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Eine Geschichte der Haffuferbahn

Am 1. April 2006 wur­de der Zug­ver­kehr auf der Bahn­li­nie Nr. 254 end­gül­tig ein­ge­stellt. Seit­dem taucht Jahr für Jahr, ins­be­son­de­re kurz vor der Eröff­nung der Som­mer­sai­son, die For­de­rung auf, den Ver­kehr auf dem Schie­nen­strang ent­lang des Fri­schen Haf­fes wie­der­auf­zu­neh­men. Den größ­ten Hemm­schuh bil­den dann regel­mä­ßig öko­no­mi­sche Erwä­gun­gen, denn eine Wie­der­be­le­bung der Bahn dürf­te momen­tan gänz­lich unren­ta­bel sein. Des­halb tra­fen sich vor eini­gen Mona­ten Mit­glie­der der loka­len Selbst­ver­wal­tung, um die Mög­lich­kei­ten zu dis­ku­tie­ren, ent­we­der die immer mehr ver­fal­len­den Glei­se abzu­bau­en und an die­ser Stel­le einen Wander- und Rad­weg ein­zu­rich­ten, oder aber die Infra­struk­tur zu bewah­ren und mit Eisenbahn-Draisinen zu nut­zen. Der Wunsch, auf dem höchst pit­to­res­ken Schie­nen­weg wie­der ein­mal Züge fah­ren zu sehen, wird anschei­nend uner­füll­bar bleiben.

Alle, die sich noch vol­ler Melan­cho­lie an som­mer­li­che Zug­fahr­ten durchs Land am Fri­schen Haff erin­nern kön­nen oder die sich mit der Geschich­te die­ser Regi­on genau­er ver­traut machen wol­len, soll­ten unbe­dingt nach einer sorg­fäl­tig gestal­te­ten, im vori­gen Jahr erschie­ne­nen Mono­gra­fie von Mag­da­le­na Pasewicz-Rybacka grei­fen, die die Ent­wick­lung der Haf­fu­fer­bahn bis zum Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges the­ma­ti­siert. Die Autorin ist Dok­to­ran­din an der his­to­ri­schen Fakul­tät der Uni­ver­si­tät Dan­zig und hat sich unter viel­fäl­ti­gen Per­spek­ti­ven mit der Haf­fu­fer­bahn aus­ein­an­der­ge­setzt. Ihr Inter­es­se an die­sem beson­de­ren Ver­kehrs­mit­tel wur­de nicht zuletzt durch ihre Groß­mutter geweckt, die die Bahn in der Nach­kriegs­zeit selbst des Öfte­ren benutz­te und davon erzähl­te. Ihr hat die Autorin die­se Abhand­lung gewidmet.

Das Buch besteht aus vier Kapi­teln („Zwi­schen Elb­ing und Brauns­berg“, „Die Ent­wick­lung des Eisen­bahn­we­sens in den preu­ßi­schen Pro­vin­zen“, „Die Haf­fu­fer­bahn“ und „Die Eisen­bahn in der Haf­fland­schaft“), in denen die Geschich­te der Haf­fu­fer­bahn vor dem Hin­ter­grund der Wirt­schafts­ge­schich­te von Ost- und West­preu­ßen sowie des Eisen­bahn­trans­ports in den bei­den Pro­vin­zen auf­schluss­reich und detail­liert geschil­dert wird. In einem Anhang fol­gen zudem: ein Ver­zeich­nis der im Text genann­ten Orts­na­men mit ihren deut­schen Ent­spre­chun­gen, eine Über­sicht über die Mit­ar­bei­ter des Unter­neh­mens für die Jah­re 1900 bis 1914 sowie eine pol­ni­sche Über­set­zung des Arti­kels „Elb­ing und die Haf­fu­fer­bahn“, den Oskar Mey­er mit Auf­nah­men des Elb­in­ger Foto­gra­fen L. Basi­li­us im Jahr­gang 1901/1902 des deut­schen illus­trier­ten Unter­hal­tungs­blatts Über Land und Meer ver­öf­fent­licht hatte.

In ihren Recher­chen stütz­te sich die Autorin auf eine Viel­zahl von Quel­len: von den Akten der Eisen­bahn­di­rek­ti­on Dan­zig oder des Ober­prä­si­di­ums der Pro­vinz West­preu­ßen über Daten und Bei­trä­ge zur wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung der Regi­on und die zeit­ge­nös­si­sche loka­le Tages­pres­se bis zu lan­des­kund­li­chen Abhand­lun­gen, Frem­den­füh­rern und nicht zuletzt auch bis zur inzwi­schen in pol­ni­scher Spra­che publi­zier­ten Lite­ra­tur. Dabei ist es der Autorin gelun­gen, nicht nur die öffent­lich zugäng­li­chen Archiv­be­stän­de und Quel­len aus­zu­wer­ten, son­dern auch im Pri­vat­be­sitz befind­li­che Fami­li­en­un­ter­la­gen, in die ihr eine Urur­en­ke­lin von Ernst Han­tel – dem Haupt­in­itia­tor und ers­ten Direk­tor der Bahn – Ein­sicht gewährte.

Das Buch bie­tet soli­de sta­tis­ti­sche Infor­ma­tio­nen, bei­spiels­wei­se über die Zahl der Fahr­gäs­te, die von ihnen genutz­ten Wagen­klas­sen oder die Fahr­kar­ten­prei­se. Zudem gibt eine Rei­he von ein­zel­nen Bestim­mun­gen oder Vor­gän­gen Ein­bli­cke in den sozial- und kul­tur­ge­schicht­li­chen Kon­text des Eisen­bahn­be­triebs. So berich­tet die Autorin, dass die Brauns­ber­ger Katha­ri­nen­schwes­tern Anspruch auf eine Son­der­er­mä­ßi­gung hat­ten, oder schil­dert die gericht­li­che Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen der Lei­tung der Haffuferbahn-AG und den Ver­wal­tern des kai­ser­li­chen Guts Cadi­nen, die grund­sätz­lich durch­set­zen woll­ten, dass die ent­spre­chen­de Bahn­sta­ti­on aus­schließ­lich von der kai­ser­li­chen Fami­lie und Ange­hö­ri­gen des Hofes genutzt wer­den dürf­te. Frei­lich erfah­ren die Leser auch, dass die Abkür­zung HUB vom Volks­mund nicht in „Haf­fu­fer­bahn“, son­dern in „Hält und bum­melt“ auf­ge­löst wurde.

Aus­führ­lich geht Mag­da­le­na Rybacka-Pasewicz auf die Sta­ti­ons­ge­bäu­de der Bahn ein. (Über die archi­tek­to­ni­schen Beson­der­hei­ten der Sta­ti­on in Tolk­emit hat sie übri­gens in der Zeit­schrift Maso­via schon vor eini­ger Zeit einen eige­nen Bei­trag ver­öf­fent­licht.) Die­se eben­falls pro­fun­den Abschnit­te füh­ren bis in aktu­el­le Dis­kus­sio­nen über die wei­te­re Nut­zung die­ser Immo­bi­li­en. In Tolk­emit bei­spiels­wei­se ist das Gebäu­de 2017 von einem pri­va­ten Inves­tor über­nom­men wor­den, wird gegen­wär­tig saniert und erhält dann eine neue Zweckbestimmung.

Eigens her­vor­zu­he­ben ist bei die­ser Publi­ka­ti­on das rei­che und viel­fäl­ti­ge – und ggf. auch in Far­be wie­der­ge­ge­be­ne – Bild­ma­te­ri­al. Beson­ders inter­es­sant sind hier die bis­lang weit­ge­hend unbe­kann­ten Auf­nah­men aus der Pri­vat­samm­lung der Fami­lie Han­tel. Bemer­kens­wert sind, um wenigs­tens zwei Bei­spie­le zu nen­nen, aber auch – abge­se­hen von der nied­ri­gen Wie­der­ga­be­qua­li­tät – ein vom Pan­gritz Kurier über­nom­me­nes Foto des Bahn­hofs­ge­bäu­des Elb­ing Stadt aus der Nach­kriegs­zeit, das den Zustand noch vor der Umwand­lung in ein häss­li­ches und stil­lo­ses Wohn­ge­bäu­de zeigt, oder ein Aqua­rell aus dem Jah­re 1936: Dort wird ein inner­städ­ti­scher Bahn­über­gang von einem Uni­for­mier­ten gesi­chert, der mit einer roten Fah­ne in der Hand dem Zug zu Fuß vorangeht.

Ins­ge­samt gelingt es der Ver­fas­se­rin, ihr regio­nal­his­to­ri­sches The­ma grund­le­gend zu erschlie­ßen und es in einer der­art anspre­chen­den Wei­se auf­zu­be­rei­ten, dass sie nicht nur spe­zi­ell inter­es­sier­te Leser für die Geschich­te der Haf­fu­fer­bahn wird gewin­nen kön­nen. Des­halb wäre es sehr wün­schens­wert, wenn die vor­lie­gen­de Publi­ka­ti­on über die­se berühm­te Neben­bahn des Reichs­bahn­net­zes auch auf deut­scher Spra­che vorläge.

Joan­na Szkolnicka


Magdalena Pasewicz-Rybacka
Haffuferbahn. Historia Kolei Nadzalewowej do 1945 roku Grajewo: EKO-DOM, 2020
141 S. mit neun Tab. und 68, teils farb. Abb.,
Softcover, 25 Złoty, ISBN 978–83-957384–6‑3