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Die Idee der Reichseinheit und die Ideologie der Ausgrenzung

Leitbegriffe der Kaiserzeit

Von Bettina Schlüter

Die 150. Wiederkehr der Reichsgründung hat die deutsche Kaiserzeit neuerlich in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit treten lassen. Dabei haben aktuelle historische Studien häufig die Doppelgesichtigkeit dieser Epoche akzentuiert. So hat beispielsweise die in München lehrende Historikerin Hedwig Richter in einer jüngst erschienenen Monografie diesen Aufbruch in die Moderne als Phase der (so der Untertitel) „Reform und Massenpolitisierung“ gekennzeichnet und dabei das Gegeneinander von progressiven und reaktionären Kräften beschrieben, die sich oft aber auch gegenseitig bedingen und verstärken.

Die­se Pro­ble­ma­tik bestimmt auch die Ent­fal­tung der Idee, die wäh­rend des 19. Jahr­hun­derts einen wesent­li­chen Antrieb gesell­schaft­li­cher und poli­ti­scher Bewe­gun­gen gebil­det hat und die mit der Reichs­grün­dung nach lan­gem Zuwar­ten end­lich den Gip­fel­punkt ihrer Ver­wirk­li­chung erreicht hat­te: die Idee der Nati­on und des Natio­nal­staats. Im Kon­text eines all­ge­mei­nen gesell­schafts­po­li­ti­schen Wan­dels der 1880er Jah­re wird die­ser Leit­ge­dan­ke der Nati­on zuneh­mend (wie Peter Wal­ken­horst in sei­ner 2007 erschie­ne­nen Mono­gra­phie Nati­on – Volk – Ras­se aus­führ­lich dar­ge­legt hat ) mit einer eth­nisch defi­nier­ten, homo­ge­nen „Volks­ge­mein­schaft“ iden­ti­fi­ziert. Die­ser Pro­zess, der, vor­an­ge­trie­ben von poli­ti­schen Grup­pie­run­gen aus der bür­ger­li­chen, aller­meist pro­tes­tan­ti­schen Bil­dungs­schicht, nach dem Ers­ten Welt­krieg zu einer Mas­sen­be­we­gung anwach­sen soll­te, ver­dankt sich einem kom­ple­xen Zusam­men­spiel unter­schied­lichs­ter Faktoren.

„Volksgemeinschaft“ 

Eine wach­sen­de welt­wei­te Ver­net­zung wirt­schaft­li­cher Struk­tu­ren (die heu­te als Initi­al­punkt einer zuneh­men­den Glo­ba­li­sie­rung inter­pre­tiert wird) ver­langt den ein­zel­nen Staa­ten eine trans­na­tio­na­le Aus­rich­tung ihrer poli­ti­schen Per­spek­ti­ven ab. In die­sem Kon­text sieht sich das Deut­sche Reich gegen­über der euro­päi­schen Kon­kur­renz, d. h. ins­be­son­de­re gegen­über eta­blier­ten Kolo­ni­al­mäch­ten wie Frank­reich, Bel­gi­en oder Eng­land sowie gegen­über dem aus­ge­dehn­ten Herr­schafts­ge­biet des Rus­si­schen Rei­ches, von Beginn an in einer unter­le­ge­nen Posi­ti­on. Der dar­aus resul­tie­ren­de Gedan­ke an eine Neu­ord­nung der euro­päi­schen Macht­ver­hält­nis­se, an eine deut­sche Hege­mo­nie und eine eth­ni­sche Homo­ge­ni­sie­rung sowie an die Expan­si­on des deut­schen Ein­fluss­be­reichs auf außer­eu­ro­päi­sche Ter­ri­to­ri­en mani­fes­tiert sich in der Grün­dung ver­schie­de­ner radi­kal­na­tio­na­lis­ti­scher Grup­pie­run­gen, in Kolonial‑, Schul- und Schutz­ver­ei­nen, die sich 1886 zum All­ge­mei­nen Deut­schen Ver­band zur Ver­tre­tung deutsch-nationaler Inter­es­sen zusam­men­schlie­ßen und 1891 schließ­lich im All­deut­schen Ver­band aufgehen.

Drei Jah­re spä­ter ent­steht – mit den Wor­ten des natio­nal­li­be­ra­len Poli­ti­kers und Hoch­schul­leh­rers für Sta­tis­tik und Kolo­ni­al­po­li­tik Ernst Has­se (1846–1908) – „zur Wah­rung der deutsch­na­tio­na­len Inter­es­sen gegen das immer über­mü­ti­ger wer­den­de Sla­wen­tum und sei­ne Unkul­tur“ der Ver­ein zur För­de­rung des Deutsch­tums in den Ost­mar­ken, 1899 umbe­nannt in Deut­scher Ostmarkverein.

Nicht zuletzt auf­grund von Verände­rungen inner­halb des poli­ti­schen Sys­tems, deren Akteu­re sich nun ver­stärkt aus den Rei­hen von Inter­es­sen­ver­bän­den und poli­ti­schen Bewe­gun­gen rekru­tie­ren, gewin­nen die­se Ver­ei­ni­gun­gen schnell poli­ti­sches Gewicht und ope­rie­ren als Instanz, die eben­so pro­gram­ma­tisch wie gezielt durch Geset­zes­vor­la­gen und Öffent­lich­keits­ar­beit Ein­fluss auf aktu­el­le Ent­schei­dungs­pro­zes­se im Par­la­ment zu gewin­nen trach­tet. Dazu gehört auch das Bestre­ben des All­deut­schen Ver­ban­des, die Reichs­an­ge­hö­rig­keit über das Prin­zip der Abstam­mung als ius san­gui­nis neu zu defi­nie­ren, – eine Initia­ti­ve, die 1913 in einer ent­spre­chen­den Neu­fas­sung des Reichs- und Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­set­zes mün­det und auch heu­te noch für die Aner­ken­nung der deut­schen Staats­bür­ger­schaft einen wich­ti­gen Fak­tor bil­det. Eine ähn­li­che Stoß­rich­tung ver­folgt das Plä­doy­er radi­kal­na­tio­na­lis­ti­scher Ver­bän­de, ein 1870 erlas­se­nes Gesetz wie­der auf­zu­he­ben, das Deut­schen nach einem mehr als zehn­jäh­ri­gen Auf­ent­halt im Aus­land die Reichs­an­ge­hö­rig­keit ent­zieht. Im Zusam­men­spiel mit kolo­ni­al­po­li­ti­schen Inter­es­sen und Vor­stel­lun­gen einer deut­schen Groß­macht­po­li­tik zie­len all die­se Initia­ti­ven auf eine grund­sätz­li­che Revi­si­on der mit der Reichs­grün­dung voll­zo­ge­nen Akzen­tu­ie­rung des Staats­bür­ger­prin­zips zuguns­ten einer eth­nisch defi­nier­ten Vor­stel­lung von natio­na­ler Zugehörigkeit.

Die pro­gram­ma­ti­schen Dif­fe­ren­zen zwi­schen einem Staats­ver­ständ­nis, das sei­ne Bevöl­ke­rung über Reichs­gren­zen defi­niert, und einem Ver­ständ­nis von Nati­on als Volks­ge­mein­schaft, das das Staats­ge­bil­de nur mehr als orga­ni­sa­to­ri­schen Rah­men für eine Abstam­mungs­ge­mein­schaft deu­tet, wer­den von den ver­schie­de­nen poli­ti­schen Par­tei­en und Grup­pie­run­gen um die Jahr­hun­dert­wen­de höchst kon­tro­vers dis­ku­tiert. Dabei pro­pa­gie­ren die radi­kal­na­tio­na­lis­ti­schen Kräf­te des All­deut­schen Ver­ban­des, neu­er­lich mit einer For­mu­lie­rung sei­nes Vor­sit­zen­den Ernst Has­se, Vor­stel­lun­gen einer Nati­on als „eine[r] Gesamt­heit von Men­schen gemein­sa­mer Abstam­mung, die eine und die­sel­be Spra­che spre­chen, eine gemein­sa­me poli­ti­sche und ­kultu­relle Ent­wick­lung durch­ge­macht haben und das Bewußt­sein der Zusam­men­ge­hö­rig­keit besit­zen“. Die­ses Bild einer homo­ge­nen Volks­ge­mein­schaft gewinnt, nicht zuletzt auch in sei­ner sozi­al­dar­wi­nis­tisch zuge­schärf­ten Vari­an­te, zuneh­mend Popularität.

„Lebensraum“ 

Die Über­tra­gung bio­lo­gi­scher Model­le auf gesell­schafts­po­li­ti­sche Zusam­men­hän­ge lie­fert den Ver­tre­tern natio­na­lis­ti­scher Posi­tio­nen nun einen wis­sen­schaft­li­chen Legi­ti­ma­ti­ons­rah­men, in den sich sowohl Dia­gno­sen des gesell­schaft­li­chen Ist-Zustandes wie auch poli­ti­sche Pro­gram­me und Ziel­vor­stel­lun­gen kohä­rent ein­fü­gen kön­nen. Die ras­se­theo­re­tisch auf­ge­wer­te­te Kate­go­rie einer Volks­ge­mein­schaft sowie kor­re­lie­ren­de Meta­phern wie „Volks­kör­per“ oder „Lebens­raum“ gewin­nen in ihrer neu­en Rol­le als legi­ti­mie­ren­de Instanz eine per­for­ma­ti­ve Kraft, die die Ver­hält­nis­se auf allen Ebe­nen der Poli­tik beein­flusst. Sie ver­fü­gen in ihrer Bezug­nah­me auf schein­bar natur­ge­setz­lich ver­bürg­te Mecha­nis­men über einen tota­li­tä­ren Grund­cha­rak­ter, in des­sen Kon­text Dif­fe­ren­zen zwi­schen eige­ner eth­ni­scher Iden­ti­tät und ande­ren Völ­kern abso­lut gesetzt und ent­spre­chen­de poli­ti­sche Initia­ti­ven und Erwar­tun­gen nun mit einem teleo­lo­gi­schen Impuls aus­ge­stat­tet wer­den – als sei hier ein Ziel (ein „telos“) vor­ge­ge­ben, das mit inne­rer Not­wen­dig­keit ange­strebt und erreicht wer­den müsste.

Wenn­gleich die Haupt­stoß­rich­tung die­ser Posi­tio­nen auch wei­ter­hin hef­tig umstrit­ten bleibt, fin­det sie doch Wider­hall auf ver­schie­de­nen Ebe­nen des poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Han­delns. So wird bei­spiels­hal­ber bei der 1900 durch­ge­führ­ten Volks­zäh­lung erst­mals die „Mut­ter­spra­che“ als Unter­schei­dungs­merk­mal ein­ge­führt und damit zugleich eine Sepa­rie­rung der Bevöl­ke­rung nach eth­ni­schen Kri­te­ri­en erzwun­gen. Durch die damit ver­bun­de­ne Preis­ga­be des Prin­zips eines Viel­völ­ker­staats (wie ihn bei­spiels­hal­ber der Preu­ßi­sche Staat oder die Habs­bur­ger­mon­ar­chie bis ins 19. Jahr­hun­dert hin­ein reprä­sen­tier­ten) wer­den bestimm­te Bevöl­ke­rungs­an­tei­le aller­erst als natio­na­le Min­der­hei­ten iden­ti­fi­zier­bar und Gegen­stand einer „Min­der­hei­ten­po­li­tik“, die im Rah­men des Ide­als einer homo­ge­nen Volks­ge­mein­schaft letzt­lich nur zwei Hand­lungs­op­tio­nen ken­nen kann: Ger­ma­ni­sie­rung (etwa durch geziel­te Sprach­po­li­tik) oder Aus­schluss (bei­spiels­hal­ber als erzwun­ge­ne Aus­wan­de­rung auf der Grund­la­ge wirt­schaft­li­cher Repres­sio­nen). Die sozi­al­dar­wi­nis­tisch gepräg­te Meta­pher des „Volks­kör­pers“ ent­fal­tet in die­sem Zusam­men­hang eine Wir­kung, die auf Grund­la­ge ihrer biologisch-medizinischen Impli­ka­tio­nen die poli­ti­sche Seman­tik ver­schärft und im Ver­bund mit der Kate­go­rie des „Lebens­raums“ (im Sin­ne einer Exis­tenz­grund­la­ge für eine „Popu­la­ti­on“) auf eine Neu­ver­mes­sung der staat­li­chen Gren­zen nach gleich­sam evo­lu­ti­ons­bio­lo­gisch defi­nier­ten Erfor­der­nis­sen drängt.

Sozi­al­dar­wi­nis­ti­sche Theo­rien wer­den jedoch nicht allein in Deutsch­land dis­ku­tiert, son­dern fin­den in ganz Euro­pa Reso­nanz. Auch in Staa­ten wie Eng­land oder Frank­reich erlan­gen Model­le der Evo­lu­ti­ons­bio­lo­gie als his­to­ri­sche Deu­tungs­mus­ter hohe Popu­la­ri­tät; auch dort wird Mensch­heits­ge­schich­te als Daseins­kampf ver­stan­den, der unent­wegt zwi­schen den Völ­kern aus­ge­tra­gen wird. Zudem wer­den Pro­gram­me einer Euge­nik ent­wi­ckelt, die die eige­ne Nati­on für die­ses „Rin­gen zwi­schen den Völ­kern“ stär­ken sol­len; auch sol­che Staa­ten pro­pa­gie­ren – eben­so wie bei­spiels­hal­ber der pol­ni­sche und tsche­chi­sche Natio­na­lis­mus oder pan­sla­wis­ti­sche Bewe­gun­gen – eine inter­ne Homo­ge­ni­sie­rung und einen tota­li­tä­ren Zugriff mit schar­fen Aus­schluss­me­cha­nis­men. Dies alles führt jedoch nicht zwangs­läu­fig in den Anspruch einer aus den bio­lo­gi­schen Vor­aus­set­zun­gen selbst abzu­lei­ten­den poli­ti­schen Hege­mo­nie und eine damit ein­her­ge­hen­de Abwer­tung, wenn nicht Patho­lo­gi­sie­rung des Fremden.

Die­se Vari­an­te ent­steht erst im Zuge einer zuneh­men­den Radi­ka­li­sie­rung natio­na­lis­ti­scher Ten­den­zen, die ins­be­son­de­re in Deutsch­land durch die star­ke Dif­fe­renz zwi­schen den poli­ti­schen Erwar­tungs­hal­tun­gen im Rah­men einer ange­streb­ten Welt­macht­stel­lung und den real­po­li­ti­schen Gege­ben­hei­ten genährt wird. Der for­cier­te Anspruch auf poli­ti­sche Hege­mo­nie ver­bin­det sich mit sozi­al­dar­wi­nis­ti­schen Theo­rien zu einem Kon­glo­me­rat, das sich über den „Ras­se­wert“ eines Volks zu defi­nie­ren sucht und damit erst­mals – wenn auch zunächst nur ver­ein­zelt inner­halb der radi­kal­na­tio­na­lis­ti­schen Ver­bän­de pro­pa­giert – den Gedan­ken einer „Her­ren­ras­se“ in die Dis­kus­si­on ein­bringt. Grund­la­ge ist die Vor­stel­lung einer gemein­sa­men, gegen­über sla­wi­schen und asia­ti­schen Völ­kern abge­grenz­ten indo­ger­ma­ni­schen Abstam­mung, die alle mittel- und west­eu­ro­päi­schen Län­der ver­ei­ne, aber nur in den „deut­schen Stäm­men“ noch ihre ursprüng­li­che Kraft bewahrt habe.

„Kultur“ 

In die­sem Argu­men­ta­ti­ons­zu­sam­men­hang ent­wi­ckelt sich auch ein neu­es Ver­ständ­nis von Kul­tur, das ent­schei­den­de Bedeu­tung bei der Durch­set­zung der natio­na­lis­ti­schen Posi­tio­nen gewinnt. Aus­weis des „Rasse­wertes“ sei­en – so Lud­wig Kuh­len­beck, Pro­fes­sor der Rechts­wis­sen­schaft, auf der Ver­bands­ta­gung des All­deut­schen Ver­ban­des 1905 in Worms – die kul­tu­rel­len Errun­gen­schaf­ten einer Nati­on. Die­ser legi­ti­ma­to­ri­sche Zusam­men­hang zwi­schen den Kate­go­rien Ras­se und Kul­tur stellt ein Novum dar, des­sen Vor­aus­set­zun­gen zwar im 19. Jahr­hun­dert und den dort ent­wi­ckel­ten Kon­zep­ten einer Natio­nal­kul­tur lie­gen, bei dem aber erst in der Zuspit­zung bio­lo­gis­ti­scher Deu­tungs­mus­ter jene Hier­ar­chien und Asym­me­trien erzeugt wer­den, die über weit­rei­chen­de poli­ti­sche Impli­ka­tio­nen ver­fü­gen. Im Anschluss an die­se Denk­fi­gu­ren kon­zen­trie­ren sich die Bestre­bun­gen radi­kal­na­tio­na­lis­ti­scher Ver­bän­de auf das Ziel, die Gren­zen des deut­schen Reichs gen Osten zu erwei­tern, den damit neu gewon­ne­nen „Lebens­raum“ zu ger­ma­ni­sie­ren und Kolo­nien in Über­see als wei­te­re Garan­ten für die Lie­fe­rung wich­ti­ger wirt­schaft­li­cher Res­sour­cen zu nut­zen. West- und Mit­tel­eu­ro­pa wür­den – so die Logik die­ser ins­be­son­de­re von natio­nal­li­be­ra­len Kräf­ten pro­pa­gier­ten Posi­ti­on – von die­ser neu­en euro­päi­schen Groß­raum­ord­nung unter deut­scher Füh­rung letzt­lich ins­ge­samt profitieren.

In fort­schrei­ten­dem Maße flie­ßen Aspek­te die­ser Pro­gram­ma­tik auch in die offi­zi­el­le Regie­rungs­po­li­tik ein; sie bestim­men mili­tä­ri­sche Ziel­set­zun­gen des Ers­ten Welt­kriegs und fin­den mit der Grün­dung der Deut­schen Vater­lands­par­tei ab 1917 eine Reso­nanz, die sich ange­sichts der ver­schärf­ten Dis­kre­panz zwi­schen Groß­macht­an­spruch und den real­po­li­ti­schen Ver­hält­nis­sen nach 1918 zu einer Mas­sen­be­we­gung aus­wächst. An die­se Posi­tio­nen braucht die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Par­tei spä­ter­hin nur noch anzu­knüp­fen. Ab 1933 wer­den ent­spre­chen­de Pro­gram­me zur Um- und Ansied­lung schließ­lich zen­tra­ler Bestand­teil der Poli­tik. Die unter dem Stich­wort „Heim ins Reich“ pro­kla­mier­te Neu­ver­mes­sung der Reichs­gren­zen unter dem Pri­mat der Abstam­mungs­ge­mein­schaft, die Gewin­nung von „Lebens­raum“, die eth­ni­sche Homo­ge­ni­sie­rung der Bevöl­ke­rung inner­halb die­ser Gren­zen und ihre For­mung zu einem ein­heit­li­chen „Volks­kör­per“ lei­ten schließ­lich jene letz­te, sys­te­ma­tisch durch­ge­plan­te Pha­se einer geziel­ten Ver­nich­tungs­po­li­tik gegen­über Tei­len der eige­nen Bevöl­ke­rung und Bevöl­ke­rungs­grup­pen des öst­li­chen Euro­pa ein.

„Heimat“ 

Die Hier­ar­chi­sie­rung kul­tu­rel­ler Leis­tun­gen in Ver­bin­dung mit dem Para­dig­ma einer ras­sisch defi­nier­ten „Volks­ge­mein­schaft“ sowie die Funk­tio­na­li­sie­rung kul­tu­rel­ler Prak­ti­ken im Diens­te einer eth­nisch gepräg­ten Bevöl­ke­rungs­po­li­tik bil­den seit dem aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert somit einen wich­ti­gen Bau­stein in der Pro­gram­ma­tik radi­kal­na­tio­na­lis­ti­scher Ver­bän­de. In prä­gnan­ter Wei­se spie­gelt sich dies im soge­nann­ten „deutsch-polnischen Kul­tur­kampf“ wider, der auf dem Gebiet der deut­schen Ost­pro­vin­zen aus­ge­tra­gen wird. Wich­ti­ge Eck­da­ten die­ses Kon­flikts bil­den der Beam­ten­er­lass von 1898, die Sprach­po­li­tik, ins­be­son­de­re die Ein­füh­rung der deut­schen Spra­che im katho­li­schen Reli­gi­ons­un­ter­richt im Jah­re 1900 (mit­samt der dadurch aus­ge­lös­ten Schul­streiks der Jah­re 1906 /07) sowie das seit den 1890er Jah­ren viel­fach durch­ge­setz­te Ver­bot, sich auf öffent­li­chen Ver­samm­lun­gen einer ande­ren Spra­che als des Deut­schen zu bedie­nen, was de fac­to einer Auf­lö­sung der Ver­samm­lungs­frei­heit der pol­nisch­spra­chi­gen Bevöl­ke­rung gleichkam.

In den Aus­ein­an­der­set­zun­gen die­nen neben wirt­schafts­po­li­ti­schen Maß­nah­men und ein­zel­nen Ver­su­chen der Ent­eig­nung pol­ni­schen Grund­be­sit­zes somit gera­de sprach­po­li­ti­sche Regu­lie­run­gen als ein Mit­tel der kul­tur­po­li­ti­schen Agi­ta­ti­on. Sie unter­bin­den die poli­ti­schen Hand­lungs­spiel­räu­me von pol­ni­schen Ver­bän­den und for­cie­ren zugleich die Prä­senz deut­scher Kul­tur im öffent­li­chen Raum. Damit die­nen die­se Restrik­tio­nen zugleich dem Ziel, „Lebens­raum“ über „Kul­tur“ in „Hei­mat“ zu ver­wan­deln, und fin­den in der Spra­che ein ers­tes signi­fi­kan­tes Mit­tel der kul­tu­rel­len Ver­ein­heit­li­chung bzw. Abgren­zung gegen­über ande­ren Bevöl­ke­rungs­grup­pen. Der nahe­zu explo­si­ons­ar­ti­ge Anstieg neu gegrün­de­ter Heimat‑, Trachten- oder Sprach­vereine und ihrer Mit­glie­der­zah­len sowie die insti­tu­tio­nel­le Bün­de­lung all die­ser Kräf­te im Deut­schen Bund Hei­mat­schutz, der sich 1904 auf Initia­ti­ve des Ber­li­ner Hoch­schul­leh­rers und Kom­po­nis­ten Ernst Rudorff (1840–1916) kon­sti­tu­iert, doku­men­tie­ren, auf welch brei­te Reso­nanz die­se poli­ti­sche Pro­gram­ma­tik auch in der Bevöl­ke­rung traf.

In die­ser durch­drin­gen­den all­ge­mei­nen Poli­ti­sie­rung der Mas­sen dürf­te ein wesent­li­cher Grund dafür zu fin­den sein, war­um die deutsch-polnischen Bezie­hun­gen – und dies gilt für West­preu­ßen ins­be­son­de­re nach der Ein­rich­tung des „Kor­ri­dors“ – so stark zer­rüt­tet waren, dass eine noch wei­te­re Zuschär­fung der Kon­flik­te anschei­nend unaus­weich­lich wur­de. In gewis­ser Wei­se lie­ße sich somit sagen, dass die Wei­chen zum Unter­gang der preu­ßi­schen Pro­vinz nicht erst 1919, son­dern schon 1871 gestellt wor­den sei­en – und bei­de Male in Versailles.