­chen Nach­bar­län­der, so moniert er zu Recht, wür­den in der Bun­des­re­pu­blik oft als „unter­kom­ple­xe Ein­hei­ten“ (S. 524) behan­delt, auf deren – aber gar nicht näher ver­stan­de­ne – Emp­find­lich­kei­ten pau­schal Rück­sicht zu neh­men sei. Auf sei­ner tri­na­tio­na­len Quel­len­grund­la­ge kommt Regen­te zu dem Ergeb­nis, dass geschichts­po­li­ti­sche Dis­sen­se oft auf einer selek­ti­ven The­ma­ti­sie­rung ein­zel­ner Pha­sen umstrit­te­ner his­to­ri­scher Ereig­nis­se und ihrer unter­schied­li­chen Kon­tex­tua­li­sie­rung beruh­ten. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Flucht und Ver­trei­bung hät­ten sich zwar mehr­fach in einem gemein­sa­men Dis­kurs­raum ver­eint, wären aber nur sel­ten in Dia­log oder Tria­log gemün­det. Selbst zwi­schen Tsche­chi­en und Polen habe es nur bedingt gemein­sa­me Posi­tio­nen (etwa auch zum Ber­li­ner Muse­ums­pro­jekt) gege­ben – Prag hielt sich sicht­lich zurück –, und die selbst­kri­ti­schen Debat­ten zum Ver­trei­bungs­the­ma in den öst­li­chen Nach­bar­län­dern wäh­rend der 1990er Jah­re sei­en in der Bun­des­re­pu­blik kaum regis­triert wor­den. Letzt­lich wären in allen Län­dern natio­na­le Per­spek­ti­ven und älte­re Meis­ter­er­zäh­lun­gen in Kraft geblieben.

Deutsche Missinterpretationen und polnische Verkürzungen

Regen­tes Stu­die dürf­te für deutsch­spra­chi­ge Inter­es­sen­ten schon des­halb auf­schluss­reich sein, weil sie vie­le Ein­zel­fra­gen durch inten­si­ve Spie­ge­lung in pol­ni­schen und tsche­chi­schen Dis­kur­sen um hier­zu­lan­de oft weni­ger bekann­te Aspek­te ver­tieft – nicht nur dort, wo es sich um die Muse­ums­pro­jek­te selbst han­delt, son­dern auch bei deren umfang­rei­cher Vor­aus­set­zungs­ge­schich­te seit 1945. Hier geht es etwa auch um das in Deutsch­land seit der EKD-Ostdenkschrift 1965 epi­de­misch gewor­de­ne Fehl­ur­teil, die West­ver­schie­bung Polens sei doch vor allem eine Ent­schä­di­gung für den Ver­lust der Ost­ge­bie­te der pol­ni­schen Zwi­schen­kriegs­re­pu­blik, der soge­nann­ten „kre­sy“, gewe­sen, was im Blick auf die gut vier­mal grö­ße­re Zahl der Deut­schen in den preu­ßi­schen Ost­ge­bie­ten ziem­lich abwe­gig ist. Regen­te ver­weist zudem dar­auf, dass die schrä­ge Kom­pen­sa­ti­ons­theo­rie zu kom­mu­nis­ti­scher Zeit in War­schau offi­zi­ell gar nicht ver­wen­det wur­de, um das Bünd­nis mit der Sowjet­uni­on, dem eigent­li­chen Haupt­pro­fi­teur der Grenz­ver­schie­bun­gen, nicht zu diskreditieren.

Die zähe kom­mu­nis­ti­sche und lei­der zugleich natio­nal­ka­tho­li­sche The­se von den urpol­ni­schen Oder / Neiße-Gebieten sieht Regen­te eben­falls kri­tisch: Die mit­tel­al­ter­li­che dynas­ti­sche Herr­schaft der Pias­ten in Schle­si­en etwa über damals dünn besie­del­te Gebie­te dür­fe nicht mit den Ver­hält­nis­sen eines moder­nen Ter­ri­to­ri­al­staa­tes spä­ter ver­wech­selt wer­den. Das Nar­ra­tiv blen­de oben­drein aus, dass die schle­si­schen Her­zog­tü­mer auf fried­li­chem Wege in den deut­schen Kul­tur­kreis über­ge­gan­gen sei­en. Der nach 1945 mit außer­ge­wöhn­li­cher Aus­dau­er über vie­le Jahr­zehn­te pro­pa­gier­te Mythos von den wie­der­ge­won­ne­nen Gebie­ten im Wes­ten habe aber den­noch „offen­kun­dig die Bevöl­ke­rung erreicht“ (S. 179) und zu einer teil­wei­se bis heu­te anhal­ten­den Akzep­tanz die­ses Deu­tungs­mus­ters bei­getra­gen. 1981 dien­te es dem Jaruzelski-Regime im Kampf gegen die angeb­lich vom Wes­ten kor­rum­pier­te Solidarność-Bewegung, indem man sich ein­re­de­te, „revan­chis­ti­sche“ Kräf­te in der Bun­des­re­pu­blik woll­ten den dro­hen­den Staats­bank­rott Polens zum Rück­kauf der Oder / Neiße-Gebiete nut­zen. Volks­pol­ni­sche Solidarność-Gegner brach­ten in die­sem Kon­text sogar – aller­dings ver­geb­lich – Bil­der von Ade­nau­er im Man­tel des Deut­schen Ordens, US-Präsident Rea­gan als Cow­boy und einem wei­te­ren his­to­ri­schen Rit­ter in Umlauf, um vor einem „dritte[n] Kreuz­zug nach Polen“ zu war­nen (S. 175).

Der tschechische Vertreibungsdiskurs

Der Ver­gleich die­ser pol­ni­schen Ver­trei­bungs­dis­kur­se mit den tsche­chi­schen bzw. tsche­cho­slo­wa­ki­schen ist beson­ders auf­schluss­reich. Zwar stieß der „Abschub“ der Deut­schen auch in der Bevöl­ke­rung der ČSSR auf brei­te Zustim­mung, doch lagen die Ver­hält­nis­se nicht nur wegen der ver­gleichs­wei­se schwa­chen Rol­le der katho­li­schen Kir­che und der ungleich grö­ße­ren Akzep­tanz der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei – gera­de in den „eth­nisch gesäu­ber­ten“ Sude­ten­ge­bie­ten – ganz anders. Hin­zu kam noch, dass die Pra­ger Bezie­hun­gen zu Russ­land auch wegen der sowje­ti­schen Poli­tik in der Zeit des Münch­ner Abkom­mens 1938 oder wegen des „Feh­lens“ eines tsche­chi­schen Katyn tra­di­tio­nell deut­lich bes­ser waren. Über­haupt war das The­ma Ver­trei­bung in den böh­mi­schen Län­dern, wo letzt­lich in einer spe­zi­el­len Art von Bür­ger­krieg zwei Drit­tel der Bevöl­ke­rung eines Lan­des das ande­re, sehr eng ver­wand­te Drit­tel kol­lek­tiv ver­trie­ben hat­ten, für das natio­na­le Selbst­ver­ständ­nis ungleich wich­ti­ger als in Polen, dem 1945 zum größ­ten Teil frem­de Staats- und Sied­lungs­ge­bie­te – fak­tisch doch als Ent­schä­di­gung für die unbe­schreib­li­chen Ver­wüs­tun­gen des Lan­des durch die NS-Besatzung – ein­ver­leibt wor­den waren.

Eine rela­tiv star­ke, kaum gewen­de­te ortho­do­xe kom­mu­nis­ti­sche Par­tei gehör­te vor die­sem Hin­ter­grund nach 1989/90 zu den Spe­zia­li­tä­ten des Ver­trei­bungs­dis­kur­ses in Tsche­chi­en. Die Wir­kun­gen die­ses Sach­ver­halts auf den äußerst müh­sa­men deutsch-tschechischen Dia­log hät­ten in Regen­tes Stu­die viel­leicht noch kla­rer her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den kön­nen. Sicher ist es scha­de, dass Václav Havels gro­ße frü­he Ver­söh­nungs­ges­ten bei füh­ren­den Sude­ten­deut­schen nicht auf frucht­ba­re­ren Boden fie­len. Für ein Gesamt­ur­teil soll­te man aber auch dazu sagen, dass etwa der tsche­cho­slo­wa­ki­sche Minis­ter­prä­si­dent Mari­an Čal­fa, mit dem sich der Spre­cher der Sude­ten­deut­schen Lands­mann­schaft (SL) Anfang der 1990er ver­geb­lich „durch drei­hun­dert Jah­re deutsch-tschechische Geschich­te kämpf­te“ (S. 246), ein lang­jäh­ri­ger KP-Funktionär war, der sei­ne Par­tei erst kurz zuvor ver­las­sen hat­te. Unklar bleibt an die­ser Stel­le auch, wes­halb es „wenig hilf­reich“ (S. 256) gewe­sen sein soll, dass die SL nicht bereit war, ihre bis­he­ri­ge Kern­ar­gu­men­ta­ti­on „gegen­über der ers­ten tsche­cho­slo­wa­ki­schen Repu­blik“ auf­zu­ge­ben. Denn hät­te es die letzt­lich auf Assi­mi­lie­rung abzie­len­de, im Kern fal­sche Natio­na­li­tä­ten­po­li­tik Prags in den Sude­ten­ge­bie­ten nicht gege­ben, könn­te man sich die gan­ze Henlein-Bewegung mit­samt der Anschluss-Begeisterung von 1938 doch allen­falls mit einer puren Lust an der NS-Ideologie selbst erklä­ren; und die spä­te­re Ver­trei­bung der Deut­schen wür­de dann – aber nur dann – tat­säch­lich wie eine gerech­te Stra­fe aussehen.

Museumsprojekte auf schwankendem Boden

Die auch nach 1990 kom­pli­ziert blei­ben­den Ver­trei­bungs­dis­kur­se in den Gesell­schaf­ten Mit­tel­eu­ro­pas spitz­ten sich in den 2000er Jah­ren noch zu, als Tsche­chi­en nicht ein­mal auf dem Weg zum EU-Beitritt den krass men­schen­rechts­wid­ri­gen Teil der Beneš-Dekrete auf­he­ben woll­te, der die Ver­trei­bung der Deut­schen mit einem schein­leg­a­len Män­tel­chen umhüllt hat­te. In Polen wur­den par­al­lel dazu die Akti­vi­tä­ten einer neu­en, in teils sehr zwei­fel­haf­tem Duk­tus auf das Eigen­tums­recht pochen­den „Preu­ßi­schen Treu­hand“ in der Bun­des­re­pu­blik, so win­zig die­se war, groß instru­men­ta­li­siert, um das ganz ande­re, vom Bund der Ver­trie­be­nen ver­folg­te Anlie­gen eines „Zen­trums gegen Ver­trei­bun­gen“ in Ber­lin zu ver­hin­dern. So war die poli­ti­sche Groß­wet­ter­la­ge, in der die Muse­ums­pro­jek­te die­ser Jah­re auf den Weg gebracht wur­den, das Dan­zi­ger 2008, das Ber­li­ner ein Jahr spä­ter kraft eines über­dehn­ten Kom­pro­mis­ses der schwarz-roten Koali­ti­on zur Grün­dung einer „Stif­tung Flucht, Ver­trei­bung, Ver­söh­nung“, erheb­lich angespannt.

Regen­te arbei­tet her­aus, wie die in die­sem Reiz­kli­ma erfol­gen­den Direk­to­ren­wech­sel oft auch mit neu­en inhalt­li­chen Wei­chen­stel­lun­gen ver­bun­den waren. Erstaun­lich, dass sich dies trotz der Span­nun­gen im deutsch-tschechischen Ver­trei­bungs­dis­kurs bei den Pro­jek­ten in Aus­sig und Mün­chen zumin­dest für die Öffent­lich­keit am wenigs­ten erschloss, auch wenn im böh­mi­schen Fall der star­ke alt­kom­mu­nis­ti­sche Ein­fluss in der Regi­on kaum zu über­se­hen ist. In Dan­zig dage­gen wur­de der ver­dien­te Grün­dungs­di­rek­tor erst auf den letz­ten Metern, prak­tisch mit der Eröff­nung sei­nes Hau­ses 2017, im Zuge eines kla­ren kul­tur­po­li­ti­schen Roll­backs durch die rechts­na­tio­na­lis­ti­sche Regie­rung in War­schau aus dem Ver­kehr gezo­gen. Im Schlesien-Museum in Kat­to­witz hat­te es gleich anfangs eine Dis­kus­si­on über den Anteil der deut­schen Geschich­te im Haus gege­ben. Die Aus­stel­lungs­ma­cher plan­ten, die­sen auch sei­ner wirk­li­chen Bedeu­tung ent­spre­chend breit dar­zu­stel­len und mit dem Kapi­tel der Indus­tria­li­sie­rung zu begin­nen. Der pol­ni­schen Rech­ten aber war das denn doch „zu deutsch“; und nach dem erzwun­ge­nen Rück­tritt des Grün­dungs­di­rek­tors 2013 wur­de die Kon­zep­ti­on geän­dert und statt­des­sen mit dem pias­ti­schen Schle­si­en begonnen.

Züge einer Real­sa­ti­re trug es, dass, wie Regen­te schil­dert, nicht nur der Direk­tor eines pol­ni­schen Regio­nal­mu­se­ums wegen angeb­lich zu gro­ßer Deutsch­freund­lich­keit aus dem Amt gedrängt wur­de, son­dern dass die­ser „Vor­wurf“ 2014 auch in Deutsch­land selbst (!) gegen den dama­li­gen Direk­tor der Bun­des­stif­tung Flucht, Ver­trei­bung, Ver­söh­nung, den Autor die­ses Bei­trags, erho­ben wur­de. Nach sei­nem Amts­ver­zicht, so jubel­te nicht nur eine Ber­li­ner Lokal­zei­tung, sei end­lich die „Fixie­rung aufs Deut­sche“ über­wun­den wor­den, wo sich die Ver­trie­be­nen­ver­bän­de doch ohne­hin „schlicht über­lebt“ hät­ten (S. 404). Ein neu­es Kon­zept nahm laut Regen­te gegen­über den frü­he­ren Aus­stel­lungs­plä­nen „ver­stärkt die kur­ze Linie“, also eine Ver­or­tung der Ver­trei­bungs­ur­sa­chen „im Kon­text des Zwei­ten Welt­krie­ges“ vor (S. 402), wäh­rend die län­ge­ren Lini­en – etwa Plä­ne poli­tisch rele­van­ter Grup­pen in Polen und der ČSR auch schon vor 1933/39, die Zahl der Deut­schen zu redu­zie­ren – in den Hin­ter­grund getre­ten sei­en. Dies habe aber sowohl „den von links­li­be­ra­ler Sei­te“ (S. 409) in der Bun­des­re­pu­blik stets erho­be­nen For­de­run­gen wie auch national-polnischen und ‑tsche­chi­schen Posi­tio­nen entsprochen.

Die Hin­ter­grün­de der sei­ner­zei­ti­gen Per­so­nal­in­tri­gen hät­te man mit ana­ly­ti­schem Gewinn auch noch etwas näher beleuch­ten kön­nen; denn etwa im Poli­tik­teil der FAZ oder noch aus­führ­li­cher in der von Regen­te ander­wei­tig gut berück­sich­tig­ten Sude­ten­deut­schen Zei­tung war ja bereits damals öffent­lich klar­ge­stellt wor­den, dass die auf eine Wech­sel­aus­stel­lung der Ber­li­ner Stif­tung bezo­ge­nen Vor­wür­fe, die ver­trie­be­nen Deut­schen als die „ein­zi­gen Opfer des Krie­ges“ gezeich­net zu haben (Gaze­ta Wybor­c­za), objek­tiv der Wahr­heit wider­spra­chen. Nur wur­den sie auch im lin­ken Medi­en­mahl­strom der Bun­des­re­pu­blik solan­ge hin und her gespült, bis auf poli­ti­scher Sei­te die übli­chen Refle­xe erfolgten.

Ideologische Asymmetrien

Der (erinnerungs-)kulturellen Hege­mo­nie der Lin­ken in der Bun­des­re­pu­blik seit 1968, auf die Regen­te in die­sen Pas­sa­gen impli­zit Bezug nimmt, scheint auch eine spe­zi­el­le lite­ra­ri­sche Usance sei­ner Dis­ser­ta­ti­on Rech­nung zu tra­gen: näm­lich Äuße­run­gen von His­to­ri­kern v. a. der Zeit- und der Ost­eu­ro­päi­schen Geschich­te, die poli­tisch heu­te – ähn­lich der Jour­na­lis­ten­klas­se – zu etwa 80 % rot-rot-grün zu ver­or­ten sind, nicht näher zu klas­si­fi­zie­ren, bei „kon­ser­va­ti­ven“ oder gar als „natio­nal­kon­ser­va­tiv“ gel­ten­den Geschichts­wis­sen­schaft­lern die­se Eigen­schaft dem Leser hin­ge­gen expli­zit mit­zu­tei­len. Gewiss wür­de es etwas lang­wei­lig, die Klas­si­fi­zie­rungs­pro­ze­dur bei der gro­ßen, unter­schied­lich aus­ge­präg­ten lin­ken Mehr­heit jedes Mal in glei­cher Wei­se zu voll­zie­hen. Doch zumin­dest in eini­gen extre­me­ren Fäl­len, etwa bei dem mehr­fach zitier­ten, in den 1950er Jah­ren tief im K‑Bereich ver­strick­ten Kurt Nel­hie­bel, einem der „anti­fa­schis­ti­schen“ Ober­kri­ti­ker der Ver­trie­be­nen­ver­bän­de, wäre die­se Infor­ma­ti­on im Sin­ne einer „Gleich­be­rech­ti­gung“ sicher­lich hilf­reich gewesen.

Und zwar umso mehr, als Regen­te viel zu viel über die Geschich­te des The­mas Ver­trei­bung weiß, um an vie­len Stel­len – unbe­scha­det sei­ner Maxi­me, sine ira et stu­dio schrei­ben zu wol­len – nicht immer wie­der diver­se Zeitgeist-Klischees auf­zu­spie­ßen. Die Ver­trie­be­nen sieht er trotz der Ver­stri­ckung auch vie­ler Ost­deut­scher ins NS-System aus­drück­lich als eine wenn­gleich spe­zi­el­le „Opfer­grup­pe“ (S. 20). Ihr Anspruch auf Erin­ne­rung sei berech­tigt. Und selbst bei den indi­vi­du­ell schul­dig Gewor­de­nen sei sehr frag­lich, ob deren Ver­trei­bung als eine im rechts­staat­li­chen Sin­ne ange­mes­se­ne „Bestra­fung“ betrach­tet wer­den dürfe.

Zwei­fel wer­den schließ­lich auch an der modi­schen The­se laut, das alte mul­ti­kon­fes­sio­nel­le und mul­ti­eth­ni­sche Ost-Mitteleuropa kön­ne als Vor­bild für die viel­be­schwo­re­ne mul­ti­kul­tu­rel­le Gesell­schaft der Gegen­wart tau­gen. Denn das ver­gan­ge­ne „Modell“ habe auf einer – heu­te unvor­stell­ba­ren – fes­ten Zuord­nung gesell­schaft­li­cher Rol­len nach Kon­fes­si­on und Eth­nie sowie struk­tu­rel­ler sozia­ler Ungleich­heit beruht. Beson­ders ver­dienst­voll ist aber, dass Regen­te auch dem skan­da­lö­sen Buch des pol­ni­schen His­to­ri­kers Jan Piskor­ski Die Ver­jag­ten Auf­merk­sam­keit schenkt, das wohl auch durch sei­ne Ver­öf­fent­li­chung in einem lan­ge sehr renom­mier­ten Ver­lag vor den eigent­lich über­fäl­li­gen Ver­ris­sen bewahrt wur­de. Regen­te erin­nert hier dar­an, dass Piskor­ski, der die Ver­trei­bung als eine his­to­ri­sche Not­wen­dig­keit betrach­tet, selbst den für Ost­deut­sche geschaf­fe­nen Inter­nie­rungs­la­gern, wo ab 1945 Tau­sen­de infol­ge sys­te­ma­ti­scher Gewalt ums Leben kamen, noch etwas Posi­ti­ves abge­winnt, ja sie als „eine Art Refu­gi­um“ ver­klärt, das sei­nen Insas­sen „in schwe­ren Zei­ten […] ein Mini­mum an Sicher­heit und Ver­pfle­gung“ gebo­ten habe (S. 140).

„Nehmt alles nur in allem“ hat Regen­te ein in vie­ler­lei Hin­sicht aus­ge­spro­chen auf­schluss­rei­ches Stück „public histo­ry“ geschrie­ben. Es bie­tet eine gute Grund­la­ge für künf­ti­ge His­to­ri­ker, um in 30 Jah­ren, wenn die Pro­to­kol­le von Stif­tungs­gre­mi­en und ande­re inter­ne Unter­la­gen zugäng­lich sein wer­den, die Hin­ter­grün­de einer noch zwei Gene­ra­tio­nen nach dem GAU so ver­strahl­ten Erin­ne­rungs­kul­tur der Ver­trei­bung aus den Quel­len darzustellen.