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Die Hand aus dem Jenseits

Der Fotograf und Bildanalytiker Timm Rautert wird 80 Jahre alt

Von Alexander Kleinschrodt

Bereits während seines Studiums gelangen Rautert in New York, Japan und der Bundesrepublik Aufnahmen, die mit den Jahren immer interessanter zu werden scheinen. Heute blickt der „zufällig“ im Land an der unteren Weichsel geborene Fotokünstler zurück auf ein sechs Jahrzehnte umspannendes Werk. Mit seinem vielfältigen Schaffen hat Rautert das ganze Terrain der heute auf dem Rückzug befindlichen analogen Fotografie zugänglich gemacht.

Man kann Timm Rau­tert an den unter­schied­lichs­ten Stel­len begeg­nen. Wer sich mit der Kunst und den Krea­ti­ven der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te beschäf­tigt, hat mit hoher Wahr­schein­lich­keit schon eines sei­ner Künst­ler­por­träts gese­hen, zum Bei­spiel das von Andy War­hol, dem Star der Pop-Art, der sich hier ent­rückt zeigt, mit geschlos­se­nen Augen. Oder von Pina Bausch, der intro­ver­tier­ten Pio­nie­rin des Tanz­theaters, die breit lächelnd wie sel­ten in die Kame­ra blickt. Viel­leicht fällt einem auch in einem Café eine abge­grif­fe­ne Aus­ga­be des Rei­se­ma­ga­zins Meri­an in die Hän­de. Man schlägt sie auf und kann dank Timm Rau­tert einer unkennt­li­chen Gestalt mit Regen­ja­cke über die Schul­ter schau­en, die gera­de dabei ist, ein Modell­flug­zeug in den wei­ten, wol­ken­ver­han­ge­nen Him­mel der hes­si­schen Rhön stei­gen zu las­sen. In Essen war bis Mai 2021 eine gro­ße Werk­schau des Foto­gra­fen zu sehen, der sich in sei­ner Lauf­bahn bruch­los hin und her bewegt hat zwi­schen Auf­trags­ar­bei­ten und frei­er Kunst, zwi­schen der Dokumentar­fotografie und expe­ri­men­tel­len Her­an­ge­hens­wei­sen an das Metier.

Die Arbei­ten von Timm Rau­tert sind aller­dings kaum mit einem Blick als sol­che zu erken­nen. Man­che Foto­gra­fin­nen und Foto­gra­fen haben ihren einen, per­sön­li­chen Stil immer wei­ter per­fek­tio­niert. Bernd und Hil­la Becher zum Bei­spiel haben in der immer glei­chen Wei­se För­der­tür­me, Gas­be­häl­ter und ande­re Indus­trie­an­la­gen ins Bild gesetzt und sind damit zu einer welt­weit aner­kann­ten Mar­ke im Bereich der Foto­kunst gewor­den. Timm Rau­tert gilt hin­ge­gen als „ein Künst­ler mit vie­len Hand­schrif­ten“. Er hat sich bewusst gegen die Wie­der­erkenn­bar­keit ent­schie­den, was auf dem Kunst­markt natür­lich kein Vor­teil ist. Sei­ne Arbei­ten sind mal in Far­be, mal schwarz-weiß, man­che war­ten mit über­ra­schen­den Bild­fin­dun­gen auf, ande­re sind von schlich­ter „sach­dien­li­cher Ele­ganz“, wie die Kri­ti­ke­rin Bri­git­te Wer­ne­burg es aus­ge­drückt hat. Wahr­schein­lich hat die­se Wan­del­bar­keit dar­in ihren Grund, dass Rau­tert die Foto­gra­fie nie als etwas Gege­be­nes betrach­tet hat. Seit sei­nen frü­hes­ten Arbei­ten in den sech­zi­ger Jah­ren hat er sie erkun­det, infra­ge gestellt – und ist damit bis heu­te nicht fer­tig gewor­den. In einem erst vor Kur­zem ent­stan­de­nen Doku­men­tar­film von Ralph Goertz sagt Rau­tert: „Es gibt ja nicht nur die Foto­gra­fie – oder was soll das sein, die Foto­gra­fie? Foto­gra­fie ist in ihren sozia­len Gebrauchs­wei­sen prä­sent: Was kann man damit tun, wen will man erreichen?“

Gebo­ren wur­de Timm Rau­tert 1941 in Tuchel im Reichs­gau Danzig-Westpreußen, den das Deut­sche Reich nach dem Über­fall auf Polen gebil­det hat­te. Der Vater stamm­te aus Dort­mund, die Mut­ter aus Leip­zig, sei­ne eige­ne Geburt in der Kaschub­ei hat Rau­tert in einem Inter­view als bloß „zufäl­lig“ bezeich­net. Sein Vater fiel im Krieg, mit der Mut­ter flüch­te­te er 1944 per Zug und gelang­te – eben­so zufäl­lig – nach Ful­da in Hes­sen, wo eine Bekann­te wohn­te. Was vor­her war, danach habe er die Mut­ter als Jugend­li­cher und jun­ger Mann „nicht viel gefragt“: „Im Nach­hinein bereue ich sehr, dass ich nicht stär­ker nach­ge­hakt habe, mit ihr dar­über gere­det habe.“ Auch sei­ne eige­nen Erin­ne­run­gen an die ers­ten Jah­ren im katho­li­schen Ful­da sei­en „furcht­bar“: „Die Flücht­lin­ge wur­den ja zur unters­ten Schicht der Gesell­schaft. Als wir nach Ful­da kamen, wur­den wir ein­quar­tiert – nicht in irgend­ei­ne Behau­sung, son­dern in eine urka­tho­li­sche Fami­lie mit zwei Kin­dern. Die waren natür­lich nicht gera­de begeis­tert, als da aus dem Osten eine – und dann auch noch eine dun­kel­haa­ri­ge – Frau mit einem klei­nen Kind kam.“

Anders als die meis­ten berühm­ten Foto­gra­fin­nen und Foto­gra­fen der vor­he­ri­gen Gene­ra­tio­nen (wie Lot­te Jaco­bi, die DW in № 3/2020 gewür­digt hat) ist Timm Rau­tert nicht über eine Berufs­aus­bil­dung in die­ses Metier hin­ein­ge­wach­sen. Zwar absol­vier­te auch er zunächst eine Leh­re in einem gestal­te­ri­schen Beruf, er ließ sich zum Schau­fens­ter­ge­stal­ter und Deko­ra­ti­ons­ma­ler aus­bil­den, ging dann jedoch für ein künst­le­ri­sches Stu­di­um der Foto­gra­fie an die Folkwang-Schule in Essen. Vom katholisch-barocken Ful­da führ­te der Weg also in die eben­falls baro­cke ehe­ma­li­ge Benediktiner-Abtei Wer­den, bis heu­te ein Stand­ort der renom­mier­ten Hoch­schu­le. Sein Leh­rer war dort Otto Stei­nert, der damals als Ver­tre­ter einer „Sub­jek­ti­ven Foto­gra­fie“ Anse­hen genoss. Dank ihm sei die Folkwang-Schule damals so etwas wie „der Gold­stan­dard“ in Sachen Foto­gra­fie gewe­sen, wie Rau­tert im Rück­blick sagt. Von dem auto­ri­tä­ren Pro­fes­sor grenz­te er sich zwar ab, nahm aber doch vie­le Anre­gun­gen mit in sei­ne eige­ne Lauf­bahn. Bis heu­te kommt er oft auf Stei­nert zu sprechen.

Nicht zuletzt scheint Otto Stei­nert sei­ne Schü­ler trotz sei­nes künst­le­ri­schen Anspruchs regel­recht in die Rich­tung des Bild­jour­na­lis­mus gedrängt zu haben, denn mit Foto­kunst war in den sech­zi­ger Jah­ren noch über­haupt kein Geld zu ver­die­nen. „Wenn Sie damals jeman­dem sag­ten ‚Das Bild kos­tet 300 D‑Mark‘, haben die Leu­te Sie für ver­rückt erklärt“, erin­nert sich Rau­tert in dem schon zitier­ten Inter­view. Wie sehr sich die Wahr­neh­mung in die­ser Hin­sicht geän­dert hat und in wel­chem Maß sich der Kunst­markt inzwi­schen die Foto­gra­fie ein­ver­leibt hat, sieht man dar­an, dass heu­te zum Bei­spiel die groß­for­ma­ti­gen Bild­kom­po­si­tio­nen des Düs­sel­dor­fer Foto­gra­fen Andre­as Gurs­ky für Mil­lio­nen­be­trä­ge den Besit­zer wechseln.

Bereits par­al­lel zu dem Stu­di­um in Essen gelan­gen Timm Rau­tert Auf­nah­men, die heu­te als Zeit­zeug­nis­se und wegen ihrer ästhe­ti­schen Aus­sa­ge­kraft geschätzt, immer wie­der gezeigt und abge­druckt wer­den. Das Por­trät von Andy War­hol gehört dazu und auch Rau­terts Schwarz-Weiß-Aufnahmen von der Welt­aus­stel­lung in Osa­ka 1970. Von der Rei­se nach Japan brach­te er aber noch ande­res mit: In einem Schnell­zug foto­gra­fier­te er jun­ge Japa­ne­rin­nen in Kimo­nos und mit nach alter Art kalk­weiß geschmink­ten Gesich­tern. Es sind Bil­der, die mit ihrem Kon­trast zwi­schen High-Tech-Ambiente und her­ge­brach­ten Nor­men ein Land im Über­gang zei­gen, das heu­te – glaubt man dem Autor und Japa­no­lo­gen Alex Kerr – sei­ne Tra­di­tio­nen so gründ­lich aus­ge­trie­ben hat wie kaum eine ande­re Nation.

Rau­terts inten­si­ve Beschäf­ti­gung mit dem Medi­um der ana­lo­gen Foto­gra­fie reicht eben­falls zurück in die Zeit Anfang der sieb­zi­ger Jah­re. Wie ver­hält sich die­se Tech­nik in bestimm­ten Situa­tio­nen und wie kann sie ein­ge­setzt wer­den? Über meh­re­re Jah­re hin­weg erar­bei­te­te Rau­tert eine Serie mit dem Titel Bild­ana­ly­ti­sche Pho­to­gra­phie, die die­sen Fra­gen nach­spürt. Wor­um es ihm dabei ging, das zeigt – auch ohne umständ­li­che Erläu­te­run­gen – ein Bild­dop­pel ohne Titel aus dem Jahr 1974: Auf den bei­den hoch­for­ma­ti­gen Schwarz-Weiß-Fotografien ist die­sel­be Land­schaft zu sehen, unten Acker und Bäu­me, in der obe­ren Bild­hälf­te der Him­mel mit eini­gen locker ver­teil­ten Wölk­chen. Wäh­rend jedoch in der einen Ver­si­on die Son­ne glei­ßend vom Him­mel leuch­tet, ragt in der ande­ren eine Hand in den Bild­raum, von der die Licht­quel­le abge­deckt wird. Die Reak­ti­on des Fil­mes in der Kame­ra auf die­se Ver­än­de­rung besteht in einer Über­be­to­nung des Kon­tras­tes: Wäh­rend der Him­mel hell bleibt, wird die Hand zu einem dunk­len Umriss ohne Tie­fen­di­men­si­on, die Land­schaft ver­wan­delt sich in einen schwar­zen Oze­an. Die­se Hand sym­bo­li­siert sicher kei­nen gött­li­chen Ein­griff in die Gestir­ne. Sie kommt ledig­lich aus dem unbe­stimm­ten Bereich jen­seits des Bild­raums, in dem der Foto­graf sei­nen Arbeits­platz hat und die Bil­der erst ent­ste­hen lässt. Das Gegen­bild mit der harm­lo­sen Land­schaft, die ein­fach nur da zu sein scheint, lässt von ihm nichts ahnen, ver­deckt gera­de­zu die Hand des Foto­gra­fen. Nach­dem die Werk­grup­pe der bild­ana­ly­ti­schen Foto­gra­fien im Dres­de­ner Kupferstich-Kabinett 2016 zum ers­ten Mal voll­stän­dig zu sehen war, bezeich­ne­te sie die Süd­deut­sche Zei­tung als „Haupt­werk der deut­schen Foto­gra­fie der 1960er und 1970er Jahre“.

Zur glei­chen Zeit beginnt Rau­tert mit einem Pro­jekt, das in eine völ­lig ande­re Rich­tung weist und maß­geb­lich bei­getra­gen hat zu sei­nem Ruf als einem Chro­nis­ten der Bun­des­re­pu­blik. Für die Rei­he Deut­sche in Uni­form bit­tet er Män­ner und Frau­en in ihrer jewei­li­gen Berufs­klei­dung vor die Kame­ra, for­dert sie zum Blick ins Objek­tiv auf und lässt sie sich ansons­ten so zei­gen, wie sie es wol­len und wie es ihrem Selbst­ver­ständ­nis ent­spricht. Man kann in die­sem beson­ders gelun­ge­nen Ver­such einer „insze­nier­ten Doku­men­ta­ti­on“, noch kei­ne drei­ßig Jah­re nach dem Zwei­ten Welt­krieg, durch­aus die Spu­ren des deut­schen Obrig­keits­staats erken­nen, dar­an besteht kein Zwei­fel. Weil die por­trä­tier­ten Men­schen jedoch vor neu­tra­lem Atelier-Hintergrund auf­tre­ten, rückt ihre Indi­vi­dua­li­tät in den Vor­der­grund, erschei­nen sie als ein­zig­ar­ti­ge Per­so­nen und gera­de nicht nur als Ver­tre­ter ihrer – anschei­nend pass­ge­nau in eine hier­ar­chi­sche Gesell­schaft ein­ge­glie­der­ten – Berufs­grup­pen. So wie Rau­tert es dar­stellt, bekommt auch das Phä­no­men der Uni­form einen ande­ren, wider­sprüch­li­che­ren Sinn: Sie zeich­net nicht nur die Ver­tre­ter der Staats­macht aus, vom Poli­zis­ten bis zum Schaff­ner der Bun­des­bahn, neben ihnen steht der Kar­ne­vals­prinz in auf­wän­di­ger när­ri­scher Auf­ma­chung und sogar der Zeit­ar­bei­ter, der sich für sei­nen Job in ein eher tragi­komisch anmu­ten­des Nikolaus-Kostüm zwän­gen muss. Mit Deut­sche in Uni­form ist Timm Rau­tert ein kom­pak­tes Por­trät einer Gesell­schaft gelun­gen, das zwar der Kri­tik an den bestehen­den Ver­hält­nis­sen Raum gibt, sie aber auch rela­ti­viert und stel­len­wei­se in eine neue Rich­tung lenkt, so dass der Bild­zy­klus noch heu­te zu Dis­kus­sio­nen anregt.

Für Rau­tert muss die Mit­te der sieb­zi­ger Jah­re eine extrem dich­te, pro­duk­ti­ve Pha­se gewe­sen sein, denn im Jahr 1974 beginnt außer­dem noch sei­ne Koope­ra­ti­on mit dem Jour­na­lis­ten Micha­el Holz­ach, aus der bald eine enge Freund­schaft wird. Rau­tert und der eini­ge Jah­re jün­ge­re Holz­ach arbei­ten gemein­sam für das ­ZEIT­ma­ga­zin und ver­öf­fent­li­chen Repor­ta­gen vor allem über gesell­schaft­li­che Rand­grup­pen wie Obdach­lo­se und soge­nann­te Gast­ar­bei­ter. Bei­de sind getra­gen von der Über­zeu­gung, mit ihrer Bericht­erstat­tung die Welt zum Bes­se­ren ver­än­dern zu kön­nen. Zum Dreh- und Angel­punkt ihrer Zusam­men­ar­beit wird eine Rei­se nach Kana­da, wo sie bei der deutsch­stäm­mi­gen Volks­grup­pe der Hut­te­rer leben. Als Ergeb­nis des Auf­ent­halts ent­ste­hen Text- und Bild­re­por­ta­gen für GEO und das Buch Das ver­ges­se­ne Volk. Rau­tert war zuvor schon zu den Amish im US-amerikanischen Bun­des­staat Penn­syl­va­nia gereist, einer ähn­lich iso­liert leben­den Gemein­schaft, deren Mit­glie­der wegen des wört­lich genom­me­nen Bil­der­ver­bots aus dem Alten Tes­ta­ment nicht foto­gra­fiert wer­den wol­len. Kei­ne leich­te Auf­ga­be für einen Foto­jour­na­lis­ten, doch die Tat­sa­che, dass Foto­gra­fie bei den Amish gera­de nicht jene Selbst­ver­ständ­lich­keit war, zu der sie in der Popular- und Medien­kultur längst gewor­den war, scheint Rau­tert eher noch ange­spornt zu haben: Die­se Men­schen, die sich vor der Kame­ra zu ver­ber­gen suchen, lie­ßen das Foto­gra­fie­ren ein­mal mehr zu etwas Frag­wür­di­gem werden.

Für Micha­el Holzachs Erleb­nis­be­richt Deutsch­land umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohl­stands­land (1981), ein „Kult­buch“, das bis heu­te in immer wie­der neu­en Auf­la­gen erscheint, steu­er­te Rau­tert das Titel­bild bei: Der Autor als Wan­de­rer mit Hund auf regen­nas­ser Stra­ße, nicht zu grei­fen und immer im Auf­bruch. Mit Holzachs Unfall­tod im Jahr 1983 gelangt nicht nur die­se inten­si­ve Zusam­men­ar­beit an ihr Ende, Timm Rau­tert schränkt in der Fol­ge auch sei­ne foto­jour­na­lis­ti­sche Arbeit erheb­lich ein.

In den acht­zi­ger Jah­ren kom­men des­halb lang­fris­tig ange­leg­te Pro­jek­te zum Zug. Unter ande­rem beglei­tet Rau­tert ein Jahr lang die Ber­li­ner Phil­har­mo­ni­ker mit der Kame­ra und arbei­tet mit dem Gra­fi­ker Otl Aicher zusam­men, des­sen viel­leicht bekann­tes­te Arbeit die Pik­to­gram­me zu den ein­zel­nen olym­pi­schen Sport­ar­ten für die Spie­le in Mün­chen 1972 sind. Rau­tert doku­men­tiert, wie Aicher die neue Schrift­art Rotis ent­wi­ckelt hat, benannt nach des­sen Wohn­ort im All­gäu. Eine wich­ti­ge Rol­le spielt jetzt auch die Indus­trie­fo­to­gra­fie. Das Werk des Auto­her­stel­lers Por­sche hat­te Rau­tert schon 1968 als Stu­dent besucht, um dort Fotos für sei­ne – an der Folkwang-Schule obli­ga­to­ri­sche – Aus­bil­dung in Indus­trie­re­por­ta­ge zu machen. Auf den Fotos von die­sem ers­ten Besuch in Stutt­gart erkennt man noch das soge­nann­te „for­dis­ti­sche“ Zeit­al­ter: Es sind Scha­ren von gut geschul­ten Arbei­tern zu sehen, die am Fließ­band ihre exakt geplan­ten Hand­grif­fe vor­neh­men, so wie das in den Fabri­ken von Hen­ry Ford im frü­hen 20. Jahr­hun­dert vor­exerziert wor­den war. Die Bil­der, die bei Rau­terts spä­te­ren Exkur­sionen in das Porsche-Werk ent­stan­den, zei­gen dage­gen kaum noch Men­schen. Die „post­for­dis­ti­sche“ Epo­che fer­tigt jetzt mit Robo­tern und elek­tro­ni­scher Steue­rung. Wie das alles funk­tio­niert, ver­mag das Bild – anders als bei Pro­zes­sen, die von Men­schen getra­gen wer­den – nicht mehr zu zei­gen. Aus­ge­stellt und ver­öf­fent­licht hat Rau­tert die Bil­der der spät­mo­der­nen Industrie­interieurs des­halb unter dem Titel Gehäu­se des Unsichtbaren.

Von 1993 bis 2008 hat Rau­tert schließ­lich eine Pro­fes­sur für Foto­gra­fie an der Hoch­schu­le für Gra­fik und Buch­kunst Leip­zig über­nom­men. Als Leh­rer – die Selbst­be­schrei­bung und die Wahr­neh­mung von außen stim­men da gut über­ein – baut Rau­tert einer­seits mit selbst­iro­ni­scher Atti­tü­de die domi­nan­te Professoren-­Rolle ab, die er in den sech­zi­ger Jah­ren bei Otto Stei­nert noch ken­nen­ge­lernt hat, wen­det sich aber ande­rer­seits gegen die unver­bind­li­che, immer nur freund­lich ermu­ti­gen­de Päd­ago­gik („Frie­de, Freu­de, Eier­ku­chen und alle per Du“), die an Kunst­hoch­schu­len manch­mal gro­ßen Raum einnimmt.

Um die digi­ta­le Foto­gra­fie hat Rau­tert einen Bogen gemacht, nicht weil er sie ablehn­te, son­dern weil sie ihm als etwas grund­le­gend Ande­res erscheint als die ana­lo­ge, foto­che­mi­sche Bild­pro­duk­ti­on. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren war sei­ne Arbeit häu­fig retro­spektiv aus­ge­rich­tet, war eine Beschäf­ti­gung mit dem eige­nen Werk. Was sich zunächst nach selbst­zu­frie­de­nem Sich-auf-die-Schulter-Klopfen eines älte­ren Herrn anhört, lässt aber auf den zwei­ten Blick noch neue Per­spek­ti­ven ent­ste­hen. Der zwei­te Blick, so hieß auch eine klei­ne Prä­sen­ta­ti­on von Col­la­gen Rau­terts, die im Früh­jahr 2020 in einer Köl­ner Gale­rie zu sehen war. Rau­tert hat hier­für aus sei­nem Archiv Nega­ti­ve her­vor­ge­holt, die er vor Jahr­zehn­ten eigent­lich ver­wor­fen hat­te, hat sich mit die­sen Fotos, die auf den Film­rol­len vor und nach den damals aus­ge­wähl­ten Bil­dern kom­men, aufs Neue beschäf­tigt. War­um er damals eine bestimm­te Auf­nah­me eines Motivs vor­ge­zo­gen und ande­re aus­sor­tiert habe, das sei für ihn nicht mehr voll­stän­dig nach­voll­zieh­bar. Also zeigt er jetzt die ver­schie­de­nen Bild­va­ri­an­ten über- und neben­ein­an­der, um die sei­ner­zeit getrof­fe­ne Aus­wahl infra­ge zu stel­len und dem sin­gu­lä­ren Bild wie­der einen Zusam­men­hang zu geben.

Die Zeit schrei­tet vor­an, und inzwi­schen sind etwa die sieb­zi­ger Jah­re, in denen Timm Rau­tert sei­ne wohl bekann­tes­ten Foto­gra­fien gelan­gen, längst zu einer his­to­ri­schen Epo­che gewor­den. Wenn man heu­te wis­sen und erfah­ren will, wel­che Bedeu­tung die ana­lo­ge Foto­gra­fie in ihrer Spät­pha­se, im aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­dert, hat­te, dann darf man um die­ses Œuvre kei­nen Bogen machen. Sein Urhe­ber, der heu­te in Essen und Ber­lin lebt und arbei­tet, wird am 13. Sep­tem­ber nun 80 Jah­re alt.