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Epidemien — damals und heute

Ein aktueller Blick zurück auf Danzig während der Großen Pest im Jahre 1709

Von Filip E. Schuffert

Heu­te, in Zei­ten, in denen uns die wahr­schein­lich schlimms­te Pan­de­mie der letz­ten hun­dert Jah­re ergrif­fen hat, wächst die Nei­gung, sich mit ver­gleich­ba­ren his­to­ri­schen Ereig­nis­sen und Erfah­run­gen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Das Inter­es­se rich­tet sich dabei vor­nehm­lich auf die ver­hee­ren­de „Spa­ni­sche Grip­pe“ der Jah­re 1918 bis 1920, die nach seriö­sen Schät­zun­gen min­des­tens 20, wenn nicht 50 Mil­lio­nen Men­schen­le­ben for­der­te. Aber auch ein Buch­ti­tel, der die wohl prä­gends­te Seu­che der Mensch­heits­ge­schich­te in Erin­ne­rung ruft, gewinnt neue Auf­merk­sam­keit: Mehr als 50 Jah­re nach sei­ner Ver­öf­fent­li­chung ist Albert Camus’ 1947 erschie­ne­ner Roman Die Pest neu­er­lich zum Best­sel­ler auf­ge­stie­gen. Oft frei­lich kommt gegen­wär­tig auch der „Schwar­ze Tod“ zur Spra­che, jene Pest, die im Mit­tel­al­ter (in den Jah­ren 1346 bis 1353) wüte­te und, obwohl sie längst als über­wun­den gilt, uns bis heu­te etwas höchst Schlim­mes, Bedroh­li­ches asso­zi­ie­ren lässt (so dass die Rede­wen­dung, jeman­dem „die Pest an den Hals“ zu wün­schen, immer noch als ein schwe­rer – in höchst übel­wol­len­der Absicht geäu­ßer­ter – Fluch ver­stan­den wird).

Ob es sich bei der in der Geschich­te so häu­fig auf­tre­ten­den „Pest“ immer um die­je­ni­ge Krank­heit han­delt, von der wir heu­te wis­sen, dass sie vom 1894 ent­deck­ten Bak­te­ri­um Yer­si­nia pes­tis aus­ge­löst wird, ist aus der Rück­schau nicht immer ein­deu­tig zu bestim­men. In man­chen Fäl­len sind gene­ti­sche Unter­su­chun­gen nicht mög­lich, und zuwei­len vari­ie­ren die Beschrei­bun­gen der­ma­ßen, dass unge­ach­tet des gleich­blei­ben­den Namens „Pesti­lenz“ schwer­lich stets die­se Krank­heit vor­ge­le­gen haben dürf­te. Die Unsi­cher­heit wird noch dadurch erhöht, dass bei­spiels­wei­se im Eng­li­schen (pla­gue) gar nicht zwi­schen „Pest“, „Seu­che“ oder „Pla­ge“ unter­schie­den wird.

Vie­le Epi­de­mien der Mensch­heits­ge­schich­te aller­dings sind gewiss der Pest im eigent­li­chen Sin­ne zuzu­schrei­ben; und die Krank­heit blieb kei­nes­wegs auf das „fer­ne“ Mit­tel­al­ter beschränkt, son­dern zir­ku­lier­te bis ins 18. Jahr­hun­dert hin­ein durch Euro­pa. In der Frü­hen Neu­zeit nahm sie zwar nicht mehr die Aus­ma­ße des „Schwar­zen Todes“ an, doch wüte­te sie in man­chen Regio­nen nicht min­der töd­lich: Die Gro­ße Pest der Jah­re 1708 bis 1714 führ­te zu erheb­li­chen Bevöl­ke­rungs­ver­lus­ten. Heu­ti­ge Schät­zun­gen nen­nen die – im Ver­hält­nis zur dama­li­gen Bevöl­ke­rungs­dich­te – erschre­ckend hohe Zahl von einer Mil­li­on Europäern.

Ein keineswegs waghalsiger Vergleich

Dass die­se Gro­ße Pest an ihrem Höhe­punkt auch Dan­zig heim­such­te, eröff­net eine span­nen­de Mög­lich­keit, aus der Gegen­wart her­aus um mehr als 300 Jah­re auf die dama­li­ge Situa­ti­on in der Stadt am Unter­lauf der Weich­sel zurück­zu­schau­en. Dies mag auf den ers­ten Blick über­ra­schend, wenn nicht abwe­gig wir­ken, denn natür­lich ist die durch das Sars-Cov-2-Virus aus­ge­lös­te Krank­heit Covid-19 nur schwer mit der Pest ver­gleich­bar. In einem Fall han­del­te es sich um ein Bak­te­ri­um, im ande­ren um ein Virus, und auch die Über­tra­gungs­we­ge unter­schei­den sich. Erfolgt die Infek­ti­on bei Coro­na über Tröpf­chen, wird sie bei der Beu­len­pest durch Floh­bis­se wei­ter­ge­tra­gen. Auch in der Mor­ta­li­tät zei­gen sich gra­vie­ren­de Unter­schie­de. Die in Dan­zig gras­sie­ren­de Beu­len­pest ver­lief in zwei Drit­teln der Fäl­le töd­lich, bei Coro­na liegt sie zwei­fels­frei niedriger.

Und doch gibt es durch­aus loh­nen­de Ver­gleichs­punk­te, ins­be­son­de­re mit der Pest in der Frü­hen Neu­zeit. Heu­te wie damals ist das Wis­sen über die jewei­li­ge Krank­heit begrenzt. Immer neue Erkennt­nis­se über die Über­tra­gung, den Ver­lauf, die Behand­lung und Prä­ven­ti­on kom­men all­mäh­lich zuta­ge; und in ers­ter Linie kön­nen bis­lang nur die Sym­pto­me behan­delt werden.

Selbst hin­sicht­lich der Glo­ba­li­tät, die unse­re Welt – und damit den Ver­lauf der aktu­el­len Pan­de­mie – bestimmt, ist eine ein­zel­ne Stadt am Beginn des 18. Jahr­hun­derts nicht gänz­lich einem ver­glei­chen­den Blick ent­zo­gen. In der Frü­hen Neu­zeit war Dan­zig als größ­ter Han­dels­ha­fen und größ­te Stadt Polen-Litauens ent­schei­den­der Dreh- und Angel­punkt des See­han­dels der Adels­re­pu­blik, der Rzecz­pos­po­li­ta, mit der Welt. In man­chen Jah­ren fan­den an die tau­send Schif­fe den Weg über die Ost­see nach Dan­zig, zahl­lo­se Boo­te und Flö­ße, die über das weit­läu­fi­ge Fluss­netz der Weich­sel aus dem Lan­des­in­ne­ren her­bei­ström­ten, nicht ein­ge­rech­net. Händ­ler aus diver­sen, weit ent­fern­ten Städ­ten kamen und gin­gen. Die Stadt an der Mün­dung der Weich­sel in die Ost­see wur­de damit zu einem Kno­ten­punkt hoher Mobi­li­tät, und heu­te wie damals gilt hohe Mobi­li­tät als Kata­ly­sa­tor von Epidemien.

Unter die­ser Vor­aus­set­zung lässt sich Dan­zig gera­de­zu als eine glo­ba­li­sier­te und eng ver­floch­te­ne Welt im Klei­nen ver­ste­hen – in der zudem bereits wirt­schaft­li­che Inter­es­sen, sozia­le Gegen­sät­ze, diplo­ma­ti­sche Kon­flik­te und nicht zuletzt Stra­te­gien der Infor­ma­ti­ons­po­li­tik wirk­sam sind, die nicht nur ent­fernt an heu­ti­ge Kon­stel­la­tio­nen erin­nern. Des­halb mag das Unter­fan­gen, die Covid-19-Pandemie und die Gro­ße Pest in Dan­zig auf­ein­an­der zu bezie­hen, zwar durch­aus unge­wöhn­lich sein, als wag­hal­sig aber dürf­te es nach die­sen Vor­hin­wei­sen wohl kaum noch erscheinen.

Die Pest naht

Ihren Anfang nahm die Pest damals 1702 / 1703. Als sie nach klei­ne­ren Aus­brü­chen als Beglei­te­rin des Gro­ßen Nor­di­schen Krie­ges 1704 Lem­berg erreich­te, blieb die dro­hen­de Epi­de­mie auch im übri­gen Land nicht ver­bor­gen. Dan­zig blieb eben­falls nicht untä­tig. Wohl wis­send, wie schwer es wer­den wür­de, sich von der Pest wie­der zu befrei­en – die Seu­che war Dan­zig nicht fremd –, wur­de vor allem auf Prä­ven­ti­on gesetzt. Die Stadt wur­de als schüt­zens­wer­ter Raum wahr­ge­nom­men, in den die Krank­heit nicht ein­drin­gen durfte.

Die „Prae­ser­va­ti­on“, wie die Dan­zi­ger Pest­ärz­te die Prä­ven­ti­on nann­ten, gestal­te­te sich aber schwie­rig, kann­te man doch den genau­en Aus­lö­ser der Krank­heit nicht und war über­zeugt, die Pest über­tra­ge sich über Mias­men, also „ver­pes­te­te“ Luft und aus dem Boden auf­stei­gen­de Dämp­fe oder käme als „Straff=Ruthe“ Got­tes über die Sünder.

Hier zei­gen sich Par­al­le­len zu den ers­ten, Ende 2019 auf­tre­ten­den Berich­ten über eine neue Lun­gen­krank­heit in Wuhan. Auch damals war wenig über die Krank­heit und ihre Über­tra­gungs­we­ge bekannt. In Euro­pa berei­te­te man sich auf den fer­nen Feind vor, doch wor­auf genau, war zunächst nicht klar. Spe­zi­fi­sche Maß­nah­men waren des­halb damals wie heu­te kaum möglich.

Aus­ge­hend von einer fal­schen Grund­an­nah­me beim Über­tra­gungs­weg, konn­te auch nicht an der Wur­zel des Pest­übels ange­setzt wer­den. Die prä­ven­ti­ven Maß­nah­men beruh­ten eher auf Beobachtungen.

Als ers­ter Schritt wur­den Infor­ma­ti­ons­netz­wer­ke mit ande­ren Städ­ten geschaf­fen. Mit den Infor­ma­tio­nen soll­te der Weg der Pest genau beob­ach­tet wer­den, so dass Ankömm­lin­ge aus betrof­fe­nen Gebie­ten gezielt abge­wie­sen wer­den konn­ten oder sich in Qua­ran­tä­ne bege­ben muss­ten. Ab 1705 war die Ein­rei­se nach Dan­zig nur mit einem Gesund­heits­schein mög­lich, wobei die Veri­fi­zie­rung sol­cher Zer­ti­fi­ka­te ange­sichts von Krieg und Bür­ger­krieg alles ande­re als ein­fach war. Ins­be­son­de­re hoch­mo­bi­len Grup­pen, wie Juden oder Schot­ten, wur­de der Ein­lass ver­wehrt, wobei kon­kret auf die Mobi­li­tät und den Han­del und nicht auf die Reli­gi­on oder Kon­fes­si­on ver­wie­sen wurde.

Vor allem bestimm­te Waren gerie­ten in den Fokus der Pest­ab­wehr. In der Frü­hen Neu­zeit war man über­zeugt, dass vor allem in luf­ti­gen Waren die ver­pes­te­te Luft ver­brei­tet wer­den konn­te. Tex­ti­len erfuh­ren folg­lich eine beson­de­re Behand­lung und muss­ten zuwei­len meh­re­re Wochen ein­ge­la­gert wer­den oder wur­den teil­wei­se sogar ver­nich­tet, wäh­rend kom­pak­te Waren, wie z. B. Getrei­de oder Holz, als ver­gleichs­wei­se unbe­denk­lich galten.

Um der in den Städ­ten oft schlech­ten Luft Herr zu wer­den, wur­den die Stra­ßen gerei­nigt. Eine Maß­nah­me, die nur auf den ers­ten Blick sinn­los erschei­nen mag, denn das Nah­rungs­an­ge­bot für die Rat­ten als Trä­ger der Flö­he wur­de damit reduziert.

Neben sol­chen all­ge­mei­nen Maß­nah­men wur­de auch an das Indi­vi­du­um appel­liert. So wie bei Coro­na Rau­chen, Über­ge­wicht oder über­mä­ßi­ger Alko­hol­kon­sum als Risi­ko­fak­to­ren gel­ten, wur­de auch im Dan­zig des 18. Jahr­hun­derts ver­sucht, mit Verhaltens- und Ernäh­rungs­rat­schlä­gen das Risi­ko einer Pest­er­kran­kung zu mini­mie­ren. So soll­ten „Leibes=Bewegung“, gesun­de Ernäh­rung (kein war­mes Brot, fast kei­ne Milch­pro­duk­te etc.) und ein guter Schlaf­rhyth­mus den Kör­per offen­hal­ten, so dass schlech­te Aus­düns­tun­gen den Kör­per ver­las­sen und kei­ne Pest aus­lö­sen können.

Eine wäh­rend der heu­ti­gen Pan­de­mie wie­der­holt geführ­te Debat­te betrifft Öff­nun­gen und Schlie­ßun­gen: „Schwe­di­scher Son­der­weg“, „Lock­down“, „Shut­down“, „Modell­pro­jekt“. Mit stei­gen­der Dau­er der Schlie­ßun­gen wer­den die Stim­men nach Öff­nun­gen immer lau­ter. Dabei spielt nicht nur die Sehn­sucht nach Amü­se­ment eine Rol­le, son­dern mehr noch exis­tenz­be­dro­hen­de wirt­schaft­li­che Fra­gen. Sehn­süch­tig blickt man zurück auf Zei­ten, als man noch ins Kino, Thea­ter oder Restau­rant durf­te oder als Betrei­ber damit ein Ein­kom­men erzie­len konnte.

Die Fra­ge nach Öff­nen oder Schlie­ßen stell­te sich ange­sichts der sich zuzie­hen­den Pest-Schlinge in der Han­dels­stadt Dan­zig mit beson­de­rer Dra­ma­tik. Im Stadt­rat strit­ten die Par­tei­en der Patri­zi­er, die Öff­nun­gen for­der­ten, und der Gelehr­ten, die die Stadt vor der kran­ken Umwelt ver­schlie­ßen woll­ten. Es setz­ten sich die Patri­zi­er durch, und der Stadt­rat ent­schloss sich, die Stadt und vor allem den wich­ti­gen Hafen offen zu halten.

Der Stadt­rat blieb geschlos­sen in der Stadt und über­nahm selbst die Füh­rung, so dass ihm eine ähn­li­che Rol­le zukam wie heu­te dem Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um. Die Exe­ku­ti­ve blieb damit voll hand­lungs­fä­hig. Sie ent­warf ein kom­ple­xes Hygie­ne­kon­zept, das Pest­prä­ven­ti­on und Öff­nun­gen in Ein­klang brin­gen sollte.

Auf der Weich­sel anrei­sen­de Händ­ler muss­ten sich an den neu ein­ge­rich­te­ten Kon­troll­punk­ten bei den Gast­stät­ten Herings­krug oder Kalk­scheu­ne aus­wei­sen, wur­den von Ärz­ten unter­sucht und erhiel­ten dann dort, wenn ihre Doku­men­te stimm­ten und ihnen Gesund­heit attes­tiert wur­de, Pas­sier­schei­ne, die ihnen die Ein­fahrt in die Stadt erlaub­ten. Kauf­leu­te, die den Land­weg wähl­ten, wur­den an den Stadt­to­ren kon­trol­liert. Die Doku­men­te beleg­ten den Weg der Anrei­se und muss­ten Ein­trä­ge jeder pas­sier­ten Stadt bzw. jedes Kon­troll­punk­tes ent­hal­ten – sozu­sa­gen eine Art Kon­takt­nach­ver­fol­gung. Schif­fe, die aus gefähr­li­chen Regio­nen nach Dan­zig kamen, muss­ten sich in eine acht­tä­gi­ge Qua­ran­tä­ne bege­ben. Wider­setz­ten sich Händ­ler den Anwei­sun­gen, soll­ten sie inhaf­tiert und ihre Waren ver­brannt werden.

Die Bezie­hun­gen zu von der Pest befal­le­nen Städ­ten wur­den kon­se­quent abge­bro­chen. Doch auf den Aus­schluss eige­ner Händ­ler reagier­te man in Dan­zig mit Ver­är­ge­rung und Unver­ständ­nis, so 1708 gegen Königs­berg und Leip­zig – hier zeigt sich eine für die Pest­zeit nicht ganz unty­pi­sche Dan­zi­ger Doppelmoral.

Die Pest ist da

Am 27. Janu­ar 2020 erreich­te – allen prä­ven­ti­ven Maß­nah­men zum Trotz – das Corona-Virus Deutsch­land. Es wur­de fest­ge­stellt, dass sich Coro­na auch ohne Krank­heits­sym­pto­me ver­brei­ten konn­te und die Vor­keh­run­gen nicht aus­ge­reicht hat­ten. Mit der Zeit wur­de aus nach­ver­folg­ba­ren Ein­zel­fäl­len die ers­te Corona-Welle.

Eben­falls unge­ach­tet der „Prae­ser­va­ti­on“ begann die Pest Ende 1708 auch in Dan­zig ein­zu­zie­hen. Schon im Novem­ber wur­den in den unab­hän­gi­gen Vor­städ­ten ers­te Pest­fäl­le gemel­det, die aber im kurz dar­auf ein­set­zen­den Win­ter wie­der erlo­schen und in Ver­ges­sen­heit gerie­ten. Mit stei­gen­den Tem­pe­ra­tu­ren im März erwach­te die Pest jedoch aus ihrem Win­ter­schlaf und griff um sich – dies­mal auch inner­halb der Stadt. Hin­wei­se des Arz­tes Joh. Kanold an den Rat, er habe im Mai an Pati­en­ten ein­deu­ti­ge Pest­sym­pto­me dia­gnos­ti­ziert, wur­den bewusst igno­riert. Die Ver­brei­tung „fal­scher Nach­richt“, also dass die Pest da war, wur­de sogar ver­bo­ten. Die Seu­che konn­te sich wäh­rend­des­sen unge­bremst in der Stadt aus­brei­ten. Doch bereits im Juni stie­gen die Todes­zah­len der­ma­ßen, dass eine wei­te­re Leug­nung nicht mehr mög­lich war.

Wie­der stell­te sich dem Stadt­rat die Fra­ge nach öff­nen oder schlie­ßen, und wie­der ent­schied sich der Rat dafür, die Stadt, den Hafen und alle Märk­te offen zu hal­ten. Auch öffent­li­che Ver­samm­lun­gen und Got­tes­diens­te waren, anders als heu­te, ohne Ein­schrän­kun­gen erlaubt, Got­tes­diens­te wur­den sogar ver­pflich­tend. Dadurch blie­ben die Stadt und ihre Bevöl­ke­rung ruhig, eine gro­ße Flucht­wel­le blieb trotz der hohen Todes­zah­len aus.

Konn­te man die Pest nicht von der Stadt fern­hal­ten, so soll­te sie zumin­dest in der Stadt besiegt und vom öffent­li­chen Leben fern­ge­hal­ten wer­den. Unter gro­ßem finan­zi­el­lem Auf­wand wur­den die medi­zi­ni­schen Struk­tu­ren aus­ge­baut und ein mit dem Gesund­heits­amt ver­gleich­ba­res Col­le­gi­um Sani­ta­tis geschaf­fen, das Kran­ke iden­ti­fi­zie­ren, iso­lie­ren und die Behand­lung koor­di­nie­ren soll­te. Mit stei­gen­den Fall­zah­len wur­den sie­ben Pest­häu­ser und elf Fried­hö­fe aus­ge­wie­sen. Wäh­rend die ärme­re Bevöl­ke­rung in sol­chen meist am Stadt­rand gele­ge­nen Hos­pi­tä­lern iso­liert wur­de, konn­ten die rei­chen Bür­ger dank ihren Bediens­te­ten ihre Ver­sor­gung in den eige­nen Häu­sern sicherstellen.

Um die Pest­kran­ken zu ver­sor­gen, wur­den gering qua­li­fi­zier­te Ärz­te, prak­ti­zie­ren­de Hei­ler oder Bar­bie­re ein­ge­stellt. Auch in den umlie­gen­den Städ­ten wur­de ver­sucht, Ärz­te abzu­wer­ben, jedoch eher erfolg­los. Ende Juli 1709 waren ins­ge­samt fünf­zehn zusätz­li­che Ärz­te und Feld­sche­re ein­ge­stellt wor­den. Die eta­blier­ten Ärz­te hiel­ten sich hin­ge­gen von den Pest­kran­ken fern, sehr wohl um die Bedroh­lich­keit der Pest wis­send und um ihre gut zah­len­de und gesun­de Stamm­kund­schaft nicht zu verlieren.

Den Ärz­ten wur­den jeweils vier Gehil­fen zur Ver­fü­gung gestellt, wobei es immer einen Schrei­ber gab, der alle Fäl­le doku­men­tie­ren muss­te. In den Pest­häu­sern gab es zudem wei­te­re Pfle­ger. Eine Dan­zi­ger Beson­der­heit waren Pest­heb­am­men, die pest­kran­ke Schwan­ge­re und die oft­mals bald ver­wais­ten Säug­lin­ge betreuten.

Ins­ge­samt betrug das Per­so­nal, das die Pest­kran­ken betreu­te, knapp unter hun­dert Per­so­nen. In den Hoch­pha­sen der Pest muss­te jeder Pest­arzt 150 bis 200 Pati­en­ten versorgen.

Par­al­lel zu den ver­bes­ser­ten medi­zi­ni­schen Struk­tu­ren wur­den zusätz­li­che Geist­li­che, soge­nann­te pas­to­res pestilen­tia­lis, ange­wor­ben, die sich eigens um die Pest­kran­ken küm­mern soll­ten. Auf­grund der Über­zeu­gung, die Pest sei sowohl ein Lei­den des Kör­pers wie des Geis­tes, kam ihnen eine ähn­li­che Bedeu­tung zu wie den Ärz­ten. Auch konn­te der Stadt­rat durch die Pre­dig­ten Ein­fluss auf die öffent­li­che Ord­nung in der Stadt neh­men, denn die Pre­di­ger äußer­ten, was ihnen befoh­len wur­de. In den ver­pflich­ten­den Got­tes­diens­ten kam den Pre­di­gern die Auf­ga­be zu, „das Volck zu unter­rich­ten /  wie sie von der Pest recht urt­hei­len“, um letzt­lich „auff Bes­se­rung ihres Lebens“ hin­zu­wir­ken und die Ruhe und Ord­nung in der Stadt zu bewahren.

Die Pest bot vor allem min­der­qua­li­fi­zier­ten Pre­di­gern und Medi­zi­nern die Mög­lich­keit zu einem raschen Auf­stieg – sofern sie die Pest selbst über­leb­ten. Sie erhiel­ten wäh­rend der Epi­de­mie hohe Löh­ne und kos­ten­lo­se Dienst­woh­nun­gen – jedoch in unmit­tel­ba­rer Nähe zu den Pest­hos­pi­tä­lern –, und für die Zeit nach der Epi­de­mie wur­den ihnen eige­ne Pfar­rei­en oder Pra­xen sowie lebens­lan­ge Steu­er­erleich­te­run­gen in Aus­sicht gestellt. Boni, von denen heu­ti­ges medi­zi­ni­sches Per­so­nal in den Kran­ken­häu­sern nur träu­men kann.

Inner­halb kür­zes­ter Zeit konn­te so eine streng getrenn­te par­al­le­le Infra­struk­tur für die Kran­ken errich­tet wer­den. Die Pest­ärz­te und ‑geist­li­chen muss­ten sich zur Sepa­rie­rung von der gesun­den Bevöl­ke­rung durch Auf­nä­her kennt­lich machen.

Eine Par­al­lel­welt für die Kran­ken war wich­tig, um der­art Ruhe, Ord­nung und zumin­dest schein­ba­re Nor­ma­li­tät in der Stadt bewah­ren zu kön­nen. An die ärme­re Bevöl­ke­rung wur­den finan­zi­el­le Hil­fen aus­ge­zahlt und trotz gestie­ge­ner Korn­prei­se kos­ten­los Lebens­mit­tel aus­ge­ge­ben. Das war in der Frü­hen Neu­zeit alles ande­re als gewöhn­lich. Todes­fäl­le infol­ge von Man­gel­er­näh­rung und ande­ren Krank­hei­ten, die zusam­men mit Hun­gers­nö­ten etwa par­al­lel in Königs­berg auf­tra­ten, blie­ben in Dan­zig aus. Die genau­en Todes­zah­len wur­den bewusst ver­schwie­gen, um eine Panik unter der Bevöl­ke­rung zu vermeiden.

Auch nach außen war es wich­tig, das wah­re Aus­maß der Pest zu ver­tu­schen. Wür­den die Han­dels­part­ner von den Zustän­den in der Stadt erfah­ren, wäre ein offe­ner Hafen oder Markt sinn­los, denn kei­ne Schif­fe kämen mehr an. So ver­brei­te­te man, dass die Pest in Dan­zig nur ver­ein­zelt auf­trä­te und die weni­gen Fäl­le ledig­lich die Ärms­ten beträ­fen. Der wohl­ha­ben­de Stadt­kern und die Dan­zi­ger Händ­ler sei­en hin­ge­gen frei von der Pest, Infek­tio­nen durch Kon­tak­te mit Dan­zi­gern des­halb aus­ge­schlos­sen. Gegen anders­lau­ten­de Berich­te wur­de hart durch­ge­grif­fen. Die ohne­hin har­te Zen­sur von Druck­tex­ten wur­de auch auf die Post aus­ge­wei­tet und den Ver­fas­sern sol­cher (wie es heu­te hei­ßen wür­de) Faken­ews mit dem Tode gedroht.

Wirtschaft

Dass Dan­zig damit zu einem „Super­sprea­der“ im gan­zen Ost­see­raum wer­den konn­te, wur­de bil­li­gend in Kauf genom­men. Wirt­schaft­li­che Belan­ge waren für Dan­zig entscheidender.

Dem Stadt­rat war es nicht nur wich­tig, dass in der eige­nen Stadt Nor­ma­li­tät herrsch­te und die eige­nen Märk­te offen­blie­ben, son­dern auch, dass die eige­nen Händ­ler in ande­re Städ­te ein­ge­las­sen wur­den. Vom Bür­ger­meis­ter wur­den des­halb Gesund­heits­päs­se aus­ge­stellt, die die pro­blem­lo­se Ein­fuhr im Ankunfts­ha­fen sicher­stel­len soll­ten. Das war eine all­ge­mein gän­gi­ge Pra­xis und rief bei den Han­dels­part­nern nicht sel­ten Miss­trau­en her­vor, auch weil die Päs­se leicht zu fäl­schen waren. Dan­zig miss­trau­te eben­falls frem­den Gesund­heits­päs­sen und igno­rier­te die­se, wäh­rend zugleich geklagt wur­de, wenn die eige­nen Doku­men­te nicht akzep­tiert und Händ­ler abge­wie­sen wurden.

Trotz des Miss­trau­ens flo­rier­te der Dan­zi­ger Han­del auch in den Hoch­zei­ten der Pest. Der Domi­niks­markt, die all­jähr­li­che Mes­se, und der Holz­han­del blie­ben zwar hin­ter den Erwar­tun­gen zurück, dafür brach­te der Korn­han­del gro­ße Gewin­ne ein. 1709 konn­te sogar mehr Getrei­de expor­tiert wer­den als im pest­frei­en Vor­jahr – und mehr, als über­haupt nach Dan­zig ein­ge­führt wor­den war. Die Erklä­rung für die­se Dis­kre­panz wirkt fast maka­ber: Durch den pest­be­ding­ten Bevöl­ke­rungs­schwund konn­te Dan­zig Tei­le sei­ner für den Eigen­be­darf zurück­ge­hal­te­nen Reser­ven zusätz­lich ver­kau­fen. Dass Dan­zig trotz der Pest sol­che gro­ßen Men­gen Getrei­de abset­zen konn­te, lag nicht zuletzt an dem von Krieg und Miss­ern­ten erschüt­ter­ten euro­päi­schen Gesamt­markt und den hohen Korn­prei­sen. Auf den zen­tra­len Hafen Dan­zig, über den teil­wei­se bis zu 80 % des pol­ni­schen Getrei­des über den See­weg aus­ge­führt wur­de, konn­te trotz der Pest nicht ver­zich­tet werden.

Der aus­blei­ben­de tota­le wirt­schaft­li­che Zusam­men­bruch der Stadt ermög­lich­te es, Geld­mit­tel für die Pest­be­kämp­fung frei­zu­set­zen. Damit hat­te Dan­zig einen ent­schei­den­den Vor­teil gegen­über ande­ren Städ­ten, denen oft auch schon ohne die pest­be­ding­ten Ein­nah­me­aus­fäl­le die für die Pest­be­kämp­fung not­wen­di­gen Geld­mit­tel fehlten.

Probleme

Doch allen Beteue­run­gen zum Trotz wüte­te die Pest hef­tig in Dan­zig. Von den über 63.000 bzw., die Vor­städ­te ein­ge­rech­net, rund 80.000 Ein­woh­nern kamen 24.533 bzw. sogar 32.599 Per­so­nen ums Leben. Die­se Zah­len sind zuver­läs­sig, ent­spre­chen unge­fähr einem Drit­tel der Gesamt­be­völ­ke­rung und lie­gen rund vier­zehn Mal höher als die Mor­ta­li­täts­ra­te in nor­ma­len Jah­ren. Bei den Opfern han­del­te es sich vor allem um die ärme­re Bevöl­ke­rung wie Hand­wer­ker, Arbei­ter oder Die­ner. „Die ansehn­li­che Groß=Bürgerschafft hat /  GOtt Lob !  nicht viel gelit­ten“, wie der Dan­zi­ger Arzt Johann Chris­toff Gott­wald anschlie­ßend berichtete.

Doch wie konn­te es all den prä­ven­ti­ven Maß­nah­men zum Trotz zu solch hohen Opfer­zah­len kom­men, und war­um war das Groß­bür­ger­tum kaum von der Pest betrof­fen? Vie­le Grün­de haben sich seit 300 Jah­ren kaum ver­än­dert. Die Wohl­ha­ben­den konn­ten sich wäh­rend der Pest in ihren Häu­sern selbst iso­lie­ren; den Risi­ken wur­de die Die­ner­schaft aus­ge­setzt. Pre­kä­re Lebens- und Arbeits­ver­hält­nis­se stei­ger­ten nicht nur das Risi­ko, sich mit der Pest zu infi­zie­ren, sie stei­ger­ten auch das Risi­ko, an den Fol­gen der Pest, die im Fall der Beu­len­pest nicht zwin­gend töd­lich war, zu ster­ben. Abstand war in beeng­ten Räu­men nicht mög­lich, und man­geln­de Hygie­ne war eine idea­le Brut­stät­te für die Pestflöhe.

Ein wei­te­res Pro­blem war die Miss­ach­tung der Schutz­maß­nah­men – ein Pro­blem, das wir nicht erst heu­te ken­nen. Der Lock­down hat sich bis­lang als äußerst wirk­sa­me Maß­nah­me gegen das Corona-Virus erwie­sen. Doch sein Erfolg hängt in hohem Maße von der Dis­zi­plin der Bevöl­ke­rung ab. Hält sich nie­mand an die Maß­nah­men oder sind sie schon in der Imple­men­tie­rung zu lücken­haft, bleibt ihr erhoff­ter posi­ti­ver Effekt stark limi­tiert. Bei einer Krank­heit, die sich von Mensch zu Mensch über­trägt, wiegt es schwer, wenn Kon­takt­be­schrän­kun­gen miss­ach­tet werden.

Des­glei­chen wur­de auch in der Frü­hen Neu­zeit bereits beklagt, dass Men­schen gegen die prä­ven­ti­ven Maß­nah­men ver­stie­ßen. So ver­such­ten sie vor Qua­ran­tä­ne zu flüch­ten und ver­brei­te­ten gera­de auf die­se Wei­se die Pest wei­ter. Beson­ders pro­ble­ma­tisch waren aller­dings Per­so­nen, die auf der Suche nach kost­ba­ren Schät­zen in die ver­sie­gel­ten Häu­ser der Ver­stor­be­nen ein­bra­chen und sich dabei infi­zier­ten. Vor allem kost­ba­re Klei­dung war ein trü­ge­ri­scher Schatz, weil dar­in oft die Pest­flö­he über­leb­ten und mit dem Dieb den Weg aus dem Haus fan­den. Hier zeigt sich, dass die Annah­me, in Tex­ti­li­en wür­de „schlech­te Luft“ trans­por­tiert, zwar falsch war, es sich aber den­noch um eine wirk­sa­me Maß­nah­me han­del­te, auch über Tex­ti­li­en eine Art Qua­ran­tä­ne zu verhängen.

Folgen der Epidemie

In Dan­zig konn­ten die hohen Bevöl­ke­rungs­ver­lus­te inner­halb weni­ger Jah­re durch Zuzug aus dem Umland aus­ge­gli­chen wer­den. In der öffent­li­chen Wahr­neh­mung war die Nor­ma­li­tät trotz Zehn­tau­sen­der von Toten erhal­ten geblie­ben. Dan­zig konn­te dank dem Wohl­stand durch umfang­rei­che Hil­fen eine Panik oder Auf­stän­de ver­hin­dern, obwohl der wirt­schaft­li­che Erfolg klar über Men­schen­le­ben gestellt wur­de. Es gab weder eine Hun­gers­not noch einen Anstieg der Kri­mi­na­li­tät. In ein­zel­nen Wirtschafts- und Han­dels­zwei­gen kam es bedingt durch die Pest zu extre­men Ein­brü­chen, ande­re konn­ten ihre Gewin­ne mas­siv stei­gern. Dan­zig blieb auch nach 1710 eine attrak­ti­ve Stadt mit einer gro­ßen Sogwirkung.

Über die Fol­gen von Coro­na kön­nen wir der­zeit nur spe­ku­lie­ren. Glück­li­cher­wei­se wer­den wir durch Coro­na wohl kei­ne so dras­ti­schen demo­gra­phi­schen Ein­schnit­te zu erwar­ten haben wie damals durch die Pest. Doch hat Coro­na schon jetzt spür­ba­re wirt­schaft­li­che Fol­gen. Eine stei­gen­de Staats­ver­schul­dung, Privat- und dro­hen­de Fir­men­in­sol­ven­zen, die der­zeit durch staat­li­che Hil­fen noch hin­aus­ge­zö­gert wer­den, eine gestie­ge­ne Arbeits­lo­sig­keit. Das Dan­zi­ger Bei­spiel kann uns aber letzt­lich Hoff­nung geben, dass es eben­so, wie es eine Post-Pest-Zeit gab, auch eine Post-Corona-Zeit geben wird – und dass wir Pro­ble­me, die wir heu­te haben und die viel­leicht auch noch wei­ter wach­sen wer­den, schnel­ler wer­den über­win­den kön­nen, als wir gegen­wär­tig noch glauben.